Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
http://nemesis.marxists.org

XI. Frühlicht...

„Berger, warum sind die Meldungen noch nicht da?
„Es ist erst zehn Minuten vor sechs Uhr, Herr Präsident", antwortete der Beamte und richtete sich etwas in seinem Sessel auf. Vor ihm standen eine Reihe Telefongeräte, von denen eine Leitung direkt mit dem Polizeipräsidium Alexanderplatz verbunden war.
Das große, behaglich eingerichtete Zimmer, in dem der Präsident seine unruhige, lautlose Wanderung auf dem Teppich wieder aufnahm, war erfüllt mit der seltsamen Atmosphäre einer durchwachten Nacht, Stunde um Stunde unerträglich gesteigert durch die regungslose Gespanntheit isolierter und untätiger Unsicherheit. Wiederholt war er an der Tür stehen geblieben und hatte auf die halblauten Stimmen der Wachmannschaften, die seit einigen Tagen in der Zehlendorfer Villa stationiert waren, gelauscht. Am liebsten hätte er den Lautsprecher in der Ecke angestellt oder das Grammophon spielen lassen, nur um irgendein Geräusch in diese Stille zu bringen und um die Nacht kürzer zu machen.
Der Beamte im Sessel schlief schon wieder.
Vor einer halben Stunde hatte das Innenministerium zum dritten Mal in dieser, Nacht telefonisch den Einsatz der bereitgestellten Reichswehrformation angeboten und er hatte abgelehnt. In die Hand hatte es ihm kurz nach Mitternacht der Polizeikommandant versprochen, dass mit dem Morgen des 3. Mai jeder Widerstand endgültig gebrochen sein wird. Zehn Minuten später hatte das Auto des Kommandeurs mit sämtlichen Vollmachten in der Tasche die Villa des Präsidenten verlassen, und bis jetzt war vom Alexanderplatz noch nicht eine einzige vernünftige Meldung zu kriegen gewesen. Ob er nicht vielleicht doch lieber hätte selber herunterfahren sollen... ? Aber der Kommandeur wollte ja absolut nichts davon wissen!
Nervös legte er die Zigarre fort, er vertrug das schwere Zeug anscheinend nicht mehr.
„Berger —, wie spät ist es?"
Der Beamte fuhr zusammen. „Zwei Minuten vor 6 Uhr, Herr Präsident." Nach einer Weile setzte er hinzu: „Vielleicht sollten Herr Präsident einen starken Kaffee trinken?" Er machte dabei im Sessel eine halbe, schiefe Verbeugung vor seinem Chef. Erst als er sah, dass der Präsident gar keine Notiz davon nahm, ließ er sich wieder schweigend in den Sessel zurückfallen. — Wenn alles gut geht, dachte er, bekomme ich wahrscheinlich zwei Tage Sonderurlaub. Übrigens möchte ich jetzt nicht in seiner Haut stecken! Wie dem wohl zumute ist ... schöner Sozialdemokrat!... seine Gedanken fielen schon wieder durcheinander.
Die breite, etwas wulstige Gestalt des Präsidenten stand am Fenster. Er schob den schweren Samtvorhang beiseite. Das erste graublaue, kalte Aufdämmern des Morgens sah durch die hohen Fenster und vermischte sich mit dem goldgelben Schein des elektrischen Kronleuchters zu einem unangenehm toten Licht.
Vor dem schmiedeeisernen Parktor sah der Präsident die feuchtglänzenden Tschakos der Doppelposten, die frierend die Stiefel gegeneinander schlugen. Hinter den verschlafenen, taubehangenen Gärten des stillen Villenvororts kroch ein graufahler heller Streifen herauf. Der 3. Mai!
Das fette, schweißnasse Gesicht fiel mit einem leisen, weichen Aufschlag gegen die kühlen Glasscheiben. Die Stunden des untätigen Wartens hatten die stiernackige Brutalität des ehemaligen Metallarbeiters angefressen wie eine zersetzende Säure.
In dem toten Frühlicht erstarrte das aschfarbene wulstige Gesicht des Präsidenten, mit dem ausdruckslosen, glasigen Blick, zu einer gelben, furchtverzerrten Fratze...
Das Telefon läutete.
Der Beamte sprang auf und riss den Hörer hoch. Das schrille Läuten brach sofort ab.
„Halloh... halloh... jawohl, Zimmer des Herrn Präsidenten!
------ja, ich schreibe... . ja... ja... sofort!" Der Beamte drehte
sich, den Hörer in der Hand, um:
„Herr Präsident, das Gruppenkommando Nord ist am Apparat — die Aktion hat vor 5 Minuten begonnen!"
Das müde Gesicht des Präsidenten entspannte sich — er lächelte.
Zwei, drei Stufen auf einmal flog Grete in Nr. 3 die Treppen herunter, dicht hinter ihr die junge, dunkelhaarige Tabakarbeiterin von Manoli. Türen schlugen laut zu und wurden von innen verriegelt. Ein Blecheimer trudelte lärmend die Stufen herab und blieb achtlos in einer Ecke liegen. Von der Straße dröhnte das harte Poltern des Panzerwagens durch das ganze Haus.
Tak... tak... tak... tak... rrrrrrtak... .! Das kurze, spitze Bellen eines Maschinengewehrs. Von den grauen, schmutzigen Flurwänden rieselte Kalk und Staub. Aus einer Tür, die hinter ihm zuknallte, kam noch ein Dritter hinter den beiden Mädchen her und stolperte schwerfällig die Stufen herunter. Es war noch zu dunkel auf den engen Treppen.
Gerade als Grete die unterste Stufe erreicht hatte, um durch den Hausflur über den Hof nach hinten zu flüchten, wurde das Tor aufgerissen, In dem grauen Morgenlicht stand die scharfumrissene Silhouette eines Menschen mit bloßem, wirren Kopfhaar. Der linke Ärmel hing steif herab, über die Hand sickerte etwas Schwarzes, Feuchtglänzendes. Der Zeitungsausträger vom „Vorwärts" war angeschossen worden von der Polizei.
Durch das halboffene Tor hörte Grete die laute Stimme eines Offiziers. Stahlhelme und Nickelknöpfe blinkten in einem Dunstschwaden von Frühnebel und Pulver. Ein Polizist rannte mit erhobenem Karabiner vorbei, es wimmelte in der Gasse von brüllenden und schießenden Mannschaften. — Mit einem dumpfen Knall wurde der Torflügel zugefeuert und der Bildausschnitt der Gasse von dem Dunkel des Hausflurs verschluckt. Die Tabakarbeiterin hatte das Tor geschlossen und versuchte jetzt, die schwere Eisenstange in die Hacken zu heben.
Kolben donnerten gegen das Tor.
„Aufmachen . . , oder es wird geschossen!!", schrie jemand von außen.
„Schnell, schnell... macht dass ihr fortkommt", flüsterte sie erschrocken, während sie sich immer noch anstrengte das Eisen fester in die Hacken zu stoßen, die nur mit wenigen Zentimetern den Rand der Stange fassten. Grete riss den Verwundeten mit sich über den Hof. Sie glaubte, dass das Mädchen hinter ihr herkam.
Mit übermenschlicher Anstrengung hing sich die Tabakarbeiterin mit ihrem ganzen Körpergewicht an die Eisenstange. Ihr schmaler, fliegender Leib war an das Holz gepresst, gestoßen von den Kolbenschlägen, mit denen die Polizisten von außen gegen das Tor hämmerten. Nur festhalten... war ihr einziger Gedanke... sonst sind die beiden verloren!
Von einem furchtbaren Stoß gegen die Tür schlug ihr Kopf hart auf das Holz und fiel betäubt nach hinten über... die Hände glitten langsam aus der Umklammerung... das Schlagen und Schießen wurde in ihren Ohren zu einem gurgelnden Brausen. Mit einem metallenen Ton sprang das Eisen aus den Haken — das Tor war auf,
Es war mehr ein Wanken, als eine Flucht, dass sie versuchte, jetzt noch den Hof zu erreichen. Peng... sie warf mit gespreizten Fingern die Arme hoch, ihre Knie stießen nach vorn und dann fiel sie ohne einen Laut mitten im Hausflur auf das Gesicht...
Flur und Hof wurden besetzt, die Haussuchungen begannen. Stundenlang lag die junge, dunkelhaarige Tabakarbeiterin zwischen Blut und Dreck auf dem grauen Steinboden. Die Polizisten mochten sie für tot halten, sie ließen niemand heran. Einmal trat einer von den Mannschaften zu ihr, beugte sich herunter und hob mit den Fingerspitzen einen feuchten Stofflappen von ihrem Rücken hoch. Es war alles ein schwarzer, nasser Brei von Blut, Fleisch und Tuchfetzen.
„Was das auf so kurze Entfernungen für Wirkung hat, was?", wandte er sich an einen Kameraden und ließ den Lappen wieder fallen. Einige Stunden später war die Tabakarbeiterin — Sophie
Herder — tot.

