IV. Major 5. hisst die weiße Fahne
  Mit einem hohlen Krach fiel die Litfasssäule quer über den Damm. Die  großen, gusseisernen Abwässerungsrohre, die für die Erdarbeiten in der  Pankstraße bereit lagen, wurden herangeholt. Balken und Bretter  polterten. 
    „Vorsicht — Genossen!!" 
    Bumms — der schwere  Bauwagen lag auf der Seite in dem Eingang der Gasse und streckte wie  ein großes träges Tier seine Räder hilflos in die Luft. Mit  zerspringenden Glasscherben stürzten die Gaskandelaber um. — — Hunderte  harte Hände packten zu. Beilpicken schlugen in das feste, graue  Asphalt. Sand flog von den Schippen und türmte sich zu unregelmäßigen  Haufen, die von den Weibern festgestampft wurden. In einer entfernten  Straße knallten Schüsse, sie beschleunigten nur das Tempo der Arbeit. 
    In einem schiefen Dreieck wuchsen langsam die behelfsmäßigen Barrikaden  vor der Roten Nachtigall". Sie riegelten die Weddingstraße, die Gasse  und den Eingang von der Pankstraße her ab. 
    Schon seit Tagen lag auf einem Hof eine alte, zerrissene Matratze. Zwei  Frauen brachten sie jetzt angeschleppt und warfen sie auf die  Barrikaden. Aus den Häusern wurden die eisernen Müllkästen geholt. Die  großen Kästen waren ein brauchbares Hindernis. Zwischen den Sandhaufen  und Balken kletterten die Arbeiter herum. Die Weiber halfen die  ausgerissenen Pflastersteine aufeinander schichten. — 
    Als zwei junge Arbeiter mit einer ausgehobenen Hoftür die Straße  herunterliefen, ging ein helles Lachen durch die Weiber und Männer. 
    „Jupp...  holste ooch noch de Bettstellen?!", rief ihnen eine junge Frau  nach. 
    „Sicher, denn wenn wir dein Bett nehmen, würden ja die Wanzen die ganze  Barrikade wegschleppen... !" 
    0ho, mein Bett ist prima, hat schon manchen Stoß vertragen, wenn ooch noch  keenen von der Polizei!" 
    Alles lachte und schrie durcheinander bei der Arbeit. Im Lauf-3chritt  wurden Kisten, alte Körbe, Stangen, Bretter und alles, was gerade zu  fassen war, herangeholt. Auf dem Damm ging eine alte Frau gebückt herum  und sammelte Steine in ihre Schürze. Das Fenster ihrer kleinen Wohnung  lag kurz vor der Barrikade. 
    Die Schüsse kamen näher. Thomas schickte eine kleine Abteilung junger  Arbeiter los, mit dem Auftrag, die Polizei solange wie irgend möglich  von der Gasse abzuhalten. — Er war nicht mehr so ruhig wie zuerst. Mehr  als einem Arbeiter hatte er schon die Waffe aus der Tasche holen  müssen! Es war jetzt nicht die Zeit, ihnen klar zu machen, dass die  Barrikaden nur zur Abwehr für die Polizeiautos bestimmt waren.  Barrikaden waren bei der jetziger. Bewaffnung der Polizei selbst in  einem regulären Straßenkampf kein besonderer Schutz oder gar eine  Angriffsstellung mehr. 
    „Hallo...  Thomas?" 
    „Wo ist Thomas?" 
    Er sah sich um. Auf der Barrikade standen die Arbeiter und riefen zu  ihm herüber. Schnell ging er zurück. Der Kurier stand mit dem Fahrrad  auf der anderen Seite, ließ, als er Thomas sah, das Rad fallen und  rannte zu ihm herüber. Sein junges Gesicht war schweißbedeckt. 
    „Thomas... ", sagte er leise, als er dicht vor ihm stand.. „vom Bahnhof  Wedding sind zwei Autos, mit einem Maschinengewehr auf dem ersten  Wagen, nach hier unterwegs!" 
    Thomas ließ ihn kaum aussprechen. Er drehte sich zu den Arbeitern  herum: „Genossen... Sofort alles in die Häuser . . Tore verschließen...  Die Abteilung hinten in die Rote Nachtigall"... niemand schießt...  Straße beobachten! Die Straße bleibt leer!" Ein paar junge Arbeiter  rannten durch die Gasse: „Alles in die Häuser... Türen schließen... !!" 
    Vom Nettelbeckplatz tönte das laute durchdringende Signal der  Polizeiwagen. Da war plötzlich wieder die Gefahr, die hellen Gesichter  wurden grau, wie der dunkle Schatten einer riesigen Pistolenmündung,  die in die Gasse gerichtet war ...  
    Eine junge Frau mit glatt nach hinten gestrichenem, blondem Haar riss  zwei kleine Kinder hoch, die in der Pfütze vor dem Brunnen spielten. 
    Aus dem ganzen Haus Nr. 6 hatte Anna die Kinder zusammengeholt und in  die verhältnismäßig sichere Stube eines Arbeiters, der direkt an der  Panke hinten auf dem zweiten Hof wohnte, gebracht. Jetzt lief sie auf  dem Damm herum, und nahm an Kindern, was sie fand. 
    „Junge — willst du wohl mitkommen, verdammter Bengel!", schrie sie den  zwölfjährigen Jungen von Hermann an, der sich schon den ganzen Tag  zwischen den Arbeitern in der Gasse herumgetrieben hatte. 
    Nee —, Frau Zimmermann, ick jehe nich in de Etappe", rief der Junge und  schlug mit seiner kleinen, schmutzigen Faust lachend auf die  Hosentasche, die prall von Steinen war. Er drückte sich zwischen den  Männern mit in die Rote Nachtigall". — 
    Die Türen waren noch nicht alle geschlossen, als das erste Polizeiauto  in voller Fahrt um die Ecke der Pankstraße bog Aufheulend rissen die  Bremsen den Wagen zurück. Schweigend und drohend lag knapp ein Meter  vor dem Auto — die Barrikade! Die Gasse dahinter war leer. Nur aus den  Fenstern hingen wieder die roten Fahnen und bewegten sich leise, fast  spielerisch im Winde. 
    Es war Totenstille Der Motor des Wagens surrte und sang gleichgültig  und monoton weiter. Aus ihren versteckten Ecken und Winkein sahen die  Arbeiter die nach vorn gerichteten Gesichter der Polizisten wie weiße,  helle Flecke auf dem Auto. — Der andere Wagen kam heran, und hielt  dicht hinter dem ersten. Wartend, verblüfft, ratlos, erschrocken...  
    Durch die Glasscheibe vor dem Führersitz des Wagens irrte der Blick des  Majors Beil über die Barrikade in die stumme, menschenleere Gasse... Es  dauerte Minuten, bis sein Gehirn damit fertig war, dass da vor ihm quer  über den Damm eine große, breite Barrikade lag. Und was — was war  hinter der Barrikade... !? 
    Er fühlte, wie die Hand in seinem Lederhandschuh feucht wurde vor  Schweiß Diese abwartende Stille war unerträglich. Warum schrie und  pfiff die Bande nicht in der Gasse wie sonst —?! 
    „Verfluchter Mist — ein netter Nachrichtendienst!" Er sprang von dem Auto.  „Wüllner . . !" „Herr Major?" 
    „Ich werde verhandeln — beim ersten Schuss oder wenn ich pfeife — stürmen  lassen!" 
    „Zu Befehl, Herr Major!" „Aufpassen, Wüllner, wo ich hingehe . . !" 
    Er drehte sich um und ging auf die Barrikade zu. Der Lederriemen seines  Tschakos lag wie ein dunkler Strich um das farblose Gesicht. In seiner  Hand wehte — ein weißes Taschentuch! 
    Hunderte unsichtbare Augen hingen an diesem weißen Fleck, der plötzlich  vor der Barrikade auftauchte. Eine List?... Kapitulation . .? 
    Neben der „Roten Nachtigall" öffnete sich die Haustür und Thomas trat  hervor. 
    Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber. Die graufleckige  Jacke des Proleten mit der roten, verknüllten Papiernelke und der  blaue, tadellose Waffenrock des Offiziers mit den silbernen  Achselstücken. Einer auf dieser, der andere jenseits der Barrikade.  Über ein schwarzes Eisenrohr hinweg sahen sie sich an. 
    „Sind Sie der Führer?" Die knappe, militärische Stimme des Majors war  nicht so aufreizend wie sonst. Er stand vorläufig hier nicht als Sieger. 
    „Wat wollen Sie . .?", antwortete Thomas kurz, ohne die Frage des  Offiziers zu beantworten. Der Major machte einen Schritt auf die  Barrikade zu. 
    „Halt . . bleiben Sie stehen!", rief ihm Thomas scharf zu. Er wusste,  dass sich der Offizier nur die Befestigung der Barrikade ansehen  wollte. Der Major blieb sofort stehen. „Wenn Sie sofort die Barrikade  räumen lassen, ziehe ich meine Leute solange zurück!" „Und stürmen  nachher die Straße, nicht wahr, Herr Major!" sagte Thomas höhnisch, „.  , . die Barrikade wird nicht eher geräumt, bis die Polizei aus dem  Wedding verschwunden ist und Sie uns die Garantie geben, det die  Arbeiter unjehindert demonstrieren können!" 
    „Bravo!" — Der Major drehte sich erschrocken um. Aus einem Fenster der  Straße hatte eine Frau gerufen. Er wandte sich wieder an Thomas und  sagte nervös: 
    „Ich garantiere Ihnen dafür, dass Sie ungestört hier alles abräumen  können." 
    „Sie kennen unsere Bedingungen, Herr Major!" — Die Tür neben der „Roten  Nachtigall" fiel mit einem Knall ins Schloss. Der Major stand allein  vor der Barrikade. 
    Er fühlte, dass jede Bewegung von ihm durch hunderte scharfe,  feindselige Augen beobachtet wurde. Er wusste, dass er hier der  Besiegte war — wie einen Schuljungen hatten sie ihn behandelt. Frech  und höhnisch hatte ihn dieses Weib aus dem Fenster vorhin angesehen,  ohne Furcht zu haben, dass er seine Pistole herausreißen und ihr eins  in die Fresse knallen könnte. . ! Er ging rasch zu dem Wagen zurück. 
    „Abfahren — zurück!" 
    In diesem Moment zerbrach die Stille der Gasse mit einem 
    gellenden und pfeifenden Johlen. Die Fenster flogen auf. 
    Haut ab — ihr Bluthunde!" 
    „Feiges Gesindel!" 
    „Rot Front!" 
    Die Gasse zersprang fast unter dem Schreien und Hohngelächter der  Männer und Frauen. Wie eine Rollsalve krepierender Granaten zerriss das  Brüllen und Lachen die Luft und schlug über den geduckten Köpfen der  Polizisten zusammen... 
    Das wütende, ohnmächtige Knattern der Motore wurde leiser. Sie waren  fort — abgezogen. Geschlagen, ohne einen Schuss, ohne einen Steinwurf.  Eine einzige, kümmerliche, behelfsmäßige Barrikade genügte, um ihnen  einen tödlichen Schreck einzujagen. Auf Widerstand waren sie nicht  vorbereitet gewesen. — 
    Nach wenigen Minuten war die Gasse wieder voll Menschen, die sofort  versuchten, die Barrikade zu verstärken. Es war sich niemand darüber im  Unklaren, dass die Polizei in kurzer Zeit wiederkommen und das  Hindernis mit Waffengewalt nehmen würde. Aber alle fühlten auch, dass  das eben ein Sieg der roten Gasse über die Polizei gewesen war... 
    Langsam fielen die Schatten der Dämmerung zwischen die Häuser. 
    In der Stube im zweiten Hof machte Anna mit Kissen und Decken auf dem  Fußboden ein notdürftiges Lager für die Kinder zurecht. Hermanns kleine  Heidi hockte still in einer Ecke und flüsterte zärtlich mit ihrer  Katze. Ohne „Purzel" wäre sie nicht hierher gekommen. 
    Sorgsam packte Anna die Kleinen dicht nebeneinander, deckte sie warm  und gut zu. Sie hatten sich müde gespielt und geweint. Ein kleines  fünfjähriges Mädchen aus dem Vorderhaus trug einen weißen Verband um  den Kopf. Das blasse, dünne Gesicht war mit einer feinen Fieberröte  überzogen. Am Nachmittag war es, als die Polizei in die Stuben schoss,  beim Spielen durch ein abspringendes Mörtelstück an der Stirn verletzt  worden. 
    Anna öffnete das zu ebener Erde liegende Fenster und sah auf das dunkle  Wasser der Panke, die ruhig und träge zwischen den dunklen Mauern  dahinfloß. — Hier hinten war es lautlos still. Die hohen Häuser fingen  den Lärm der Gasse auf. Am Ufer standen ein paar kümmerliche, kleine  Sträucher mit dem ersten zarten Grün junger Knospen Der Frühling kam  spät in diese sonnenlosen Mauerschluchten, in denen zwischen Schutt und  Schmutz Mensch und Natur um Licht und Leben rangen. 
    Sie spürte den weichen Abendwind in ihrem heißen Gesicht. Es ist ja  schon Mai, dachte sie... Draußen vor der Stadt, in den großen Gärten,  beginnt bald der Sommer. Dann würde es wieder schlecht riechen in den  Wohnungen. — Müde lehnte sie den Kopf an das Fensterkreuz. Die weiche,  warme Luft strich leise über ihre Schläfen, ihren Nacken, ihre Hände...  Vor dem Fenster plusterte sich ein Vogel im Sand, ein grauer,  zerrupfter Spatz. 
    Der starke Duft des Maiwindes, der sich auf einmal mit dem zähen üblen  Geruch des Wassers vermischte, machte sie unruhig. Es war ein schwerer  faulig-süßer Dunst, wie er manchmal über Efeu und Kreuzen lag und das  Herz eng und beklommen macht. — 
    Mit einem leisen Plumps sprang eine Ratte in das Wasser, und zog auf der  Oberfläche runde zitternde Ringe nach sich. 
    
    
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