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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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II. Die goldenen Kugeln der Nacht

Die Straße schlief. Das trübe, gelbe Licht der wenigen Gaslaternen machte die stille, menschenleere Gasse nur noch trostloser, einsamer. Die letzten Kneipen schlossen. Irgendwo ratterte polternd eine Rolljalousie herunter. Eine Katze lief erschreckt über den Damm und verschwand in einer zerbrochenen Kellerfensterscheibe. Dann war es wieder ruhig.
Von der Stadtbahnbrücke, am Nettelbeckplatz, trug der Nachtwind das hohle, lang gezogene Rollen der letzten Züge als ein fernes, gedämpftes Geräusch in die dunklen, schweigenden Höfe der Hinterhäuser. Hier und da leuchteten noch an den schwarzen,
eng ineinander geschobenen Mauerfronten Lichter hinter verhangenen Fenstern Eins nach dem anderen erlosch. In den dicht mit Menschen gedrängten Steinschluchten des Wedding wird es früh Nacht. Die Nächte der Arbeiter sind kurz.
Der einzige harte Laut kam von den genagelten Polizeistiefeln der Patrouillen, die in kurzen, regelmäßigen Abständen, ohne sich aufzuhalten, schnell durch die stille Straße gingen. Immer drei Mann.
Zwischen schwarzen Brandmauern und schmalen, tiefen Höfen, floss trübe und schmutzig die Panke vorbei. In den Abwässern der Fabriken — im Sommer badeten die Kinder darin — konnten sich nicht einmal die Sterne dieser wolkenlosen, kalten Aprilnacht spiegeln.
In den engen Stuben umspülte die stickige, verbrauchte Luft vieler Menschen in einem Raum die Gesichter der Schlafenden. Treppen, Flure, Stuben, Quer- und Hinterhäuser, das war alles unerträglich dicht zusammen. Kaum Wände und Luft dazwischen. Einer spürte den schweren, unruhigen Atem des anderen. Der Geruch der Menschen drang durch Wände, Spalten und Verschläge. Mieter, Untermieter, Schlafburschen und der Fluch dieser Gasse — die Kinder, von denen es kaum eins gab, das in einem eigenen Bett schlafen konnte.
Die kinderreichste und kinderelendeste Straße des großen, hungernden Berlin ... !
Auf den Treppenabsätzen kauerten in sich zusammengekrochene Menschenbündel. Obdachlose, die in dem nahe gelegenen Asyl keine Unterkunft mehr gefunden hatten. Man ließ sie. Auch diese Menschenbündel auf den Treppen schliefen und hatten ihre kurzen qualvollen Träume, ihre Ängste und Sehnsüchte...
Auf einem Hof zerriss der trockene, bellende Husten eines Schwindsüchtigen in kurzen Zwischenräumen die Stille. Im Quergebäude, vierter Stock, erlosch hinter einem roten Tuch am Fenster das Licht. In der schmalen Küche lag außer der alten Mutter Johannsen, die immer erst gegen Morgen einschlafen konnte, der junge Metallarbeiter, ein Schlafbursche. In der dumpfen stickigen Luft des kleinen Raumes, spürte er über sich den heißen Mund des Mädchens, das in dieser Nacht bei ihm schlief —. Hinter der Wand spielte ein Radio noch Tanzmusik.
Ein Fenster klirrte auf dem Hof. Eine Treppe tiefer schrie ein Betrunkener, und auf drei, vier Höfen, die ineinander gebaut waren, hörten es ein paar hundert Menschen: Franz ist wieder besoffen!
Zu eng ist das alles... der Mensch muss doch mal Luft haben... die Kreatur, die sich immer wieder an Menschen und Wänden kaputt stößt, muss doch mal... ein bisschen Luft haben!! Platz da! — Platz da! Willi, noch eenen Schnaps... Das löst den Klumpen da drin und macht alles weich, warm und hell. Und dann kommt Franz nach Hause und will alles entzwei schlagen —!
Menschen schliefen und träumten in dieser Nacht. Andere Träume als sie diejenigen haben, die in großen sauberen Schlafzimmern ruhen. Quälende, kurze Träume, beschattet von den Sorgen und Ängsten des Tages, verfolgt von dem starr abweisenden Gesicht des
Leihhausjuden, des Beamten im Wohlfahrtsamt, der Stempelbude, des Armenarztes, des Asylpförtners... Drohende, feindliche Gesichter, die als spukhaft, grotesk verzerrte Fratzen einer brutalen Wirklichkeit noch in bewusstlosen Nächten die Menschen in den Schweiß angstzerrissener Träume hetzen... Träume von immer schneller rasenden Fließbändern, von brüllenden, zermalmenden Dampfhämmern, vom nervenzerfetzenden Rhythmus der automatischen Stanzmaschinen, von stürzenden Betonmassen... Frauen, die im Schlaf aufschreien, weil ihr betrogener Körper nicht den wahnsinnigen Schmerz eines längst vernarbten, rohen Eingriffs vergessen kann. — Träume der Jungen, die das Leben noch nicht völlig ausgebrannt hat, von kümmerlichen, kleinbürgerlichen Sehnsüchten... eine weißgestrichene Wohnlaube mit großen gelben Sonnenblumen... eine Schaukel für die Mädchen am Sonntag... und rotglühende Papierlaternen für die Sommerabende im Garten... Kinder träumen von einem Paar neuer Stiefel, von dem warmen Ofen in der Schule und den Äpfeln unten bei der Obstfrau. Auf die weiße, warme Haut der Kinder fallen nachts die Wanzen von den fleckigen Tapeten...
Dröhnende Schläge an der Wohnungstür!
In drei, vier Stuben fasst das harte Pochen wie eine Faust in die Gehirne der Schlafenden. In die wenigen Sekunden der bewusstlosen Geräuschwahrnehmung bis zum bewussten Hören, pressen sich schreckhafte Träume. Von dem Gerichtsvollzieher, der exmittieren will, von der Polizei, die zur Haussuchung kommt, von dem Hausverwalter, der drohend die rückständige Miete verlangt...
Mit schweißnassem Gesicht zerflattert der Angstraum unter neuem Klopfen.
„Wer is da... ?!"
„Mach mal auf, Paul... , hab den Schlüssel vergessen."
Es ist nur der Schlafbursche. In drei, vier Stuben fallen die Menschen befreit in die Kissen zurück.
Tag, der die Nächte längst vergiftet hat!
In großen, hellen Räumen der Bourgeoisieviertel, vor deren offenen Fenstern die kühle, geheimnisvolle Nachtluft der Gärten liegt, schlafen Kinder in weißen Betten. Und jeden Abend beten sie:
„Müde bin ich, geh' zur Ruh',
Schließe meine Augen zu.
Vater, lass die Augen dein,
Ü ber meinem Bette sein."
Dann schlafen sie und träumen von Gott, dem Vater mit dem langen, weißen Bart, von den goldenen Kugeln der Nacht, von großen, schneeweißen Schimmeln, die sie auf Flügeln über die schlafende, stille Stadt tragen, und von ihren neuen Puppenkindern, die Ruth und Rose heißen, und seidene Kleider tragen...
In der Gasse am Wedding sind die Höfe so tief, dass die kleine Heidi, wenn sie abends am Fenster steht, die Sterne nicht sehen kann und den Himmel, von dem „die goldenen Kugeln der Nacht"
herunterschweben. In der Gasse am Wedding haben sich die goldenen Kugeln verwandelt in dunkle, hängende Schatten, die als ein zäher, fauler Geruch auf den Gesichtern der Kinder liegen. In der Gasse am Wedding lehren die Erwachsenen die Kinder auch nicht die Hände falten, sondern sie zeigen ihnen, wie man die Faust macht, und dazu „Rot Front!" sagt.
Und auch davon träumten viele in der roten Gasse in dieser Nacht, die viermal vierundzwanzig Stunden vor dem 1. Mai lag. —
Um fünf Uhr tappen die ersten Schritte auf den Treppen, und Menschen gehen fröstelnd, mit der Tasche unter dem Arm, über den noch dunklen Hof. Am Bahnhof Wedding rollen die Frühzüge mit schweigenden, unausgeschlafnen Arbeitern in die Industrieviertel der Siemensstadt, nach Rummelsburg und Reinickendorf...

 

 

 

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