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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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III. Eine tägliche Geschichte mit unerwartetem Ausgang

An demselben Morgen klopfte Punkt 10 Uhr ein kleiner, rundlicher Herr mit einer schwarzen Ledertasche unter dem Arm, in dem Hause Nr. 3, Quergebäude, 4 Treppen, an die Tür. Alles blieb still. Noch einmal klopfte er hart und laut.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenflurs öffnete sich einen Spalt breit die Tür und eine alte Frau blickte misstrauisch durch die schmale Öffnung auf den Herrn mit der Aktentasche.
„Wat woll'n Se denn von die... ?"
Der kleine rundliche Herr drehte sich um. „Wissen Sie vielleicht, ob Frau Krüger fortgegangen ist?"
Die Alte sah den Herrn wortlos von oben bis unten an und schmiss mit einem wütenden Knall die Tür zu. Er zuckte nervös zusammen. „Unangenehme Menschen hier . . ", murmelte er verletzt und wandte sich auf dem halbdunklen, schmutzigen Treppenflur wieder der verschlossenen Tür zu.
An dem schmalen Seitenpfosten des Türrahmens klebte ein kleiner, weißer, mit Schreibmaschinenschrift beschriebener Zettel und einem großen runden Stempel rechts unten. Der rundliche Herr klopfte jetzt noch einmal sehr laut und bestimmt.
Nichts rührte sich hinter der Tür.
„Frau Krüger, wenn Sie nicht freiwillig aufmachen, muss ich das Schloss öffnen lassen", rief er und beugte sich dabei etwas herunter, um seinen Mund in die Nähe des Schlüsselloches zu bringen.
In der Wohnung hinter der Tür fing ein kleines Kind an zu weinen. Unten knarrte eine Tür, und jemand kam langsam herauf. Ein Arbeiter bog auf dem Treppenabsatz um die Ecke. Als er den Dicken vor der Tür sah, blieb er stehen.
„Ach so... Sie sind det! Machen Se hier nich so'n Krach, meine Frau is krank!", sagte er mürrisch und ging wieder nach unten. Der Herr hörte, dass er jetzt schnell die drei Treppen herunterlief und über den Hof rannte. —
Dem Dicken wurde immer ungemütlicher zumute. Wenn er nur erst ohne Gewalt in die Wohnung käme! Das sah gleich so gefährlich aus, die Tür aufbrechen. Mein Gott, man war doch auch nur ein Beamter, der machen musste, was ihm gesagt wurde! Er fühlte plötzlich in der Aktentasche das Frühstückspaket, das ihm seine Frau jeden Morgen sorgfältig einwickelte, damit es nicht auf die Akten durchfettete.
Vorsichtig sprach er durch das Schlüsselloch: Nun machen Sie schon auf, Frau Krüger, dann werden wir ja weiter sehen!"
Die Tür wurde, ohne dass er einen Schritt gehört hätte, so heftig aufgerissen, dass er erschreckt aus seiner gebückten Haltung zurückwich.
„Wat woll'n Se von mir... Se kommen hier nich rin... hol'n Se man jleich die Polizei!!"
In dem dunklen, engen Wohnungsflur stand eine junge Frau. Auf dem Arm trug sie in einer braunen, zerrissenen Decke ein weinendes, kleines Kind. In ihrer Angst schrie die Frau mit einer derart gellenden Stimme, dass es bis weit über den Hof zu hören war.
Na — so was kennen wir schon, dachte der Dicke. Nachdem er sah, dass sich die Frau allein in der Wohnung befand, hatte er sich schnell wieder gefasst. Geschickt stellte er ein Bein zwischen die Tür und schob mit seiner massiven Breite die kleine, blasse Frau beiseite.
„Frau Krüger, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich keiner Widersetzung der Staatsgewalt schuldig machen dürfen... " Trotzdem die vor Angst und Erregung fast besinnungslose Frau überhaupt nicht hörte, was er sagte, sprach er in einem festen, mahnenden Amtston weiter: Da Sie trotz wiederholter Aufforderung, die rückständige Miete in Höhe von 47 Mark nicht bezahlt haben, und das Wohlfahrtsamt es ablehnt, Ihnen noch neben der laufenden Unterstützung in Höhe von 8 Mark wöchentlich die Miete zu bezahlen, sind Sie angewiesen worden, die Wohnung bis heute Vormittag 10 Uhr zu räumen. Da Sie dieser Aufforderung nicht nachgekommen sind, muss ich die Zwangsräumung gegen Sie durchführen. Packen Sie sofort Ihre Sachen zusammen, unten steht der Wagan, der Ihre Möbel zum Speicher bringen wird, ich habe nicht viel Zeit!"
Er drehte sich, ohne die Frau weiter zu beachten, um und stieß mit dem Fuß die Tür zu der einzigen Stube, die die Wohnung hatte, zurück. Na, hier gab es wenigstens nicht viel auszuräumen! Merkwürdig, dachte der Dicke, und sah sich in der kahlen Stube um, von außen machen die Häuser noch einen verhältnismäßig anständigen Eindruck. Man sollte gar nicht meinen, dass so ein Elend hier wohnt. Die Menschen haben ja nicht einmal ein Bett! Blos Kinder, mehr als zu fressen.
Ein leises Wimmern erregte seine Aufmerksamkeit. Auf der alten Matratze, die mitten auf dem Boden stand — wahrscheinlich die Schlafgelegenheit für die ganze Familie — lag ein kleines, in eine alte Decke gehülltes, blondes Mädchen. Geradezu unnatürlich sahen die weit hervorgetretenen Backenknochen in dem eingefallenen farblosen Gesicht aus. Auf dem fast fleischlosen dünnen Hals lag der Kehlkopf wie ein Knorpel unter der blutleeren Haut.
„Entsetzlich, dass so etwas überhaupt noch lebt!", flüsterte der Dicke mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln. Er war wirklich von diesem Anblick unangenehm berührt. Ach... , es gab schon ein Elend! Dann ging er zum Fenster, um seine Möbelträger vom Hof heraufzurufen. Er wollte die Räumung so schnell wie möglich hinter sich haben. Er öffnete das Fenster und beugte sich hinaus.
Was war denn da los-------?!
Er sah erstaunt, dass sich das Bild auf dem Hof ziemlich verändert hatte Der vorher menschenleere Hof war voll erregt sprechender Frauen, die heftig auf die drei, mitten unter ihnen stehenden, Transportarbeiter einredeten. Es hatte nicht den Anschein, als wenn sich die Arbeiter so sehr im Gegensatz zu den Weibern befanden. Fast alle Fenster waren von rufenden und schimpfenden Bewohnern besetzt.
„Da ist ja der Kerl!"
Hunderte Gesichter sahen zu ihm herauf.
„Raus mit dem Lump... weg vom Fenster... Büttel... Strolch!"
„Soll sich schämen, solchen Auftrag anzunehmen!"
Erschrocken trat er vom Fenster zurück. Mein Gott, das ganze Haus war ja in Aufruhr — —! Was wollten die Leute bloß von ihm?! Vielleicht wäre es doch besser gewesen, er hätte Polizei mitgenommen, das hatte man von seiner Gutmütigkeit!
Er sah sich unentschlossen um. Das kranke Kind wimmerte immer noch leise vor sich hin. Es musste hohes Fieber haben, war vielleicht gar nicht bei Bewusstsein...
„Schmeißt den Büttel rrraus!"
Er zuckte zusammen. Ganz deutlich hatte er diese kreischende, lang gezogene Weiberstimme gehört. Unwillkürlich duckte er sich und sah erschrocken zum Fenster. Vielleicht warfen sie noch mit Steinen herein... ?! Wenn er nur erst hier heraus wäre. Aber es war doch unmöglich, jetzt über den Hof mit den gewalttätigen Menschen zu gehen... !
Er hörte, wie Schritte die Treppe heraufkommen.
„Jetzt kommen sie!" flüsterte er tonlos.
Die Schritte kamen immer näher. Viele drängende, drohende Schritte... Jemand ging durch den Wohnungsflur, in dem immer noch die jammernde Frau mit ihrem Kind stand.
Eine Hefe, ruhige Männerstimme sagte: „Nanu, man nich so'ne Angst, Frau Krüger ... , so, lassen Se uns mal durch."
Die Tür ging auf. Der Dicke stand zitternd, mit der unter den Arm gepressten Aktenmappe, am Fenster. An der Schlagader brannte auf dem kurzen wulstigen Hals ein großer roter Fleck. Der Mund stand halb offen vor Erregung.
In das Zimmer schob sich die breite Gestalt eines Arbeiters, der Mitte der Dreißiger sein mochte, obwohl man, als er mit einer langsamen Bewegung die Mütze zurückschob, sah, dass er schon graues Haar hatte. Das aschfarbene, ernste Gesicht des Arbeiters blickte zu dem kranken Mädchen herüber. Irgendetwas arbeitete in seinem regungslosen Gesicht. Seine schmalen Lippen wurden noch dünner. Hinter ihm traten die Arbeiter des Gerichtsvollziehers in ihren blauen Arbeitsblusen in die Stube.
Etwas an dem stillen, ernsten Arbeiter beruhigte den Dicken. Der Mann schien eine gewisse Autorität zu haben. . Mit einer halben, schiefen Verbeugung ging er einen Schritt auf ihn zu.
„Bendovsky ist mein Name . Bendovsky", wiederholte er noch einmal höflich, indem er seinen schwarzen steifen Hut abnahm und sofort eifrig weiter redete. „Sehen Sie Herr... , es tut mir ja selbst unendlich leid . . wenn man das Kind da sieht... nein... furchtbar, nicht wahr... diese Not heute?! Aber bitte, überzeugen Sie sich selbst, ob ich da... ", er kramte aufgeregt in seiner Aktentasche und zog ein Schriftstück heraus.
Der Arbeiter schnitt 'hm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab „Is gut . . , Sie müssen wissen, was Sie tun... wer Aufträge von Schurken annimmt, ist selbst nicht weit davon ab!" Er sagte das ganz ruhig, ohne den Dicker auch nur dabei anzusehen und wandte sich dann an die Arbeiter hinter ihm;
„Aber ihr... , ihr seid Proleten wie wir. Weil ihr selber nichts habt, will man euch mit ein paar lumpigen Groschen zu Bütteln eurer eigenen Klassengenossen machen. Seht euch das mal an hier! Der Mann ist seit zwei Jahren arbeitslos, weil er lungenkrank is, deshalb kriegt er auch keine Erwerbslosenunterstützung f)et Mädel da, is seit ein Jahr schwindsüchtig. Im Monat kriegen die Vier hier drin 32 Mark von der Wohlfahrt und ne Flasche Lysol von der Lungenfürsorge Vor zwei Monaten nahen sie den Mann det Lysol aus dem Magen gepumpt, seitdem is es ganz aus mit dem. In de Markthalle versucht er ein paar Pfenn'je zu verdienen. Det Loch hier kost' im Monat 25 Mark Miete, bleiben 7 Mark zum Leben im Monat, einschließlich Lustbarkeit und Sommerreise — so, und wenn ihr jetzt noch den Mut habt, die paar Klamotten hier rauszutragen und det kranke Kind auf de Straße zu setzen, dann fangt man an!" Er drehte sich um und ging, ohne noch weiter jemand anzusehen aus der Stube. —
Einen Augenblick war es still. Der Dicke sah misstrauisch, mit einem schräg lauernden Blick zu den drei schweigenden Arbeitern herüber. Der eine hob plötzlich sein Gesicht und sagte ganz laut: „Nee... ick nich! Da müssten wir ja Lumpen sein!... Machen Se sich denn det mal alleene. Herr... "
Die beiden anderen nickten nur mit dem Kopf, sahen noch einmal das jetzt merkwürdig still gewordene Kind an, und verschwanden in dem dunklen Flur. —
Der Dicke stand wieder allein im Zimmer mit dem Kind. Er war so hilflos, so ohne jeden Ausweg, dass ihm das Ungeheuerliche dieser völlig überraschenden Arbeitsverweigerung noch gar nicht richtig klar war. Das war doch einfach unmöglich . . so was gab es doch nicht?! Die Leute waren dafür bestellt, bekamen ihr gutes Geld... und jetzt wollen die nicht-------?!
Der Gerichtsvollzieher Bendovsky war ein viel zu praktischer Mensch, um sich lange mit unangenehmen, unklaren Empfindungen aufzuhalten. Er stülpte seinen schwarzen steifen Hut, den er immer noch in der Hand hielt, entschlossen auf den roten, blanken Kopf und lief auf den Flur, um den Arbeiter, der vorhin in der Stube gesprochen hatte, zu suchen.
Ach... , Herr... Herr... , entschuldigen Sie bitte... ich weiß nicht Ihren werten Namen... , würden Sie so liebenswürdig sein, und dafür sorgen, dass ich unbehelligt das Haus verlassen kann?"
Er übersprudelte sich fast vor Höflichkeit, „Vielleicht könnte ich mit Ihnen noch ein paar Minuten über die anderen Exmissionen, die ich hier noch in der Straße habe, sprechen... wie soll ich denn das jetzt alles machen?!" Dabei zog er einen ganzen Stoß von Zwangsvollstreckungsvollmachten aus der Aktentasche.
Sie brauchen keine Angst zu haben!" sagte der Arbeiter ruhig Es wird Sie niemand anfassen." Er tat absichtlich so als wenn er die Sache mit den anderen Exmissionen, von denen der Dicke in seiner Aufregung erzählte, nicht gehört hätte. — „Die haben ja noch allerhand mit uns vor... ", dachte er und pfiff leise durch die Zähne. —
Die Frauen auf der Treppe empfingen die drei Arbeiter mit lauten Bravo-Rufen. Aus einer Tür brachte eine Frau einen Topf heißen Kaffee und drei dicke, belegte Stullen. Alles lachte und erzählte durcheinander. Die erregte Stimmung war auf einmal in eine laute Fröhlichkeit umgeschlagen.
Zum ersten Mal hatte die Straße — vorläufig wenigstens — durch die Solidarität der drei Arbeiter einen Sieg über diese Exmissionsbüttel davongetragen. Sie erzählten, dass sie als Arbeitslose durch die Gewerkschaft zu dieser Arbeit, von der sie keine Ahnung gehabt hatten, vermittelt worden waren.
Einer schob ihnen ein paar Zigaretten in die Taschen. Schließlich waren die Drei auch arbeitslos und man verstand, dass es nicht ganz leicht war, auf die paar Mark Lohn zu verzichten Unter Umständen würde ihnen noch wegen „Arbeitsverweigerung" die Erwerbslosenunterstützung gesperrt. Kriegen die alles fertig! — Außerdem hatte die ganze Geschichte noch für viele, die auf der Treppe standen, eine besondere Bedeutung. Es gab mehr als einen darunter, der seit Tagen die Räumungsklage in der Küche auf dem Tisch liegen hatte. Jetzt musste man das gemeinsam organisieren.
„Da ist er... !" Eine Frau zeigte nach oben, wo der Dicke mit einem ängstlichen Gesicht auf dem Treppenabsatz stand und sich anscheinend nicht so recht traute, auf der dicht gefüllten Treppe herunterzugehen.
Sowie er sichtbar wurde, brach sofort wieder die Erregung los, Drohungen wurden laut.
„Genossen, keine Dummheiten machen... ruhig herausgehen lassen!" Der breitschultrige Arbeiter stand hinter dem Dicken. Die Arbeiterfrauen traten zur Seite. Unter eisigem Schweigen ging der Dicke, die Aktentasche fest an sich gepresst, ohne hochzuschen, schnell die Treppen herunter. Seine Furcht wäre wohl noch größer gewesen, wenn er die Augen gesehen hätte, die ihm nachgaben. Nur als er mit seinen kurzen schnellen Schritten über den Hof eilte, klatschte dicht hinter ihm ein alter verwelkter Blumentopf auf die Steine. Im Hausflur pfiffen ihm Kinder auf den Fingern nach.
Erst auf dem Nettelbeckplatz, als er die Tschako der Polizisten blitzen sah, wich die entsetzliche Angst von ihm. Er merkte auf einmal, dass er förmlich rannte. Furchtbar... wenn ihn jemand so gesehen hätte! —
Wie ein Kranker ging er nach Hause. Das Frühstückpaket in seiner Aktentasche blieb zum ersten Male unberührt...

In dem Haus Nr. 3 ging der breitschultrige Arbeiter mit den grauen Haaren über dem jungen Gesicht, langsam die Treppe zu seiner Wohnung herauf. Er war sehr nachdenklich geworden. An der Tür, hinter der er verschwand, stand auf einem alten brüchigen Emailleschild: Hermann Süderupp, Es war der politische Leiter der kommunistischen Straßenzelle...

 

 

 

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