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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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VI. Die blaue Spirale

Bis zum Sonntagabend ging scheinbar alles seinen gewohnten Gang weiter. Die Zeitungen wurden sorgfältiger als sonst gelesen, einer oder der andere brachte einmal eine rechtsstehende Zeitung abends mit in die „Rote Nachtigall", die von Hand zu Hand ging. Es gab keinen Unsinn, der in diesen Tagen nicht geschrieben wurde. Das Geringste war noch, dass die Kommunisten am 1. Mai die „Revolution machen" wollten. Am tollsten trieb es der „Vorwärts" — Unter den Arbeitern, die in diesen Tagen in der Badstraße die großen Schaufensterscheiben der „Vorwärts"-Filiale bei hellem Tageslicht unter den Augen der Polizei einschlugen, waren mehrere junge Sozialdemokraten.
Am Sonnabend hing jemand das Titelblatt der „Nachtausgabe", die wieder einmal irgendeine gemeine Hetzüberschrift hatte, in das Schaufenster der „Roten Nachtigall". Auf einem Zettel, der darüber geklebt war, stand: Achtung, Gift — nicht anrühren! Später schrieb noch ein anderer quer über die Seite: Darum lest nur die „Rote Fahne".
Die Diskussionsgruppen der Frauen vor den Häusern standen vielleicht öfter und länger als sonst zusammen, manchmal beteiligten sich auch die Männer an diesen Straßenunterhaltungen und erzählten von ihren Beobachtungen in den Betrieben und in der Stadt. —
Die Stadt, das war das da draußen. Die Stadt fing hinter dem Nettelbeckplatz an und war das große Berlin mit seinen Autos, Verkehrsbahnen, Warenhäusern, Polizisten und einigen Millionen Menschen. Die Menschen aus der Gasse kamen da nicht viel hin. Die Arbeitsstelle, wenn einer noch eine hatte, war oft die einzige Gelegenheit, herauszukommen. Früh fuhr man hin, wenn es noch dunkel war, und kam abends müde zurück in die Gasse. Das Kino war nebenan, oder einer setzte sich noch eine Stunde in den Laden von Krückenmax an den Ofen, und dann waren — die Kneipen da. Das Kösliner Viertel war wie ein abgeschlossenes Ghetto der Armut. — Trotzdem die Kösliner Straße selbst ziemlich breit war, wurde nur immer von der „Gasse" gesprochen. In den 23 Häusern mit ihren tiefen Hinterhausblöcken wohnten Tausende von Menschen.
In dem Haus Nr. 4 hatte vor einigen Monaten ein gewisser Petrowski einen Eisladen eröffnet. Ein einfacher, weiß gekalkter Raum, in dem an der Seite der kleine Ladentisch mit den eingebauten Eistöpfen stand. Davor befanden sich vier kleine, runde Tische mit rot gestrichenen Stühlen. Das Hauptstück des Ladens war die von einem elektrischen Dynamo betriebene Eismaschine, die unmittelbar hinter der Schaufensterscheibe arbeitete. Nach der Straßenseite zu war an dem etwa ein Meter großen hölzernen Schwungrad eine weiße Pappscheibe befestigt, auf die eine schöne, blaue Spirale gemalt war. Wenn die Scheibe sich drehte, sah es aus, als ob sich die Spirale zu einem immer tiefer werdenden, rasend rotierenden Trichter verwandelte. Den Kindern, die in der ersten Zeit ihre Nasen plattdrückten an der Fensterscheibe, wurde ganz schwindlig, wenn sie davor standen und in diesen sich immer schneller drehenden Trichterschlund hineinsahen.
Nach der Hinterseite zu war der Raum durch eine weiß gestrichene Holzwand abgegrenzt. Hinter dieser Wand schlief und wohnte der Inhaber Petrowski. Vielleicht war es etwas ungewöhnlich für einen so kleinen Geschäftsmann der Gasse, dass sich der Eismann gleich in den ersten Tagen ein Telefon legen ließ. Von seinen Kunden wurde es übrigens nie benutzt. Wer telefonieren musste, ging in die „Rote Nachtigall".