Haus für Haus wurde besetzt, die Wohnungen durchwühlt, Schränke aufgerissen, die Kinder aus den Betten geholt, die Matratzen flogen auf die Dielen. Wo waren die Roten? Wo ihre Waffen? Die Weiber standen in ihren Wohnungen neben den Polizisten, hatten die Arme in die Hüften gestemmt und hielten den Mund. Nicht ein Wort war aus ihnen herauszukriegen.
Sucht euch doch eure „Dachschützen", wenn ihr sie haben wollt?"
„Wo ist Ihr Mann?"
„Wees ick, wo der is, bin doch nich seine Kinderfrau!"
„Haben Sie Waffen in der Wohnung?"
„Gewiss doch... Messer und Jabel, ne Kochkelle ooch!"
„Verdammte Brut!"
Neben dem Panzerwagen, der vor Nr. 6 hielt, stand der Abgeordnete G. in seinem großen, schwarzen Hut und protestierte gegen die willkürlichen Verhaftungen. Seine Gegenwart schützte die Verhafteten vor unmittelbaren Misshandlungen auf der Straße. Wahllos verhaftete die Polizei alles, was ihr in die Hände fiel. Sollte man etwa Berlin das Schauspiel bieten, dass eine Handvoll Proleten Tausende von Polizisten, ausgerüstet mit den modernsten Waffen, drei Tage lang im Schach gehalten haben?
„Die Kerle sind noch drin! Herr Abgeordneter... Und wir werden sie schon noch herauskriegen, verlassen Sie sich darauf!"
Wütend stürzte der Offizier wieder in das nächste Haus. Vielleicht hätte er Kurt gerade noch erwischt, wenn er nicht vorher so gebrüllt hätte,
Kurt kannte die Gasse mit ihren Höfen und Durchgängen wie seine Westentasche. Von Haus zu Haus war er geflüchtet. Immer, wenn er sah, dass das Haus durchsucht werden sollte, gelang es ihm noch durch irgendwelche Gänge und Schlupfwege in das Nachbargebäude zu kommen. Er hörte die Stimme des Offiziers, hatte kaum Zeit über den kleinen Hof zu rennen, war mit einem Satz auf dem Müllkasten und rüber über die Mauer. Während er sich auf der anderen Seite herunterfallen ließ, knallten die Pistolenkugeln des Offiziers gegen die Wand. Kalk und Dreck überschütteten ihn.
Jetzt hatten sie ihn gesehen, in wenigen Sekunden würde auch dieses Haus durchsucht werden. Er wusste, was ihm bevorstand, wenn sie ihn bekamen. Sie kannten ihn zu gut auf der Uferwache. Mit ein paar Sätzen hatte er die Kellertreppe erreicht, in einem Sprung die Stufen herunter. Links wohnte ein Sympathisierender, rechts war im Dunkeln eine kleine, niedrige Tür, für einen Unkundigen kaum sichtbar. Er hörte schon das Trampeln der genagelten Stiefel auf dem Hof. Vor die Kellertür schob er allerlei Gerümpel was herumstand und zog die Tür leise hinter sich zu. Entweder — dachte er — bin ich jetzt gerettet oder in einer Falle!
