| IV. „Zur Roten Nachtigall"„He... , Fritze, pack sie doch!"„Da . . halt die Tür zu... !"
 „Hahaha...  schau, der Strumpf hat ein Loch... "
 „Jetzt krieg' ich sie...  A u ! das Aas kratzt ja...  hol dich der  Teufel!"
 Wütend sah der Junge auf seine Hand mit einer roten Schmarre... so ein  Biest . . , kratzt wie eine Katze! Die anderen jungen Arbeiter standen  um ihn herum und lachten.
 Gemein seid ihr alle miteinander!" schrie empört das Mädchen, außer  Atem von der Herumhetzerei in dem kleinen Zimmer. Man sah ihr an, dass  ihre Wut auf die Jungens echt war.
 „Na, tu' nich so... , Grete, wird dir nicht gleich der Lack abgehen von  deiner Schönheit ..,!" rief ihr ein junger, stupsnäsiger Mensch mit  offenem Hemd zu und schmiss ärgerlich seinen Zigarettenstummel auf den  Boden, Wenn man mal ein bisschen Spaß mit den Weibern macht, geh'n sie  gleich hoch."
 Erregt fuhr ihn das Mädchen an: „Ihr denkt, det ihr mit uns Meechen  bloß Quatsch und Blödsinn machen könnt... sowie der Otto nich da is,  seid ihr rein verrückt! Nischt wie Poussieren habt ihr in Kopp . , . —  Warum war denn det früher anders in der Weddinger Jugend... ? — weil  wir da politisch gearbeitet haben; und wer bloß knutschen wollte, wurde  solange an de frische Luft gesetzt, bis er wieder bei Verstand war...  !" Sie holte tief Luft und strich mit einer raschen Bewegung das  zersauste Haar glatt."
 „Kiek doch die Kleene...  wie die angibt?!"
 „Du . Jrete... ?"
 „Fass mich nich an...  oder... "
 „Nich doch, Jrete... Ick wollte ja bloß sagen, det de janz recht hast,  wir haben doch nur Quatsch gemacht... ", sagte Fritz, der seine  Schmarre schon längst vergessen hatte. Es tat ihm wirklich leid, dass  er sie so hart angefasst hatte. Die anderen Jungens brummten und  machten verlegene Gesichter,
 Fast jeden Abend traf sich die Jugend des Kösliner Viertels in dem  Lokal „Zur Roten Nachtigall" Auch heute war in den verqualmten, dicht  mit Menschen gefüllten Räumen Hochbetrieb. Die Arbeiter der Gasse gaben  der „Roten Nachtigall" eine bestimmte politische Atmosphäre, die sonst  in den Berliner Kneipen nicht zu finden war. Es sah alles eigentlich  mehr nach einem roten Arbeiter-Klub aus. Alles kannte sich  untereinander und fremde Gesichter tauchten hier nur selten auf. Gegen  Fremde war man misstrauisch.
 Einmal hatten Kriminalbeamte der IA versucht, sich hier an einen Tisch  zu setzen und gewissermaßen als Legitimation eine „Rote Fahne" aus der  Tasche gezogen. Persönlich kannte man sie in dem Kösliner Viertel  nicht. Aber die Arbeiter brauchten nur zu sehen, wie sie sich setzten,  wie sie das Glas Bier in die Hand nahmen... , das rochen sie schon,  wenn sie nur hereinkamen und so bieder „Guten Abend" sagten Diese  Tölpel, die glaubten, sie können sich so recht ruhig in die Rote  Nachtigall" setzen und herumspionieren. Sie waren wieder an der  frischen Luft, ehe sie auf ihren Stühlen warm wurden. Seitdem hatten  sie vor den „Bullen" Ruhe Wer nicht hergehörte, sollte draußen bleiben!  —
 An den Wänden hingen, ordentlich auf Bügel gespannt, verschiedene  kommunistische Zeitungen und illustrierte Blätter Darüber große, mit  Fotografien geschmückte Tafeln von den Arbeitersportvereinen, die hier  tagten An der Seite des Vorderraumes befand sich eine Theke mit dem  Glasschrank für Wurstwaren, dahinter der große Spiegelschrank mit  Biergläsern, Zigaretten, Schnapsflaschen usw. Auf einem viereckigen  Pappschild stand:
 Hier gibt es gute alkoholfreie Getränke Glas 10 und 20 Pfennig.
 Hinter der Theke hantierte der Besitzer der „Roten Nachtigall", der  schwarze Willi. Ein stiller, gutmütiger Mensch, der den vielen  Arbeitslosen, die herkamen, in seinem schwarzen, fettigen Buch manchmal  einen ziemlich hohen Kredit anschrieb. Nein — ein Sauflokal war die  „Rote Nachtigall" nicht! Wer kein Geld oder keine Lust hatte, saß eben  auch so da, diskutierte, spielte Schach oder Karten usw. Schließlich  war man nicht bei Aschinger, sondern in dem Arbeiterlokal der roten  Gasse.
 Das Durchgangszimmer, das zu dem kleinen, nach hinten gelegenen Saal  führte, war der Aufenthaltsraum der Jugend, fast alle in der grauen  Uniform des Roten Frontkämpferbundes und des Jungsturms. Die Diskussion  war schon wieder in vollem Gange. Otto, der Leiter der  Jungsturmabteilung, war gekommen.
 „Kameraden . , wenn ihr so schreit, versteht doch kein Mensch wat!"  rief ein junger, großer Mensch, der noch in Arbeitskleidung war,  dazwischen. Fritz drehte sich zu dem Großen um:
 „Na, Otto... , stimmt det nich... wie kann er denn den 1. Mai verbieten  wollen, wenn die Verkehrsarbeiter zweimal einstimmig beschlossen haben,  det se am 1. Mai feiern? Und wenn keene Bahn fährt, is doch aus in  Berlin mit de Arbeit!" Wütend sah er sich um, als die Kameraden in ein  schallendes Gelächter ausbrachen,
 „Hahaha...  ha, Fritze, du bist een ganz Schlauer!"
 „Fritze... , vielleicht weeß det der Polizeipräsident noch nich?"
 „Haha...  haha... !"
 Ruhe, Jungs", rief Otto energisch dazwischen, „lacht doch Fritzen nich  so dumm aus. Zum Teil hat er doch recht. Wenn Mittwoch de Bahn nich  fährt, is det ein halber Sieg für uns. Das sieht schon in der Stadt  ganz anders aus und die Spießer merken schon früh morgens, wat los is.  Natürlich wird davon nich das Demonstrationsverbot abhängen. Aber ick  werde euch zeigen, dass selbst viele sozialdemokratische Arbeiter noch  die Illusion haben, det der „Genosse" Polizeipräsident sich das „noch  überlegen wird". Hört mal her... !"
 Er zog eine Zeitung aus der Tasche und legte sie auseinander.
 Also: Ist sich Genosse Zörgiebel gar nicht bewusst, dass am 1. Mai  zweifellos nicht nur Kommunisten demonstrieren werden, sondern auch  gute, treue alte Parteigenossen von uns, die sich von niemand das Recht  zur Maidemonstration nehmen lassen wollen? Ist er sich nicht bewusst,  dass er mit seinem Verhalten der vierzigjährigen Maitradition unserer  Partei einen schweren Stoß versetzt? Ist es dem Genossen nicht ein  wenig peinlich, ausgerechnet in der Gesellschaft Bulgariens und  Jugoslawiens zu erscheinen, der politisch rückständigsten Länder  Europas, in denen der weiße Terror umgeht? Sieht Genosse Zörgiebel  keinen anderen Weg, als den des Obrigkeitsstaates?"
 Das ganze Lokal war still geworden und hatte zugehört. Aus dem  Vorderraum kamen Arbeiter und stellten sich in die Tür. Otto hielt das  Blatt jetzt hoch, dass es jeder sehen konnte.
 „Und wer schreibt det?...  Die sozialdemokratische Zeitung in Plauen!"
 Fritz sah sich strahlend um. „Na also... wat habe ick gesagt?!" Otto  lachte gutmütig: „Sachte, sachte Fritze... , gewiss denken viele  anständigen Arbeiter, die immer noch in der SPD sind, so Aber wir  dürfen uns nich einbilden, det der „Genosse" Polizeipräsident sich  darum kümmern wird. Einen Dreck wird er! Diese „linken" SPD.-Zeitungen  schreiben das, weil eine große Zahl ihrer Leser det Verbot für ne  Schweinerei halten. Richtig! Aber damit fangen se die Opposition in  ihrer eigenen Partei ab. Det is die Aufgabe der „linken" SPD. Wir  werden ja sehen, wat die „Linken" am Mittwoch machen werden, ob sie  sich als „gute Parteigenossen" das Recht auf die Maidemonstration von  ihren eijenen Genossen „nehmen lassen werden" oder nich."
 „Künstler werden wa in de Mitte nehmen... ", rief ein Arbeiter lachend.
 „Kameraden'', fuhr Otto fort, „weder die SPD. noch die Regierung kann  jetzt uff der Straße eene Massendemonstration die ein kommunistisches  revolutionäres Gesicht haben würde, gebrauchen.
 Det ist der Grund für das Verbot, das bestimmt nicht aufgehoben werden wird!  —"
 Nur Fritz war mit der allgemeinen Zustimmung durchaus nicht  einverstanden Wenn doch selbst eine SPD.-Zeitung so was schreibt?! Er  war innerlich fest davon überzeugt, dass das Demonstrationsverbot noch  vor dem 1. Mai aufgehoben werden würde. Er nahm sich vor, nachher mit  dem, Genossen Hermann, dem politischen Leiter der Parteizelle, darüber  zu sprechen. Die Straßenzelle hatte heute in der „Roten Nachtigall"  Sitzung. Vielleicht würde er von Hermann auch noch andere Neuigkeiten  erfahren.
