II. Die Frau, die lachte
Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht von der Erschießung des Klempners durch den ganzen Wedding. In die Geschäfte, in die Bahnhöfe, in die Stadtbahnzüge, in denen es erschrockene Menschen in die anderen Stadtteile trugen. Schnell und unaufhaltsam eilte es in die Hinterhäuser, die Treppen herauf, in die Wohnungen der Arbeiter, der Bürger.
„Wisst ihr schon... habt ihr schon gehört... ? In der roten Gasse hat die Polizei einen Menschen — mitten ins Gesicht geschossen... er ist tot , . .!"
Aus den Häusern kamen sie heraus, liefen auf der Straße zu irgend einer Gruppe von Männern und Frauen, die um einen Arbeiter standen, der erzählte wie es gekommen war. — In den Arbeiterkneipen war es nicht mehr so ruhig wie in den Vormittagsstunden. Es gab kaum einen Menschen, der nicht selbst gesehen hätte, dass die Polizei heute am 1. Mai zum Feind der Bevölkerung in den Arbeitervierteln geworden war. Eine gefährliche, flackernde Unruhe lag in den Gesichtern der Menschen, die sich fast Kopf an Kopf langsam durch die Straßen um den Nettelbeckplatz herum bewegten. Über eine Stunde nach dem tödlichen Schuss war in der unmittelbaren Nähe der Gasse kein Polizist zu sehen.
Immer mehr Leute kamen in die Kösliner Straße und sahen sich die Häuser an, an denen die weißen, kreisrunden Einschüsse der Polizisten auf den dunklen Mauern leuchteten.
Das Fenster im 3. Stock war geschlossen. Hunderte standen unten auf der Straße und schauten hinauf. Unmittelbar über dem verschlossenen Fenster wehte eine rote Fahne. Als sie sich im Winde schwerfällig und langsam blähte und nach der Seite zu hochhob, zeigte jemand mit der Hand nach oben. Man sah jetzt von unten deutlich gegen den Himmel vier kleine kreisrunde Löcher in dem Fahnentuch. —
Vor dem Schlächter an der Ecke der Gasse gab es einen Menschenauflauf. Eine laute, unbekannte Stimme sprach dort zu den Arbeitern.
„Bravo... ", rief jemand aus der Menge.
„Janz recht hat er!"
Kurt kam mit Anna, die er nach dem Abzug der Polizei auf der Straße wieder getroffen hatte, aus der „Roten Nachtigall" und sah flüchtig zu der Gruppe hinüber. Vergebens hatte er Paul und Thomas gesucht, um mit ihnen die Lage zu besprechen. Er war sich darüber im Klaren, dass von Viertelstunde zu Viertelstunde die Situation für die Straße gefährlicher wurde. Jeden Augenblick konnte die Polizei wiederkommen und dafür, was dann geschehen würde konnte kein Mensch mehr garantieren. Sie mussten unter allen Umständen versuchen, die Führung über die erregten Massen in der Hand zu behalten.
„Da spricht doch einer", sagte Anna zu ihm. Vor dem Schlächterladen lachten sie und klatschten Beifall. Dann hörte Kurt wieder die laute, scharfe Stimme sprechen. Er wurde jetzt aufmerksam.
„Wer is denn det... !?"
Er ging über den Damm zu der Gruppe, und drängte sich nach vorn durch. Auf der Stufe vor dem Laden, dessen Rolljalousien heruntergelassen waren, stand ein Mann mit einer schwarzen Lederjacke. Das ungesunde, aufgedunsene Gesicht des Redners war rot vor Aufregung, manchmal überschlug sich seine gequetschte, fette Stimme. — Komische Nudel, dachte Kurt. Er blieb stehen.... es wird nicht bei demeinen bleiben", schrie der Dicke in der Lederjacke, „und sollen wir mit Fäusten gegen die Pistolen und Maschinengewehre kämpfen?"
„Janz richtig", rief eine Frau.
„Gegen Waffen helfen nur Waffen."
„Bravo... "
Zum erstenmal war laut und offen dieses gefährlich aufreizende Wort gefallen und es fand einen gut vorbereiteten Boden. Eine erregte Diskussion brach los. Alles schrie durcheinander. Ja — recht hat er... niederschießen muss man diese Arbeitermörder! Genau so, wie sie uns runterknallen... das ist Notwehr, sollen wir warten, bis noch mehr auf dem Pflaster liegen... ?! — Kurt drückte sich langsam immer mehr nach vorn.
„Genossen... ", schrie der Dicke und zeigte mit der Hand über die Köpfe hinweg, „da drüben in der Uferwache gibt's genug Waffen und Munition... Los, her mit dem Zeug!!"
Kurt stieß in dem Beifallsgeheul die vor ihm Stehenden beiseite und packte den Dicken an der Lederjacke.
„Wat willste denn von dem... er hat doch janz recht", rief ihm eine Frau zu. Der Dicke war blass geworden und versuchte nach der Seite hin fortzukommen.
„Halt... hier geblieben!... Wer bist du'n... wat? Wo kommst du her — —?"
Der Mann versuchte vergebens, sich aus dem festen Griff Kurts zu befreien.
Mensch... lass ma doch los... ", keuchte er, „man wird doch seine Meinung sagen können, wat Leute?... Ick bin ooch bloß een Arbeiter!" Er fing auf einmal an wie ein Prolet im Berliner Dialekt zu sprechen.
„Wat — ein Arbeiter bis'de", sagte Kurt laut, dass ihn alle hören konnten, „zeig' mal deine Flossen her!"
Ein paar Kinder liefen über den Damm und schrien: „Da hab'n se einen jeschnappt." Kurt riss dem Dicken die Hände hinter dem Rücken hervor, hielt sie um das Handgelenk fest und sah sich ruhig und sorgfältig die fetten, rosigen Finger, mit den sauberen, gepflegten Nägeln an. Ein Arbeiter, der daneben stand, riet: „Damit arbeits'te wohl bei deine Olle im Bett?" Einige lachten.
„Verfluchter Provokateur... " brüllte Kurt, „hierher kommen und de Arbeiter aufhetzen, wat du Aas!" In demselben Augenblick flog der Dicke mit einem dumpfen Krachen gegen die Rolljalousie, die Mütze rutschte ihm komisch auf die Seite.
„Achtung... der Hund will schießen!" Der Spitzel hatte in die hintere Hosentasche gefasst. Mit einem Schmerzgeheul fiel sein rechter Arm herunter, Kurts zweiter Hieb hatte die Schulter getroffen. Jetzt griffen die anderen Arbeiter zu. Sie merkten, dass sie beinahe einem Provokateur auf den Leim gegangen waren.
„Los — rin in' Hausflur", rief einer.
„Schlagt det Schwein dot."
„Er darf nich wieder raus aus de Jasse."
Ein paar Meter neben dem Schlächterladen schlug die Haustür krachend zu. — Die Leute, die sich vor dem Haus zusammendrängten, wurden sofort durch einen jungen Arbeiter auseinander getrieben: „Genossen... geht weg! Es sind noch mehr Bullen in der Straße... , die Polizei wird sowieso jleich kommen."
Aus dem Hausflur hörte man dumpfes Klatschen und Schreien des ertappten Spitzels. — Kurze Zeit später konnte sich in der „Roten Nachtigall" ein junger, unbekannter Arbeiter, der sich durch irgendetwas auffällig gemacht hatte, nur im letzten Augenblick vor einem ähnlichen Schicksal retten. Unter den anwesenden Roten Frontkämpfern kannte ihn zufällig jemand, der mit ihm zusammen in demselben Betrieb arbeitete. Man war jetzt sehr misstrauisch gegen fremde Gesichter geworden. Zu viele so genannte „Zivilaufklärer" trieben sich unter den Arbeitern in der Umgebung der Gasse herum, und nicht alle Achtgroschenjungs waren so ungeschickt, wie der Dicke vor dem Schlächterladen.
Um drei Uhr tönte aus der Wiesenstraße der laute Gesang eines starken Demonstrationszuges, der unter Führung eines jungen Kommunisten in die Kösliner Straße einbog. — Alles lief die Gasse herunter, dem Zug entgegen. Wieder flogen die Fenster auf, wieder schrien sie „Rot Front" herunter und winkten mit den Fahnen. In militärisch geschlossenen Reihen marschierte der Zug, dem sich mit jedem Schritt mehr Arbeiter und Frauen anschlossen, durch die Gasse.
Anna lief neben dem Zug her. Es war seltsam, dachte sie, wie die Demonstration sofort die Gesichter der Leute in der Gasse veränderte. Die erregte Unruhe war verschwunden. Sie fühlten es mit einem Male selbst, dass sie das gleichmäßige, eingegliederte Schulter-an-Schulter-Gehen als eine neue, selbstbewusste Kraft durchströmte.
. Zum ersten Male in ihrem Leben spürte Anna, als sie mit den Tausenden durch die Gasse zog, wie ein starkes, reines Fluten in ihrem Herzen hochstieg, bis in die brennenden Augen. Und diesmal war es ein tiefes, inneres Glücksempfinden, was sie leise schwindlig machte. Daher — dachte sie — kommt wohl das plötzlich Helle in die grauen Gesichter. Und sie freute sich, dass sie es vielleicht jetzt auch hatte...
Sie hatte nicht gemerkt, dass der Zug schon in der Reinickendorfer Straße war und jetzt wieder in die Wiesenstraße zurückkehrte. Erst als der Gesang plötzlich abbrach und die Leute um sie herum anfingen zu rufen, zu pfeifen, und „Nieder mit den Arbeitermördern" schrien, sah sie kurz vor dem Zug das Blinken der Polizeitschakos! —
Die Angst packte sie, aber nicht um sich — um die anderen, um alle, um die Genossen, die anfingen, Steine hochzuheben. Jemand schrie: „Stehen... bleiben ... Genossen!"
Sie wurde mit den anderen nach vorn gestoßen. Das Helle, Ruhige aus den aschfarbenen Gesichtern war fort. Aus einem Fenster schrie eine kreischende, durchdringende Weiberstimme: „Bl u . . t... hun . . de . .!!"
Wie ein zerrissener Wind flackerte der gellende Schrei über den Köpfen der Masse. Aus der Reinickendorfer Straße, hinter ihnen, tönte das lang gezogene Signal eines Überfallwagens. Irgendwo aus weiter Ferne hörte sie eine dünne, messerscharfe Stimme: „—es wird — geschossen!!"
Der junge Mensch vor ihr drehte sich um. Vor ihren Augen tanzte der rote Fleck in seinem Knopfloch. Er wurde immer größer. Ein sich rasend drehender, roter Kreis...
Peng... peng... peng... ! Das Schnellfeuer der Polizeipistolen krachte mitten hinein in den Menschenhaufen.
„A — — ach!" Der Arbeiter vor ihr schlug plötzlich die Hände gegen seinen Bauch und fiel mit einem kurzen, leisen Laut zusammen. Wenige Meter dahinter tauchte das hysterisch weiße Gesicht eines Polizisten auf. Ein Stein zerriss die glatte, bartlose Haut, der Tschako flog hinten weg. Komisch — was für helles Haar der über dem blutenden Gesicht hat , . .! Dann wusste Anna nichts mehr.
Ü ber sie hinweg stürmten die Polizisten. Kugeln und Gummiknüppel rasierten den Damm. Hinter ihnen lagen mitten auf der leeren Straße dunkle, zusammengekrümmte Menschenbündel, die Gesichter auf den Steinen. Unter dem Bauch des jungen Menschen sickerte ein dünner, hellroter Streifen in den bleigrauen Schmutz. Ein paar Schritte weiter starrte das fahlgraue, unrasierte Gesicht eines Mannes, mit aufgerissenen weißen Augen in den blauen Himmel. Vor dem offenen schwarzen Mund zerplatzten schaumige, rote Blasen. Das stumpfe Bleigeschoß hatte ihm durch den Rücken hindurch die Lunge zerfetzt, Jemand versuchte mit einer zerschossenen Kniescheibe nach der Seite zu kriechen. Ein Kind lief ziellos und schreiend mit einer anscheinend gebrochenen, herabhängenden Hand über den Damm. Aus einem Hausflur schrie jemand nach den Sanitätern.
Vier, fünf junge Arbeiter gingen zu den Verwundeten, hoben sie vorsichtig hoch und trugen sie in ein Haus. Das farblose Gesicht des einen mit dem gurgelnden, blutenden Mund hing pendelnd nach hinten herunter. — Auf der leeren Straße standen drei dunkle, kleine Pfützen...
In der Gasse rannten die Polizisten an den schnell verrammelten und verschlossenen Toreinfahrten vorüber. Wie das wütende Kläffen tobsüchtiger Hunde, bellten die Schüsse zwischen den hohen Mauern. — Der Feind war unsichtbar, die Straße leer... hinter den dunklen Fensterscheiben saß der verhasste, gefährliche Gegner.
— Die angstverzerrten Gesichter unter den Tschakos flogen erregt herum. Vor ihnen — hinter ihnen — über ihnen — da hockte der Feind, die Gefahr — da lauern die Roten — Hunderte — Tausende
— die ganze Gasse ist voll, die ganze Stadt...
Peng... peng... ! Die zitternden Finger zuckten von selbst in dem Abzugsring der Pistolen. Das knallt und macht stark und sicher. Solange geschossen wird, sind die grauen Gesichter der Feinde verschwunden. Nur die Fahnen sind da — die verfluchten, verhassten roten Fetzen!
„Runter mit den Lappen... !" schrie ein Offizier. Schnellfeuer auf die Fahnen. Eine zersplitterte Stange knickte nach vorn über. Wie ein in den Leib geschossener Mensch hing sie an der Mauer.
„Weg die Fahnen vom Fenster". Glas schepperte, Mörtelstücke spritzten in die Luft. Plötzlich — ein hundertstimmiger Wutschrei. Eine große Fahne war aus dem 4. Stock auf die Straße gefallen. Der junge Polizist, der sie schnell aufgenommen hatte und zu zerreißen begann, griff aufschreiend an den Hinterkopf. Ein scharfkantiger Stein hatte ihn getroffen. —
Die Bewohner zogen die zerlöcherten, roten Fahnen in die Fenster hinein, sie sollten nicht in die Hände der blauen Teufel da unten fallen. Nur über dem Hauseingang Nr. 3 leuchtete immer noch im 1. Stock ein kleiner roter Fetzen.
„Runter den Lappen!"
„Fahne weg . , .!"
Vier, fünf überschrieen sich gegenseitig. Die Fensterscheiben zerklirrten auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Aber der rote Fleck verschwand nicht von der grauen Wand. Ein leiser Wind hob das kleine viereckige Tuch und blähte es groß und dick auf, als wenn es sich lustig machen wollte über die ohnmächtigen Bleispritzer.
Und auf einmal passierte etwas völlig unerwartetes. Etwas, das für die Polizisten unheimlicher und gefährlicher als alles andere war. — Eine Frau hatte gelacht! Von irgend woher hatte, wie aus der Luft, eine Frau laut gelacht. Ein kurzes, schallendes Auflachen, aus einer siegesbewussten aufreizenden Kraft heraus. — Wie ein Vogel hing der helle Laut einen Moment über den erschreckten Köpfen der Polizisten in der Luft und war plötzlich, irgendwo verklingend, verschwunden.
Die ganze Straße hatte es gehört und das Echo sprang gegen die Mauern, kletterte in den Höfen die Wände hoch, lief hurtig in die Stuben und Keller und auf einmal wurden die farblosen Gesichter der Proleten wieder hell und stark ... Schießt doch... schießt, schießt, mordet, tötet... Was wollt ihr eigentlich töten? Könnt ihr unsere Elendswohnungen totschießen... unseren Hunger... unsere Krankheiten... unsere Arbeitslosigkeit? Ihr Arbeitermörder! Es lebe, es lebe, was ihr mit Pistolen und Kanonen n i e totschießen könnt: es lebe der Sieg der Weltrevolution! !
Nur die Gesichter der jungen Polizisten wurden blass. Vor dieser unbekannten, unsichtbaren Frau, die gelacht hatte, kroch ihnen eine feige, lähmende Angst hoch, und dann — schossen sie wieder los, sinnlos wütend gegen die Wände, in die dunklen Fenster, durch die verriegelten Tore der Häuser...
In Nr. 3, über dessen Tür immer noch die kleine Fahne wehte, durchschlug die platte Bleikugel durch das Haustor hindurch den Lederriemen des Arbeiters Albert Heider , und riss ein Loch so groß wie eine Faust in seinen Bauch. — Er lag hinter der großen, dunklen Tür, die Beine an den Leib gezogen, aus dem das Gedärm als ein rosafarbener, fetter Gallertklumpen heraushing...
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