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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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IV. Major 5. hisst die weiße Fahne

Mit einem hohlen Krach fiel die Litfasssäule quer über den Damm. Die großen, gusseisernen Abwässerungsrohre, die für die Erdarbeiten in der Pankstraße bereit lagen, wurden herangeholt. Balken und Bretter polterten.
„Vorsicht — Genossen!!"
Bumms — der schwere Bauwagen lag auf der Seite in dem Eingang der Gasse und streckte wie ein großes träges Tier seine Räder hilflos in die Luft. Mit zerspringenden Glasscherben stürzten die Gaskandelaber um. — — Hunderte harte Hände packten zu. Beilpicken schlugen in das feste, graue Asphalt. Sand flog von den Schippen und türmte sich zu unregelmäßigen Haufen, die von den Weibern festgestampft wurden. In einer entfernten Straße knallten Schüsse, sie beschleunigten nur das Tempo der Arbeit.
In einem schiefen Dreieck wuchsen langsam die behelfsmäßigen Barrikaden vor der Roten Nachtigall". Sie riegelten die Weddingstraße, die Gasse und den Eingang von der Pankstraße her ab.
Schon seit Tagen lag auf einem Hof eine alte, zerrissene Matratze. Zwei Frauen brachten sie jetzt angeschleppt und warfen sie auf die Barrikaden. Aus den Häusern wurden die eisernen Müllkästen geholt. Die großen Kästen waren ein brauchbares Hindernis. Zwischen den Sandhaufen und Balken kletterten die Arbeiter herum. Die Weiber halfen die ausgerissenen Pflastersteine aufeinander schichten. —
Als zwei junge Arbeiter mit einer ausgehobenen Hoftür die Straße herunterliefen, ging ein helles Lachen durch die Weiber und Männer.
„Jupp... holste ooch noch de Bettstellen?!", rief ihnen eine junge Frau nach.
„Sicher, denn wenn wir dein Bett nehmen, würden ja die Wanzen die ganze Barrikade wegschleppen... !"
0ho, mein Bett ist prima, hat schon manchen Stoß vertragen, wenn ooch noch keenen von der Polizei!"
Alles lachte und schrie durcheinander bei der Arbeit. Im Lauf-3chritt wurden Kisten, alte Körbe, Stangen, Bretter und alles, was gerade zu fassen war, herangeholt. Auf dem Damm ging eine alte Frau gebückt herum und sammelte Steine in ihre Schürze. Das Fenster ihrer kleinen Wohnung lag kurz vor der Barrikade.
Die Schüsse kamen näher. Thomas schickte eine kleine Abteilung junger Arbeiter los, mit dem Auftrag, die Polizei solange wie irgend möglich von der Gasse abzuhalten. — Er war nicht mehr so ruhig wie zuerst. Mehr als einem Arbeiter hatte er schon die Waffe aus der Tasche holen müssen! Es war jetzt nicht die Zeit, ihnen klar zu machen, dass die Barrikaden nur zur Abwehr für die Polizeiautos bestimmt waren. Barrikaden waren bei der jetziger. Bewaffnung der Polizei selbst in einem regulären Straßenkampf kein besonderer Schutz oder gar eine Angriffsstellung mehr.
„Hallo... Thomas?"
„Wo ist Thomas?"
Er sah sich um. Auf der Barrikade standen die Arbeiter und riefen zu ihm herüber. Schnell ging er zurück. Der Kurier stand mit dem Fahrrad auf der anderen Seite, ließ, als er Thomas sah, das Rad fallen und rannte zu ihm herüber. Sein junges Gesicht war schweißbedeckt.
„Thomas... ", sagte er leise, als er dicht vor ihm stand.. „vom Bahnhof Wedding sind zwei Autos, mit einem Maschinengewehr auf dem ersten Wagen, nach hier unterwegs!"
Thomas ließ ihn kaum aussprechen. Er drehte sich zu den Arbeitern herum: „Genossen... Sofort alles in die Häuser . . Tore verschließen... Die Abteilung hinten in die Rote Nachtigall"... niemand schießt... Straße beobachten! Die Straße bleibt leer!" Ein paar junge Arbeiter rannten durch die Gasse: „Alles in die Häuser... Türen schließen... !!"
Vom Nettelbeckplatz tönte das laute durchdringende Signal der Polizeiwagen. Da war plötzlich wieder die Gefahr, die hellen Gesichter wurden grau, wie der dunkle Schatten einer riesigen Pistolenmündung, die in die Gasse gerichtet war ...