Er schrak zusammen. Etwas hatte sich bewegt. Er hatte das bestimmte Gefühl in dem engen Loch, das oben unter der Decke nur ein schmales Fenster mit einer zerbrochenen, schmutzigen Scheibe hatte, nicht allein zu sein. Mit angehaltenem Atem lauerten zwei aufeinander, keiner bewegte sich. Langsam gewöhnte sich Kurt an das Dunkel. In der Ecke saß ein regungsloser, dunkler Klumpen.
Auf dem Hof wurde geschossen, eine Fensterscheibe klirrte und zersprang kurz darauf scheppernd auf den Steinen. Der Lichtschacht verdunkelte sich plötzlich, es stand jemand davor.
„Der Hund muss noch hier irgendwo sein", rief ein Polizist. Schritte polterten die Kellertreppe herunter. Kurt stand immer noch dicht an die niedrige Kellertür gepresst, er hörte den keuchenden Atem der Polizisten auf der anderen Seite. Der schwarze Klumpen in der Ecke hockte regungslos.
Einer stieß mit den Absätzen gegen die Tür der Kellerwohnung nebenan. „He... aufmachen, Polizei!"
Eine schimpfende Weiberstimme antwortete, dann knarrte die Tür. „Wat woll'n Se ... hier is keener... meen Mann is in de Halle!"
Sogar die paar Möbelstücke rückten sie ab. — Fluchend stiegen sie nach 5 Minuten wieder die Treppe hinauf. —
„Schwein gehabt, wat?" flüsterte der Klumpen nach einer Weile. — Es war ein Obdachloser, der hier sein Quartier aufgeschlagen hatte. Wenn sie ihn geschnappt hätten, wäre er als „Aufrührer" mit hochgegangen, wie jeder andere, den sie an diesem Morgen zu fassen bekamen.
Immer noch wurde draußen geschossen. Für den Moment war Kurt gerettet. Er setzte sich auf eine umgestürzte Kiste, vergrub das müde Gesicht in den Händen und versuchte nachzudenken. Wo war Hermann... wo Anna?... und das Mädchen von heute Nacht in dem Hausflur?... wo waren denn alle die anderen? Rechtzeitig geflüchtet oder vielleicht schon in den Händen der Polizei, wie Anna . .?! Was war überhaupt jetzt draußen los? Warum schießen denn die immer noch . . auf wen nur? — Und dann . . was kam jetzt? Das kann doch nicht alles so vorbeigehen. Morgen werden die Zeitungen wieder lügen....Morgen? Richtig... morgen wird er ja wohl wieder auf den Bau gehen müssen, Beton
schleppen.-------Werden die Arbeiter in Berlin einfach still sein . .?
Man muss doch jetzt sofort losgehen... aufrütteln, aufklären, sagen, wie alles gewesen ist . . die vielen sozialdemokratischen Arbeiter! . . Der alte Tölle auf dem Bau... was der jetzt wohl machen wird?!...
Plötzlich wurde ihm das alles zu eng in dem dumpfen Keller. Er musste raus aus dem Loch...
„Biste verrückt?" sagte der andere. „Wo wills'te denn jetzt hin?"
„Die Genossen suchen!" antwortete Kurt einfach und schob die Kellertür zurück.

 

 

 

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur