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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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III. Paul und Lenin

Erst eine Stunde später gelang es durch einen starken Demonstrationszug in der Reinickendorfer Straße die Polizei aus der Gasse herauszuziehen. Planmäßig wurden sie in entfernteren Straßen von den Arbeitern beunruhigt und der Gasse eine Zeitlang ferngehalten. —
Die Arbeiter sahen, dass die Gasse, die keine Nebenstraßen hatte, und auch über die Höfe hinweg nur geringe Ausweichmöglichkeiten bot, eine gefährliche Mausefalle war, in die sie von der Polizei nur hineingetrieben wurden, um in einer oben und unten abgeriegelten Straße, schutzlos vor den Mündungen der Pistolen zu stehen. Die Wiesenstraße lag wie ein T-Balken vor der Kösliner Straße, die dadurch zu einer Sackgasse wurde. Zudem waren die Häuser kein ausreichender Schutz mehr, nachdem die Polizei dazu übergegangen war, sie einfach zu stürmen, und die Arbeiter bis in die Wohnungen hinein zu verfolgen. Auf der einen Seite der Gasse kam man durch die Häuser höchstens bis zur Wedding- oder bis zur Reinickendorfer Straße, deren kurze Hausfronten leicht von der Polizei zu übersehen waren. Auf der anderen Seite wurden die Hinterhöfe durch die Panke abgegrenzt. Und selbst wenn Flüchtende durch den Fluss hindurchwateten, kamen sie nur wieder bis zur Wiesen- oder bis zur Pankstraße. —
Es gehörte nicht viel dazu, zu sehen, dass die Abriegelung des ganzen Häuserblocks der Polizei keine großen Schwierigkeiten machte, und früher oder später würde es dazu kommen. Was dann —?
In zahllosen Stuben der Gasse konnte man an den Wänden und Möbeln die Spuren der Einschüsse sehen. Durch die umherfliegenden Mörtelstücke waren bereits mehrere Kinder verletzt worden. Unmittelbar über dem Bett, in dem ein zwölfjähriges Kind lag, hatten vier Kugeln die Wand durchbohrt und das Kind mit Kalk überschüttet. Nur ein Zufall, dass nicht noch mehr Menschen in den Wohnungen, von den Geschossen verwundet oder getötet waren.
Die Kinder jetzt noch aus der Gasse herauszubringen, würde bedeuten, sie durch die Feuerzone tragen zu müssen. Auf den Treppen standen weinende, verzweifelte Mütter und riefen Hass und Fluch auf „die blauen Teufel" herab.
„Seid ihr denn Männer... !" schrien sie die Arbeiter an.
„Scheißkerle seid ihr, feige Hunde, die die Weiber und Kinder lieber totschießen lassen... 1 Schmeißt wie kleine Jungs mit Klamotten und rennt weg!"
„Habt ja Dreck und keen Blut in den Knochen, ihr Waschlappen! — Weil diese Rotzjungs 'ne Kanone in der Hand haben, scheißt ihr euch eher die Hosen voll, ehe ihr ihnen det Ding einfach wegnehmt — ihr „Kommunisten"!"
„Det versteht ihr nich... ", sagten die Männer... „wir können doch heute noch nicht losschlagen... !"
„Nee — aber ne große Schnauze könnt ihr haben!"
Dann gingen die Männer wieder auf die Straße und dachten: Recht haben die Weiber — aber feige?... Nee, feige sind wa nich... feige is die rote Gasse nich, bestimmt nich — aber... was soll'n wa machen? Wat soll'n wa denn machen ... ?! Verfluchte Kosaken!" Auf den Treppen fragten sie, auf den Höfen, auf der Straße, in den Kneipen — in der „Roten Nachtigall".
In dem schmalen Durchgangszimmer der „Roten Nachtigall" drängten sich die erregten Gesichter in den runden Lichtkreis der elektrischen Blechschirmlampe, die in der Ecke über dem Tisch hing. Thomas hatte eine weiße Binde über der durchschossenen Hand und trug den Arm in einem Ledergurt, der um den Hals gelegt war. Neben ihm saß Paul, dessen Mütze irgendwo auf dem Nettelbeckplatz lag.
„Genossen —", sagte Kurt ruhig, „— in ein paar Stunden is es dunkel. Wenn die Polizei dann noch in der Gasse is, wisst ihr, wat passiert. Wir werden morgen früh nicht zwei, sondern vielleicht zwanzig Tote in unseren Häusern haben."
Er machte eine kleine Pause, sah den um ihn herumstehenden Arbeitern einen Moment wie prüfend in die Gesichter, — und fuhr fort: Ick denke mir, Genossen, die Polizei darf in de Jasse nich mehr rin!"
„Richtig, Kurt."
„Genossen... det is doch heller Wahnsinn", rief Paul und »prang erregt auf, „... wollt ihr vielleicht hier auf eigene Faust anfangen, Bürgerkrieg zu machen?! Ick protestiere auf das entschiedenste... "
Thomas drückte ihn auf den Stuhl: „Sei jetzt mal ruhig, Paul, wir woll'n hören, wat Kurt sagt."
Kurt sah Paul mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Er dachte an die Arbeiter, die um den Tisch standen und wussten, dass Paul für heute der stellvertretende Leiter der kommunistischen Straßenzelle war...
„Genossen — ich sagte, die Polizei darf nich mehr in de Gasse, nich die Schupo, sondern wir werden die Straße abriegeln, det vor allem de Autos nich mehr rin können!"
„Ja, det is de Hauptsache... die verfluchten Polizeiflitzer."
„Draußen liegen die Baumaterialien an der Ecke — wir müssen damit sofort ein Hindernis quer über die Straße legen und zwar so... " Er drückte den großen Zeigefinger seiner breiten Betonträgerhand auf die Holzplatte vom Tisch „... hier is die Gasse... ", der Finger zog einen Strich, „... und hier ist die Wedding- und da die Pankstraße."
Der Finger zeichnete ein schiefes Dreieck. Die Arbeiter sahen angespannt auf die zerkratzte, fleckige Tischplatte und verfolgten die unsichtbaren Linien, die der Finger zog.
„Und hier... ", er stieß die breite Nagelkuppe auf das Holz, „... bauen wir querüber eine Barrikade... von da bis da... und die zweite von der Ecke bis zu uns hier, und die dritte, direkt vor die Gasse. Dann is die ganze Ecke hier zu und se können von da und da nich mehr rin!"
Die aufmerksamen Augen der Arbeiter fuhren mit der breiten Fingerspitze kreuz und quer über die Holzplatte.
Kurt sah hoch. Sein Gesicht war nicht mehr so ruhig wie vorhin. Er wusste, dass sein Plan eine entscheidende Verschärfung des Kampfes bedeutete, aber es blieb kein anderer Ausweg, wollten sie nicht die Bevölkerung schutzlos dem weiteren Polizeiterror, der erfahrungsgemäß in den Abendstunden immer stärker werden würde, überlassen. Vorhin schon hatten Leute angefangen, Balken über die Straße zu legen. Kurt kannte die Leute aus der Gasse zu gut... die würden nicht mehr lange still zusehen, wie einer nach dem anderen wehrlos runtergeknallt wird. Er hatte eben auf den Treppen und Höfen genug gehört und gesehen.
Thomas stand auf und schlug krachend die gesunde Faust auf den Tisch. „Gemacht, Kurt — los, Jungs, an die Arbeit — wir haben nich eine Sekunde Zeit übrig!" —
Die Arbeiter drängten aus dem Lokal heraus, nahmen jeden mit, der da stand und liefen auf die Straße. „Los... alles raus .,. draußen gibt's Arbeit!"
Alles schrie und rannte aufgeregt durcheinander. Die ratlose, verzweifelte Stimmung schlug sofort in ein zielbewusstes, starkes Kraftgefühl um.

Kurt blieb allein mit Paul an dem Tisch. Der Raum war leer geworden, vorne hörten sie den schwarzen Willi mit den Gläsern hantieren. Kurt wäre lieber sofort mit den anderen herausgegangen, aber er wollte Paul nicht jetzt einfach sitzen lassen. Man musste kurz mit ihm sprechen, es war zu wichtig.
Paul hob langsam den Kopf und sah Kurt an. Sein Gesicht war ganz verändert. Dann fing er an zu sprechen, mit einer leisen, vor Erregung zitternden Stimme: „Kurt . . weeste ooch, wat de jemacht hast . .? Ick übernehme für det, wat jetzt kommt, keene Verantwortung . . , du weest, ick bin seit zwanzig Jahren in der Bewegung... , ick bin nich feige, hörste!" Seine Stimme hob sich drohend... . „ick bin nich feige . . aber det mache ick nich mit!"
Sein Gesicht war farblos geworden. Kurt sah ihn erstaunt an. Warum sagte Paul das so merkwürdig? Er beugte sich ein wenig zu ihm herunter und legte die Hand auf seine Schulter.
„Paul — wat is denn los mit dir? Dass du nich feige bist, weiß doch die ganze Straße, Paul,... aber — pass mal auf — Du hast noch nich klar gesehen, wat heute am 1. Mai draußen vor sich gegangen ist. Det is doch nich bloß hier so bei uns in de Gasse, in der ganzen Stadt hat doch die Polizei so gehaust! Wat denk'ste Paul, wat jetzt in Neukölln los is — ! Und warum machen se det so? Warum haben se ausgerechnet jetzt zum ersten Mal überhaupt de Maidemonstration verboten? Und warum lassen die SPD.-Führer mit ihren sozialdemokratischen Polizeipräsidenten die Schupo auf de Arbeiter mit so einem Schießerlass in Berlin los . .?"
Kurt schrie ihn jetzt förmlich an und packte Paul mit beiden Fäusten an die Schultern. . . Warum denn, Paule??" — — Weil wir Kommunisten heute die einzigen Führer der revolutionären Arbeiter sind, — verstehste Paule — wir sollen heute so zu Boden jeschlagen werden, det die Massen von uns wegloofen, det wir allein dastehen, wie eener an der Spitze, der auf einmal keene Armee mehr hat! — Die Kinder und Weiber schlagen se zusamm' und meinen die Kommunistische Partei. Die Reichswehr, die Polizei, det wird alles einjesetzt gegen de Kommunisten, die de Massen gegen die Hungerregierung, in der die Sozialfaschisten sitzen, „uffhetzen" und uff de Beene bringen..."
Plötzlich fiel ihm etwas ein, er kramte aufgeregt in seinen Taschen herum, die mit Zetteln und Zeitungen vollgestopft waren und zog ein paar Seiten heraus. Auf dem Tisch strich er ein zerknittertes Zeitungsblatt glatt. Quer über die Seite stand an der Spitze: Lenin und die Maifeier! Es war die heutige Mainummer der „Roten Fahne".
Auf der ersten Spalte links oben hatte er heute morgen, als er die Zeitung las, mit dem Bleistift einen dicken Strich neben einen fettgedruckten, kurzen Absatz gemacht. An dieser Stelle bohrte er den breiten Finger in das Papier. „Hier . . hier . da steht et, Paul!" Er las laut und langsam vor: „. . an den Ereignissen dieser Art erkennen wir tatsächlich deutlich, wie der bewaffnete Volksaufstand gegen die absolutistische Regierung nicht nur als Idee in den Köpfen und Programmen der Revolutionäre reift, sondern auch als . .", er machte eine kurze Pause und las mit betonter Deutlichkeit weiter: „— sondern auch als unvermeidlicher, praktischer, natürlicher, nächster Schritt der Bewegung selbst, als Ergebnis der wachsenden Empörung, der wachsenden Erfahrung, des wachsenden Mutes der Massen... des Mutes der Masse n", wiederholte er noch einmal nachdrücklich und stieß bei jedem Wort mit dem Finger heftig auf diesen Satz.
„Und wer hat det jesagt, Paul? Det hat Jenosse Lenin jeschrieben, auf einen politischen Massenstreik im Jahre 1902 für die Arbeiter von Moskau — —! Verstehs'te jetzt, Paul? Die Revolution kommt nich, wenn Stalin sagt, heute drück' ick uf'n Knopp und der bewaffnete Aufstand is da bei uns, sondern det wächst langsam, mit jeder Aktion, mit jedem Streik, mit jedem politischen Massenstreik — und det is der 1. Mai, det is keen Feiertag — Paule, det da draußen uff de Straße! Warum halten de Arbeiter nich mehr stille, wenn se niederjeschossen und jeschlagen werden . .?" Er schlug mit der flachen Hand auf die vor ihm liegende Zeitung. „. . die wachsende Empörung der Massen! — Und wenn wir als Partei det nich sehen, bleiben wir hinten, und se haben keen Vertrauen mehr zu uns, Paule. Wir sind aber die Führer und müssen immer an de Spitze stehen —!" Und, als wenn er alles noch einmal kurz zusammenfassen wollte, sagte er: „Notwehr — Paul — ist kein bewaffneter Aufstand! — aber nur auf diesem Wege werden wir von der Verteidigung eines Tages übergehen und wachsen zum Angriff!"
Kurt schwieg und sah, etwas verlegen von seiner Rede, zum Fenster hinaus. Nach einer Weile drehte er sich um. Paul schaute immer noch auf das vor ihm liegende Zeitungsblatt. Groß und deutlich standen die fünf Buchstaben an der Spitze: LENIN! — Er sah die Massen auf der Straße, die schlagenden, schießenden Polizisten, die runtergeschossenen roten Fahnen, den in dem dunklen Hausflur auf dem Boden liegenden Heider mit dem aufgerissenen Bauch... er sah die Steine in den Fäusten der Proleten...
Paul war ein Funktionär der alten sozialdemokratischen Schule aus ihrer guten revolutionären, längst verflossenen Zeit. Sein Denken und Empfinden bewegte sich innerhalb der Grenzen der alten gewohnten Agitations- und Kampfmethoden. Er fühlte selbst, dass sie heute nicht mehr passten, dass das ein neues Tempo draußen war. Die heutige kapitalistische Wirtschaft nahm in ihrer verschärten Ausbeutung die Jugend in eine härtere Klassenkampfschule als früher. Vielleicht hatte Kurt doch recht! Er verstand das alles noch nicht so schnell... aber, es ist wahr, da auf dem Blatt stand es einfach und deutlich, das konnte jeder begreifen, und dann — Lenin hatte es gesagt . . !
Er stand auf und ging wortlos mit Kurt auf die Straße...

 

 

 

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