Eine junge Frau mit glatt nach hinten gestrichenem, blondem Haar riss zwei kleine Kinder hoch, die in der Pfütze vor dem Brunnen spielten.
Aus dem ganzen Haus Nr. 6 hatte Anna die Kinder zusammengeholt und in die verhältnismäßig sichere Stube eines Arbeiters, der direkt an der Panke hinten auf dem zweiten Hof wohnte, gebracht. Jetzt lief sie auf dem Damm herum, und nahm an Kindern, was sie fand.
„Junge — willst du wohl mitkommen, verdammter Bengel!", schrie sie den zwölfjährigen Jungen von Hermann an, der sich schon den ganzen Tag zwischen den Arbeitern in der Gasse herumgetrieben hatte.
Nee —, Frau Zimmermann, ick jehe nich in de Etappe", rief der Junge und schlug mit seiner kleinen, schmutzigen Faust lachend auf die Hosentasche, die prall von Steinen war. Er drückte sich zwischen den Männern mit in die Rote Nachtigall". —
Die Türen waren noch nicht alle geschlossen, als das erste Polizeiauto in voller Fahrt um die Ecke der Pankstraße bog Aufheulend rissen die Bremsen den Wagen zurück. Schweigend und drohend lag knapp ein Meter vor dem Auto — die Barrikade! Die Gasse dahinter war leer. Nur aus den Fenstern hingen wieder die roten Fahnen und bewegten sich leise, fast spielerisch im Winde.
Es war Totenstille Der Motor des Wagens surrte und sang gleichgültig und monoton weiter. Aus ihren versteckten Ecken und Winkein sahen die Arbeiter die nach vorn gerichteten Gesichter der Polizisten wie weiße, helle Flecke auf dem Auto. — Der andere Wagen kam heran, und hielt dicht hinter dem ersten. Wartend, verblüfft, ratlos, erschrocken...
Durch die Glasscheibe vor dem Führersitz des Wagens irrte der Blick des Majors Beil über die Barrikade in die stumme, menschenleere Gasse... Es dauerte Minuten, bis sein Gehirn damit fertig war, dass da vor ihm quer über den Damm eine große, breite Barrikade lag. Und was — was war hinter der Barrikade... !?
Er fühlte, wie die Hand in seinem Lederhandschuh feucht wurde vor Schweiß Diese abwartende Stille war unerträglich. Warum schrie und pfiff die Bande nicht in der Gasse wie sonst —?!
„Verfluchter Mist — ein netter Nachrichtendienst!" Er sprang von dem Auto. „Wüllner . . !" „Herr Major?"
„Ich werde verhandeln — beim ersten Schuss oder wenn ich pfeife — stürmen lassen!"
„Zu Befehl, Herr Major!" „Aufpassen, Wüllner, wo ich hingehe . . !"
Er drehte sich um und ging auf die Barrikade zu. Der Lederriemen seines Tschakos lag wie ein dunkler Strich um das farblose Gesicht. In seiner Hand wehte — ein weißes Taschentuch!
Hunderte unsichtbare Augen hingen an diesem weißen Fleck, der plötzlich vor der Barrikade auftauchte. Eine List?... Kapitulation . .?
Neben der „Roten Nachtigall" öffnete sich die Haustür und Thomas trat hervor.
Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber. Die graufleckige Jacke des Proleten mit der roten, verknüllten Papiernelke und der blaue, tadellose Waffenrock des Offiziers mit den silbernen Achselstücken. Einer auf dieser, der andere jenseits der Barrikade. Über ein schwarzes Eisenrohr hinweg sahen sie sich an.
„Sind Sie der Führer?" Die knappe, militärische Stimme des Majors war nicht so aufreizend wie sonst. Er stand vorläufig hier nicht als Sieger.
„Wat wollen Sie . .?", antwortete Thomas kurz, ohne die Frage des Offiziers zu beantworten. Der Major machte einen Schritt auf die Barrikade zu.
„Halt . . bleiben Sie stehen!", rief ihm Thomas scharf zu. Er wusste, dass sich der Offizier nur die Befestigung der Barrikade ansehen wollte. Der Major blieb sofort stehen. „Wenn Sie sofort die Barrikade räumen lassen, ziehe ich meine Leute solange zurück!" „Und stürmen nachher die Straße, nicht wahr, Herr Major!" sagte Thomas höhnisch, „. , . die Barrikade wird nicht eher geräumt, bis die Polizei aus dem Wedding verschwunden ist und Sie uns die Garantie geben, det die Arbeiter unjehindert demonstrieren können!"
„Bravo!" — Der Major drehte sich erschrocken um. Aus einem Fenster der Straße hatte eine Frau gerufen. Er wandte sich wieder an Thomas und sagte nervös:
„Ich garantiere Ihnen dafür, dass Sie ungestört hier alles abräumen können."
„Sie kennen unsere Bedingungen, Herr Major!" — Die Tür neben der „Roten Nachtigall" fiel mit einem Knall ins Schloss. Der Major stand allein vor der Barrikade.
Er fühlte, dass jede Bewegung von ihm durch hunderte scharfe, feindselige Augen beobachtet wurde. Er wusste, dass er hier der Besiegte war — wie einen Schuljungen hatten sie ihn behandelt. Frech und höhnisch hatte ihn dieses Weib aus dem Fenster vorhin angesehen, ohne Furcht zu haben, dass er seine Pistole herausreißen und ihr eins in die Fresse knallen könnte. . ! Er ging rasch zu dem Wagen zurück.
„Abfahren — zurück!"
In diesem Moment zerbrach die Stille der Gasse mit einem
gellenden und pfeifenden Johlen. Die Fenster flogen auf.
Haut ab — ihr Bluthunde!"
„Feiges Gesindel!"
„Rot Front!"
Die Gasse zersprang fast unter dem Schreien und Hohngelächter der Männer und Frauen. Wie eine Rollsalve krepierender Granaten zerriss das Brüllen und Lachen die Luft und schlug über den geduckten Köpfen der Polizisten zusammen...
Das wütende, ohnmächtige Knattern der Motore wurde leiser. Sie waren fort — abgezogen. Geschlagen, ohne einen Schuss, ohne einen Steinwurf. Eine einzige, kümmerliche, behelfsmäßige Barrikade genügte, um ihnen einen tödlichen Schreck einzujagen. Auf Widerstand waren sie nicht vorbereitet gewesen. —
Nach wenigen Minuten war die Gasse wieder voll Menschen, die sofort versuchten, die Barrikade zu verstärken. Es war sich niemand darüber im Unklaren, dass die Polizei in kurzer Zeit wiederkommen und das Hindernis mit Waffengewalt nehmen würde. Aber alle fühlten auch, dass das eben ein Sieg der roten Gasse über die Polizei gewesen war...
Langsam fielen die Schatten der Dämmerung zwischen die Häuser.
In der Stube im zweiten Hof machte Anna mit Kissen und Decken auf dem Fußboden ein notdürftiges Lager für die Kinder zurecht. Hermanns kleine Heidi hockte still in einer Ecke und flüsterte zärtlich mit ihrer Katze. Ohne „Purzel" wäre sie nicht hierher gekommen.
Sorgsam packte Anna die Kleinen dicht nebeneinander, deckte sie warm und gut zu. Sie hatten sich müde gespielt und geweint. Ein kleines fünfjähriges Mädchen aus dem Vorderhaus trug einen weißen Verband um den Kopf. Das blasse, dünne Gesicht war mit einer feinen Fieberröte überzogen. Am Nachmittag war es, als die Polizei in die Stuben schoss, beim Spielen durch ein abspringendes Mörtelstück an der Stirn verletzt worden.
Anna öffnete das zu ebener Erde liegende Fenster und sah auf das dunkle Wasser der Panke, die ruhig und träge zwischen den dunklen Mauern dahinfloß. — Hier hinten war es lautlos still. Die hohen Häuser fingen den Lärm der Gasse auf. Am Ufer standen ein paar kümmerliche, kleine Sträucher mit dem ersten zarten Grün junger Knospen Der Frühling kam spät in diese sonnenlosen Mauerschluchten, in denen zwischen Schutt und Schmutz Mensch und Natur um Licht und Leben rangen.
Sie spürte den weichen Abendwind in ihrem heißen Gesicht. Es ist ja schon Mai, dachte sie... Draußen vor der Stadt, in den großen Gärten, beginnt bald der Sommer. Dann würde es wieder schlecht riechen in den Wohnungen. — Müde lehnte sie den Kopf an das Fensterkreuz. Die weiche, warme Luft strich leise über ihre Schläfen, ihren Nacken, ihre Hände... Vor dem Fenster plusterte sich ein Vogel im Sand, ein grauer, zerrupfter Spatz.
Der starke Duft des Maiwindes, der sich auf einmal mit dem zähen üblen Geruch des Wassers vermischte, machte sie unruhig. Es war ein schwerer faulig-süßer Dunst, wie er manchmal über Efeu und Kreuzen lag und das Herz eng und beklommen macht. —
Mit einem leisen Plumps sprang eine Ratte in das Wasser, und zog auf der Oberfläche runde zitternde Ringe nach sich.

 

 

 

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