Der Laden ging von Anfang an schlecht. Petrowski stellte bunte Papierblumensträuße auf die Tische und gab sich Mühe, es so nett und gemütlich wie irgend möglich in seinem Laden zu machen. Die Kinder, die sich ab und zu für 10 und 20 Pfennig eine Eiswaffel kauften, kamen wohl zu ihm. gingen aber lieber mit ihrer Waffel auf die Straße Es war sehr selten, dass sich jemand bei ihm hinsetzte. Er versuchte es dann später, weil es für das Eisgeschäft noch zu kalt war, mit billigen Kartoffelpuffern. Aber es nutzte nichts Irgend etwas musste daran schuld sein, dass sich die Leute aus der Gasse in seinem Laden nicht wohlfühlten.
Die Geschichte wurde deshalb besonders merkwürdig, wenn man die Gewohnheiten der Menschen aus der Gasse berücksichtigte Die engen, schlechten Wohnungen sind am Tage, besonders für die jungen Burschen, die oft nur eine Schlafstelle haben, kein angenehmer Aufenthalt; zudem kosten Kohlen Geld, das man notwendiger zum Essen braucht. Es gab eine ganze Reihe kleiner Geschälte in der Gasse, in denen es einen Tisch und ein paar Stühle am Ofen gab. In dem Zigarettenladen von Krückenmax — so nannten sie ihn, weil er einen Stelzfuß hatte — saß immer eine Handvoll junger Arbeiter. Man rauchte, erzählte sich was, diskutierte und hatte es warm, besser wie in der kalten, engen Wohnung, Und die vielen Kneipen in dieser kurzen Straße ersetzten die Wohnung, vielen die Familie. In einer Kneipe wurde getrunken — was denn sonst? Am Zahltag gab es in der Gasse auch manchmal Besoffene. Es war kein Zufall, dass die Betrunkenen fast immer diejenigen waren, denen es am elendsten ging, . .
Nur bei Petrowski — und das war doch merkwürdig — blieben die neuen roten Stühle abends leer. Man mochte ihn nicht! Er hatte einmal erzählt, dass er ungarischer Emigrant sei und nicht mehr in seine Heimat zurück dürfe. Dabei ließ er durchblicken, dass es sich um irgend eine politische Angelegenheit gehandelt hätte, über die er nicht näher sprechen könne. Richtiges war aus ihm nicht herauszubekommen. Der schwarze, pockennarbige Bursche war den Arbeitern aus irgend einem Grunde unsympathisch, ohne dass jemand hätte sagen können, warum. Seine überaus höfliche, hilfsbereite Art passte nicht in die Gasse und zu ihren einfachen Menschen Es hatte nichts damit zu tun, dass Petrowski Ausländer war Der polnische Arbeiter Mitja aus Nr. 1 war der Freund der ganzen Straße, trotzdem er kaum ein Wort richtig deutsch sprechen konnte. Da war eben doch ein Unterschied da.
Am Nachmittag, etwa gegen 6 Uhr, stand Anna mit ihrem Jungen auf der Straße vor der Haustür. Es war schrecklich, wie schmutzig die Gasse selbst am Sonntag wieder aussah. In den Nebenstraßen der Arbeiterviertel ließ der Berliner Magistrat nur alle paar Tage die Straßen säubern. Ausländer und Fremde kamen nicht hierher, da kam es nicht so genau darauf an. — Mit einem lumpengefüllten Lederball spielten Kinder auf dem schmutzigen Damm Fußball.
Ein großer, gutgekleideter Herr kam die Straße herunter. Bei den Frauen, die vor der Haustür standen, wich er mit einem kleinen Bogen nach dem Damm zu aus und ging dahinter wieder dicht an das Haus heran, sah aufmerksam nach der Nummer neben dem Tor und verschwand, ohne sich weiter umzusehen, schnell in dem Eisgeschäft.
Anna hatte den Mann flüchtig gesehen. Sie kannte ihn nicht, er war nicht aus der Straße. Er war ihr erst aufgefallen, als er nach der Hausnummer blickte und dann zu dem Petrowski in den Laden ging. Wie ein Steuerbeamter hatte er ausgesehen, dachte sie.
Während sich Anna weiter mit den Frauen unterhielt, fiel ihr auf einmal ein, dass es doch kein Steuerbeamter gewesen sein konnte. Heute war doch Sonntag... ! Langsam wurde ihr Interesse wach. Irgend etwas schien ihr da nicht in Ordnung. Der Mann war nicht von hier, was wollte er in dem Laden, in den kaum Leute, die
hier wohnten, hineingingen-----------?! Vielleicht hätte sie den Mann
ü berhaupt nicht weiter beachtet, wenn er nicht gerade zu Petrowski gegangen wäre, zu diesem schwarzen Kerl, den Anna auch nicht leiden konnte. Sie sah unentschlossen nach dem Eisladen hinüber. Ach was —, das ist die Sache wert!
„Komm Junge, kriegst eine Eiswaffel, weil heute Sonntag ist" Begeistert marschierte der kleine Kerl sofort auf den Laden los und zog die Mutter hinter sich her.
Das erste, was Anna in dem Laden feststellte, war die Tatsache, dass der Mann von vorhin nicht zu sehen war. Es war also kein Kunde, sondern er musste mit dem Eishändler hinter der Holzwand sitzen. Anscheinend hatten sie sofort aufgehört zu sprechen, es war nichts mehr zu hören. Petrowski kam mit seiner weißen, nicht mehr ganz sauberen Jacke durch den Vorhang heraus. Als er Anna sah, verzog sich sein pockennarbiges Gesicht zu einem freundlichen Grinsen:
„Guten Tag, Frau Zimmermann... , kommen Sie mir auch mal was abkaufen . , . elende Zeiten, was!" Er beugte sich über den Ladentisch zu dem Jungen runter.
„Na, kleiner Mann... , was willst du denn haben?"
Petrowski sprach ein tadelloses Deutsch, nur an dem harten Gaumenlaut merkte man, dass er ein Ausländer war.
„Eine Eiswaffel für 10 Pfennig", sagte Anna kurz, ohne auf seine unangenehme Freundlichkeit einzugehen. Sie ärgerte sich, dass sie hier hereingegangen war. Was konnte sie schon feststellen? Der Mann war vielleicht ein Verwandter des Eishändlers, der am Sonntagnachmittag zu Besuch kam. Schade um das Geld. Schließlich würde sich der Junge bei dem leuchten Wetter noch den Magen an der Eiswaffel erkälten.
Mit einer übertrieben liebenswürdigen Bewegung reichte Petrowski die fertige Eiswaffel dem Jungen hin.
Anna zahlte rasch und ging mit Fritz, der, selig über das unerwartete Geschenk, an der Waffel leckte, wieder auf die Straße. Als sie sich noch einmal nach dem Laden umdrehte, sah sie, dass der Eishändler hinter der Türgardine stand und sie beobachtete.
„Blödsinnige Geschichte", murmelte Anna, „hols der Teufel — bei dem Burschen war was nicht in Ordnung!"
Aber was? Der sah ihr nicht nur nach, weil sie eine hübsche Frau war. Er wollte nur sehen, wo sie hinging Warum hatte sich der Mann hinter der Wand überhaupt nicht gerührt, als sie im Laden war, warum hatten sie sofort aufgehört zu sprechen... ? Sie wusste wirklich nicht, was sie daraus machen sollte; wenn Kurt wenigstens dagewesen wäre.
Auf der anderen Seite des Dammes sah sie Paul Werner kommen, der auch zur Straßenzelle gehörte.
„Paul, wart mal einen Augenblick", rief sie ihm zu und ging herüber Paul wohnte in dem Haus des Eisfritzen und konnte vielleicht eher etwas damit anfangen.
„Tach — Anna, is Kurt schon zurück?", fragte er und gab ihr freundschaftlich die Hand. Er mochte die junge, saubere Frau gern.
„Nee, Paul . ., aber ich will dir mal was sagen —". Erst als sie merkte, dass Paul bei ihrer Erzählung sofort ernst wurde und aufmerksam zuhörte, wurde sie wieder etwas sicherer. — Nachdem sie fertig war, sah er sie einen Moment nachdenklich an.
„Du, Anna, det is bestimmt een Bulle! Den Petrowski haben wir schon lange im Verdacht, dass er nicht so zufällig hier in die Gasse gezogen ist." Er überlegte einen Moment.
„Pass mal auf, Anna, du gehst hier ruhig noch eine Weile weiter spazieren mit dem Jungen, falls er dich doch noch beobachtet. Nachher kommst du, damit er dich nicht sehen kann, von der anderen Seite rüber in den Hausflur."
Paul fackelte nicht lange So ein Verdacht war wichtig genug, um der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Teufel, das fehlte noch — mitten in der Gasse einen Polizeispion mit Telefon, Straßenbeobachtung und so weiter Spitzbube verdammter! Er redete sich schon in Wut, ehe er noch den geringsten Beweis für Annas Vermutung hatte Der sonst so gutmütige Paul Werner — er war der Kassierer der Straßenzelle — wäre am liebsten sofort in den Laden gestürzt, um die Beiden auf den Straßendamm herauszuschleifen: hier, Leute . . hier sind diese Polizeispitzel, die Achtgroschenjungs, die man uns in die Gasse gesetzt hat . . seht euch diese Fressen mal an so sieht ein Lump aus, der selber zum Proletariat gehört und für acht Groschen seine Nachbarn ins Zuchthaus bringt! Und dann rein in die Fratzen, bis sie Brei sind...
Langsam, langsam, Paule, immer die Wut kühl und trocken behalten, mal erst überlegen, wie man daran kommt. Er blieb einen Moment stehen und zwang sich dazu, ruhig nachzudenken. Reingehen in den Laden war zwecklos. Da bekam man nichts heraus. Nach dem Hof zu ging nur das kleine Klosettfenster, das viel zu schmal war, als dass jemand hätte hereinsteigen können. Plötzlich erinnerte er sich, einmal auf dem Hausflur durch eine Tür, die von hinten in den Laden führte, deutlich das Telefon gehört zu haben.
Er ging dicht an den Häusern entlang bis zu der Toreinfahrt, die unmittelbar vor dem Eisladen lag und verschwand darin. Vorsichtshalber zog er die Haustür hinter sich zu.
Durch den hohen schmalen Hof fiel nur ein schwacher Lichtschimmer in den fast völlig dunklen Hausflur. In einer Mauernische rechts musste sich die Tür befinden, die in den Eisladen führte.
Langsam und geräuschlos tastete sich Paul an der Wand bis zu der Nische hin. Noch bevor er das Ohr an die Holztür gelegt hatte, hörte er schon eine laute heftige Unterhaltung dahinter.
„Donnerwetter!" flüsterte er überrascht. Der Eishändler wusste anscheinend nichts davon, dass man hier draußen deutlich jedes Wort verstehen konnte. Vorsichtig brachte er sein Ohr an die dünne Spalte zwischen Tür und Rahmen. Wenn jetzt nur keine Leute durch den Flur kommen, dachte er. —
„... nein, es ist ausgeschlossen, da gibt es keine Verbindung. Ich habe das genau untersucht! Sie können mir das wirklich glauben!"
Paul erkannte die hohe, immer etwas nervös abgehackte Stimme Petrowskis. Er hörte vor Erregung fast auf zu atmen. Anscheinend sprach jetzt der Besucher. Verdammt... der Bursche sprach so leise, dass nichts zu verstehen war. Das war die Vorsicht gewohnte ruhige Stimme eines Polizeikommissars, der immer damit rechnete, dass Wände Ohren haben können. — Petrowski sprach wieder aufgeregt dazwischen.
„Ist doch unmöglich... dann sind die Leute eben auf einem anderen Wege durch die Häuser gekommen... vielleicht über die Dächer... aber unten gibt es von Nr. 19 keinen Weg zur Reinickendorfer Straße. Ich bin erst vorgestern abend drüben gewesen und habe mir das genau angesehen... "
Der andere schien, nach dem Tonfall zu urteilen, eine Frage zu stellen.
Ja, das ist nicht so schwierig... die Panke ist hier unten nicht sehr tief... außerdem ist es ja auch nicht schwer, mit ein paar Brettern eine Notbrücke darüber zu legen... ja, man kommt von dort sehr leicht zur Hochstraße."
Paul konnte nicht mehr. Leise trat er einen Schritt zurück — so, erst mal Luft holen! Er spürte einen unangenehmen Druck in der Magengegend. Immer, wenn er in eine plötzlich starke Erregung kam, überfiel ihn dieser krampfartige nervöse Magenschmerz.
Er versuchte sich klar zu konzentrieren. Jetzt hatte man also den Hund! Die Unterhaltung der beiden war nicht mehr zweifelhaft. Er überlegte, jetzt muss schnell gehandelt werden, einer muss sofort weiterhören, ein anderer Hermann verständigen. Wo bleibt Anna nur?... er kann doch jetzt nicht einfach hier weglaufen... Die Wut nahm ihm noch immer jede ruhige Überlegung. So ein Mistvieh... sitzt hier mitten in der Gasse und spioniert die Häuser
aus... !
Ein wütender Magenschmerz warf ihn fast zu Boden. Als wenn ihm einer die Gedärme herausriss. Mit vornübergebogenem Leib stand er im Hausflur, als das Tor aufging und Anna hereinkam.
„Paul... was ist denn los... ?", flüsterte sie bestürzt. Er presste die Fäuste vor den Magen. Mit ungeheurer Willensanstrengung riss sich Paul zusammen. Er durfte jetzt nicht schlapp machen —! Mühsam richtete er sich auf und zog Anna auf der gegenüberliegenden Seite ein paar Stufen die Treppe herauf.
„Ich hab' den Jungen erst fortgebracht", entschuldigte sich Anna leise.
„Gut... gut... Anna", antwortete er mit einer abwehrenden Handbewegung, „pass mal auf... du gehst jetzt an die Tür... ganz vorsichtig... dürfen drin nichts merken... hörst genau zu, was die Kerle drin sprechen... ich gehe Hermann suchen."
Sein Gesicht war grau vor Schmerzen.
„Paul, lass mich doch schnell laufen", bat ihn Anna, die immer noch nicht wusste, was eigentlich mit ihm los war, aber doch sah, dass er in diesem Zustand nicht über die Straße gehen konnte. Paul packte sie hart an die Schultern und schob sie wortlos die Treppe herunter. Im Hausflur zeigt er nur stumm in die Türnische und ging leise zu dem dunklen großen Haustor. Er drehte sich noch einmal um, Anna war schon in der Mauernische verschwunden. —
Auf der Straße wurde es ihm besser. Der wütende Schmerz hatte etwas nachgelassen. Es war noch eine Nervengeschichte aus der Kriegszeit, die nur geheilt werden konnte, wenn er die notwendige jahrelange Ruhe gehabt hätte. Gerade immer dann, wenn er seine Nerven am notwendigsten brauchte, überfiel ihn dieser furchtbare Magenkrampf.
Er musste zuerst in die „Rote Nachtigall", um zu hören, wo Hermann war. Vielleicht hatte ihn jemand gesehen. Bei dieser Gelegenheit wollte er schnell eine Seiter trinken, das einzige wirksame Mittel, das es gegen diese Magengeschichte gab. Sowie er nach der Seiter einige Male tüchtig aufstoßen konnte, war der Anfall vorüber. Merkwürdige Sache, — aber es war nun mal so
Rasch lief er die Straße herunter. Unterwegs fragte er nach Hermann, niemand hatte ihn gesehen. Einen Moment dachte er daran, wenn er den Leuten auf der Straße erzählen würde, dass sich da drin in dem Eisladen zwei Polizeispitzel über die Gasse unterhalten!? Von der Ladeneinrichtung würde wahrscheinlich nicht viel übrig bleiben... „Nee, nee — Paul — det is verkehrt —", murmelte er vor sich hin, „mal erst Hermann alles erzählen."
In der „Roten Nachtigall" rief ihm Kurt Zimmermann auf seine Frage sofort entgegen: „Der is drüben in seine Wohnung!"
„Los — komm' mit, Kurt!" Seine Seiter hatte er schon wieder vergessen. Jetzt, wo er wusste, dass alles in Ordnung gehen würde, wurde er etwas ruhiger und sofort ließen auch die Schmerzen nach. Unterwegs erzählte er Kurt kurz, was los war.
„Junge, Junge... du, der kennt die Gasse nicht, sonst hätte er sich nicht hier ringesetzt."
„Wird sie schon kennen lernen", antwortete Paul mit verbissener Wut. Kurt nahm die ganze Sache bedeutend ruhiger auf. Natürlich schickt die Polizei Spitzel und Agenten in die Gasse! Schließlich war es ja nicht das erste Mal, dass sie dahinter gekommen waren. Die Hauptsache war, dass man sie fasste und unschädlich machte.
In dem Eisgeschäft, an dem sie vorbei kamen, brannte jetzt Licht. Der Laden war leer. Zwei Häuser weiter wohnte Hermann. Frau Süderupp öffnete ihnen.
„Tach — Genossen, Hermann is in sein Zimmer."
Sie gingen vom Flur aus durch das einzige große Zimmer, das die Wohnung hatte. Die zweijährige Heidi saß auf dem Fußboden und spielte mit einem großen Scheit Brennholz irgendeine undurchsichtige Geschichte. Als ihr Kurt im Vorbeigehen flüchtig über das Haar strich, bog sie den Kopf, unwillig über die Störung, beiseite und beschäftigte sich weiter mit ihrem Holz. Heidi nahm nur selten von den vielen Leuten, die hier tagsüber ein- und ausgingen, Notiz. Nebenan war Papa. Das genügte zunächst für ihr Wohlbefinden. —
Durch die angelehnte Tür hörte man das unregelmäßige Klappern einer Schreibmaschine. Kurt stieß die Tür zurück.
In der Ecke der kleinen Kammer, neben dem Fenster, hatte sich Hermann auf dem Tisch aus rohem Kistenholz eine Art Bücherschrank mit zwei verschließbaren Fächern gebaut. In dem mit rotem Kreppapier ausgeschlagenen Mittelfach stand eine etwa 30 cm hohe Leninbüste. Es war gleichsam die allerdings sehr bescheidene „Leninecke" der roten Gasse. Darüber befanden sich zwei Reihen Broschüren, meistens Parteitagsprotokolle, Referentenmaterial und eine Anzahl marxistisch-wissenschaftlicher Bücher. Als einzigster Roman war „König Alkohol" von Jack London vertreten. Übrigens zeugte der Zustand der Broschüren davon, dass sie nicht zum Schmuck hier standen.
Es war das typische Bücherbrett eines politisch geschulten Parteifunktionärs, der als Prolet keine Zeit hatte, andere als nur für seine politische Arbeit unbedingt notwendigen Schriften zu lesen. In manchen Nächten hatte hier der Metallarbeiter Hermann Süderupp bei der Küchenlampe gesessen und seinen müden, schwerfälligen Kopf gezwungen, sich mit den Fragen der Mehrwert-Theorie", der „Akkumulation des Kapitals", des „Nachkriegsimperialismus" usw. zu beschäftigen. „Ohne Theorie — keine Praxis" sagte Lenin, dessen großes Bild noch einmal in einem alten Rahmen über den Büchern hing „Onkel N'in" sagte Heidi immer zu ihm.
Neben dem Tisch befand sich ein Schrank mit Zeitungen, Akten und allerhand Kram, den er noch so oft aufräumen konnte und doch nie in Ordnung bekam. Nach einigen Wochen war wieder alles durcheinander. Auf Heidis kleinem Kindertisch stand eine alte, billig erworbene Schreibmaschine, mit der Hermann jetzt langsam aber sicher — er tippte immer vorsichtig, nur mit einem Finger — an dem Text der Straßenzellen-Zeitung schrieb
Die Funktionäre nannten diese Bude: „Das rote Zimmer". Ganz und gar nicht in dieses rote Zimmer passte Heidis kleiner Teddybär, der an einer Schnur von der Decke herabhing. Sie hatten Ihn einmal auf dem Rummelplatz in einer Würfelbude gewonnen und weil Heidi damals zu klein für den großen Bär war, hatte Hermann ihn hier aufgehängt. Da Heidi mit dem, was ihr Papa macht, immer zufrieden ist, ist er hängen geblieben.
Hermann sah dem Paul sofort an, dass etwas Besonderes passiert sein musste.
„Was gibt’s?" fragte er und schob die Maschine zurück'.
„Bei Petrowski im Laden sitzt ein Polizeikommissar... wir haben vom Hausflur aus alles gehört... der schwarze Kerl ist ein Spitzel... !"
Hermann stand wortlos auf, stellte sich an das Fenster und sah einen Augenblick schweigend auf den dämmrigen Hof. Jemand rief aus einem Fenster herunter. — Also einen Spitzel hatte man in der Gasse. Es kam doch ein bisschen plötzlich ...
„Anna steht noch an der Tür und hört weiter zu", sagte Paul hinter seinem Rücken zu ihm. — Er drehte sich um, sein Plan war fertig.
„Kurt, du schickst zwei Jugendgenossen von drüben in den Laden, sie sollen sich dahinsetzen, nimm den kleinen Fritz dabei, der ist zuverlässig. Und nicht eher wieder fortgehen, bis der Bulle weg is. Aber natürlich nicht auffällig. Wenn jemand im Laden bleibt, können sie nicht mehr miteinander sprechen und der Kerl wird gehen. Fritz soll sich den Mann genau ansehen. Es wäre gut, wenn sich einer von euch den Bullen auf der Straße genau merkt, damit wir ihn kennen. Aber vorsichtig, Genossen, die Schweine dürfen nicht wissen, dass wir sie entdeckt haben... So — und ich gehe mal rüber zu dem alten Lederer in Nr. 20, der arbeitet doch bei „Mix & Genest" auf Telefon?"
„Seit elf Jahren is er schon da."
„Ich glaube, der Alte ist zuverlässig, was? wenn er auch kein Parteimitglied ist."
Kurt sah Hermann erstaunt an: „Was willst du denn von dem Alten?"
„Mensch — deine lange Leitung mal nachsehen lassen", lachte Hermann, „los, Kinder, alles andere heute abend... erstmal den Bullen rausbringen... aber, Paul, keenen anfassen jetzt, hörst de... mach bloß keenen Quatsch!"
„Nich doch — Hermann, kommt nicht in Frage, immer kalten Kopp behalten!"
Paul hatte vollkommen seine Ruhe wieder gefunden. Seine Schmerzen waren verschwunden. Er freute sich nur, dass sie den Lumpen erwischt hatten.
Als die drei auf die Straße kamen, trafen sie bereits Anna vor dem Haus. Sie wollte gerade zu Hermann gehen: Der Polizeibeamte war schon weg!
Hermann machte ein ärgerliches Gesicht. „Jetzt hat ihn keiner richtig gesehen!" Er unterbrach Anna, die sofort begonnen hatte, von der Unterhaltung, die sie gehört hatte, zu erzählen.
„Nachher, Anna —, du kommst mit herauf, ja?... wir treffen uns in einer halben Stunde oben bei mir... ich gehe nur noch vorher nach Nr. 20... lade Otto auch mit ein, Paul... Adschüs!"
Er ging schräg über den Damm die Straße herunter. Langsam fing es an zu regnen. In dem schwarzen, schmutzigen Asphalt glänzten die Lichter der elektrischen Kino-Reklame. Hinter der regenbeschlagenen Fensterscheibe des Eisladens drehte sich die blaue Spirale...

Nur sehr wenige wussten davon, dass bereits am nächsten Morgen von dem dünnen Telefonkabel, der im Hof bis zu dem Fenstergesims des Eisladens führte, eine kleine, geschickt versteckte Seitenlinie bis zum 2. Stock hochführte. Der alte Lederer war doch ein tüchtiger Kerl!
Es war gut, dass Paul, der zwei Treppen über Petrowski wohnte, die Gespräche zwischen der Polizei und dem Eishändler nur hören konnte. Vielleicht hätte er in den nächsten Tagen sonst doch der Versuchung nicht widerstehen können, einmal zu sagen: „Halloh — hier ist die 145. Straßenzelle der KPD. — grüß Gott, Herr Polizeikommissar... !"

 

 

 

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