 Im Vorderraum wurde plötzlich die Tür aufgerissen, ein Mädchen drängte  sich atemlos durch die Leute vor der Theke und stürzte in den  Durchgangsraum. Auf ihrem dunklen Mantelaulschlag trug 6ie das  Abzeichen des Kommunistischen Jugendverbandes.
 „Otto... ", schrie sie schon in der Tür, „... in der Badstraße  überfallen die Nazis... drei von uns!" Die Gesichter unter den  Schirmmützen flogen herum.
 „Los raus!"
 Solche Alarmierungen kamen in letzter Zeit häufig vor. Anscheinend  handelte es sich um ein planmäßiges Vorgehen der Nationalsozialisten,  die versuchten, mit Überfällen auf einzelne Arbeiter in dem roten  Wedding festen Fuß zu fassen.
 In dem verlassenen Raum ging der schwarze Willi mit schlürfenden Schritten  nach hinten und öffnete das Fenster.„Qualmen tun se wie die Pest", brummte er vor sich hin, und schüttete  die Aschenbecher zusammen Dann rückte er noch ein paar Stühle zurecht  und verschwand wieder hinter der Theke. — Vorn saßen einige ältere  Arbeiter, darunter der alte Hühner, der noch mit 68 Jahren aktiver  Funktionär in der Parteizelle war. Auf dem dünnen, schneeweißen Haar  trug er eine blaue, saubere Schirmmütze. Wie oft bei alten Leuten,  wurde die von unzähligen feinen Runzeln durchzogene Haut in seinem  Gesicht von Tag zu Tag weißer und durchsichtiger. Vielleicht kam es  auch davon, dass er immer weniger aß. Sein Junge, bei dem er wohnte,  war seit einem Jahr arbeitslos. Der Alte schob das meiste den vier  kleinen Würmern seines Sohnes zu. Kinder werden schwerer mit dem Hunger  fertig als alte Leute. Er legte seine dünnen knöchernen Hände mit den  knotigen blauen Aderlinien auf die Stockkrücke und sah zu dem Wirt  herüber.
 „Willi... , wat meinst d u denn dazu... ?" fragte er. Er hatte eine  langsame, etwas brüchige Stimme. Der schwarze Willi wischte mit einem  Lappen über den Ladentisch Er wartete noch ein wenig. Bei Vater Hübner  wusste man nie genau, ob noch was hinterher kam.
 „Tja... , Vater Hübner... ", antwortete er schließlich, „... is schwer  zu sagen — bloß ick denke mir, wenn et am nächsten Mittwoch Blut  gibt... denn werden det wohl die Herren da oben so gewollt haben . .  sonst würden se et ja am Ende mit det Verbot nich so gemacht haben!"
 Der Alte schüttelte leise den Kopf. „Nee... nee, Willi... , ick gloob  es noch nich! So alt wie ick heute bin, habe ick jeden 1. Mai gefeiert  und bin seit 40 Jahren, solange wie ick organisiert bin, uff de Straße  gegangen. — Willi... , ick weeß et noch, als wir 1890 zum ersten Mal am  1. Mai mit rotem Schlips und de Nelke in Knopploch hier in Berlin  demonstriert haben. Draußen an' Landsberger Tor. Da hab'n se vor  Schreck gleich den „Verband Berliner Metall-industrieller" gegründet  gegen die Maidemonstration... Der hat der Polizei nachher 3000 Mark vor  „geleistete Dienste" gegeben, weil se so schön blank gezogen haben  gegen uns. — Hat aber nischt geholfen... "
 Einen Augenblick schwieg er, als wenn er angestrengt über etwas  nachdachte. „Willi... , ob se... nach'en Mittwoch den  Polizeipräsidenten von Berlin... ooch Geld dafür geben werden?!"
 Und plötzlich spuckte Vater Hübner — was er sonst nie tun würde — er  spuckte mitten in die Stube. Seine mageren, zitternden Finger pressten  sich um den Stockgriff, dass die gichtigen Gelenke weiß wurden Ick aber  nich . . „Willi ... , ick bleibe nich zu Hause", stieß er mit  vollkommen veränderter, erregter Stimme hervor. — Dann erhob er sich  schwerfällig, warf zwei Groschen auf den Tisch, schob ein wenig an der  Mütze, und ging humpelnd und wortlos aus dem Lokal. —
 „Dunnerlüttchen —!" Der Alte war ja auf einmal mächtig hoch. Der  schwarze Willi sah ihm ganz verblüfft nach. So hatte er den Alten noch  nie gesehen. Vater Hübner hatte sich erst 192! nach dei blutigen  Niederschlagung des mitteldeutschen Aufstandes entschlossen, aus der  SPD. auszutreten und sich in der Kommunistischen Partei zu  organisieren. Schließlich war es keine Kleinigkeit, wenn man 30 Jahre  einer Partei angehört hatte, die heute den Mann stellt, der den 1 Mai  mit Polizeigewalt verbieten will... !
 Wütend schmiss er den Wischlappen unter den Tisch. „Schweinebande,  verfluchte ... ", knurrte er und ging schlürfend nach hinten, um den  kleinen Saal für die Sitzung zurecht zu machen.
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