Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
http://nemesis.marxists.org

Fahrtverbindungen in die Seligkeit

Vor dem Herrn sind 1000 Jahre wie ein Tag, und die rund 18000 km, die wir im Lauf eines halben Jahres zurückgelegt hatten, offenbar kürzer als eine Fahrt mit dem Moskauer Autobus Nr. 2 oder 4. Die Religion hat ein zähes Leben.
Da lasen wir in den Zeitungen und Zeitschriften lange Berichte über die Abnahme des Analphabetentums und den Niedergang der Religion; an Bauzäunen und in Klubsälen hingen die bunten Plakate der „Gottlosen": Schnaps und Kirche sind Feinde des sozialistischen Aufbaus - Willst du den Sozialismus, meide beide! In einer altvertrauten Stadtgegend kannten wir uns mit einem mal nicht mehr aus: wo früher zwei schmutzige Gassen und eine weizengelbe Kirche mit türkisfarbener Zwiebelkuppel waren, sah man jetzt nur noch einen glatten, weiten, frisch asphaltierten Platz; auf einem kleinen Bauernfriedhof steckten auf frischen Gräbern statt der „rechtgläubigen" Doppelkreuze rote Pfähle mit dem fünfzackigen Stern; man zeigte uns Moscheen, die in Arbeiterklubs, und Kathedralen, die in Radiotheater umgewandelt waren, und Dorfkirchen, in denen dort, wo früher der Altar stand, Charlie Chaplin über die zitternde Leinwand stelzte... Einmal, als die Lokomotive aus dem Geleise gesprungen war und der Zug einen unfreiwilligen Halt von mehreren Stunden machen musste, schneiten wir in einen dörflichen Theatersaal hinein, irgendwo in Sibirien zwischen Irtysch und Ob, in einer Siedlung von kaum fünfzig Hütten; es war Ausgangstag, und die Jungen Pioniere spielten Theater für die Kinder: „Bojewoje Sweno - Der kämpferische Pionierzug" hieß das Stück, es handelte von einer Pioniergruppe, die auf einem Kollektivgut eine Hühnerfarm anlegen will, was jedoch leichter gewollt als getan ist, weil nämlich der Großbauer Sidor und der „zwar nicht schlechte, aber dumpfe" Mittelbauer Awrom, die Arbeit der Pioniere sabotieren; es gibt viel Ärger und Misserfolg, aber schließlich schaffen es die Jungen und Mädchen doch: die Hühnerfarm marschiert (wenn man so sagen darf - der Chor auf der Bühne zumindest sagte es so), und mit ihr marschieren in ein neues Leben zwei Menschen: der endlich erwachte Awrom und Maschum, ein kleiner Besprisorny, der sich das rote Pioniertuch erkämpft und erarbeitet hat. Es war kein Meisterwerk, und wahrscheinlich hatte das Stück auf dem Weg von der Stadt bis hierher auch etwas gelitten -aber die Schauspieler waren jung, voller Begeisterung, voller Liebe zur Sache, man merkte, sie sprachen und handelten auf der Bühne nur so, wie sie es auch außerhalb des Theatersaals taten.
Das Publikum, die barfüßigen, struwelköpfigen Jungen und die langzöpfigen Mädchen verloren allmählich ihre Befangenheit, begannen dazwischenzurufen, mitzusingen, mitzuspielen.
Der fromme Awrom kommt dahinter, dass ein Ikonenwunder gar kein Wunder, sondern Mache ist, und schmettert das entzauberte Heiligenbild zu Boden.
Da fingen ein paar Kinder zu klatschen an und lachten. „Weil es so in Ordnung ist!" sagte, auf meine Frage, warum er denn klatsche, ein Dreikäsehoch neben mir; und nach einer Pause, während der er mich misstrauisch gemustert hatte, fügte er hinzu: „Oder findest du es vielleicht nicht gut und in Ordnung, dass wieder einer helle geworden ist?!" Das war bei den Christen.
In Semipalatinsk erzählte uns ein deutscher Agronom, der auf den Turksib-Zug wartete, der ihn nach Usbekistan zu seiner Selektionsstation bringen sollte, die „Geschichte von den Heuschrecken, die Allah ganz Mittelasien gekostet haben": Alle paar Jahre kommt die afghanische Heuschrecke über die Grenzgebirge geflogen und legt in die Erde der usbekischen Ebene ihre Eier, aus denen, sechs Wochen später, die zweite Generation, die ungeflügelte, millionenfach zahlreichere, auskriecht und ihren Marsch beginnt, immer geradeaus, über alle Hindernisse hinweg-eine gigantische Mähmaschine, die hinter sich nicht einen Halm, nicht ein Blatt zurücklässt. Bei dem letzten Einfall der Heuschrecken, vor zwei Jahren, begannen die Mullahs zu predigen, dass die Heuschreckenplage eine Heimsuchung Allahs sei, der die Bolschewiki und ihre Anhänger bestrafen wolle; man verhaftete die Prediger zuerst, dann ließ man sie aber wieder frei, weil man sich sagte, dass man ihre Propaganda nur dann widerlegen könne, wenn man die Heuschrecke besiegte; ein Dutzend Agronomen und Ingenieure brachte man in Flugzeugen nach den bedrohten Gegenden und entwarf einen regelrechten Kriegsplan: zwölfhundert Jungkommunisten hatten sich freiwillig gemeldet, sie wurden an die „Heuschreckenfront" geschickt, und in den vier Wochen, die noch bis zum Ausschlüpfen der Heuschrecke blieben, zogen sie eine dreifache viele Kilometer lange Grabenlinie durch das Sumpf- und Steppengebiet am Syr-Darja; in einer zweitägigen Schlacht wurden die ersten Divisionen und Korps der anmarschierenden gelben Milliardenarmee unter Strömen von Naphtha und Lehm begraben, worauf, zum ersten mal seit Menschengedenken, die Heuschrecke kehrt machte -ein geschlagenes Heer Allahs, der zwar groß sein mag und einzig, der aber schwächer ist als die Bolschewiki. Das war bei den Mohammedanern. In der Kollektivwirtschaft „Kysyl Altai" an der Mongolischen Heerstraße sahen wir eine Schamanentrommel; der Kam hatte sie geschwungen, wenn im Frühling das weiße Pferd geopfert wurde, damit die bösen Geister dem Vieh nichts taten und die guten Geister das Wild zahlreich werden ließen; der Kam hatte auf ihr getrommelt, wenn er sich am Bett eines Kranken in Trance versetzte; starb der Kam, so wurde ihm die Trommel aufs Grab gelegt; sie war heilig und unantastbar. Jetzt lag sie in einem Winkel des Viehhofs, zerfetzt und beschmutzt; die jungen Hunde spielten mit dem Reifen, und die Pioniere hatten sich aus dem Griff mit der geschnitzten Dämonenfratze eine Schießfigur gemacht - aber noch vor vier Jahren, erzählten die Leute vom Kolchos, hatte man einen Wanderagitator zum Krüppel geschlagen, weil er es wagte, diese Trommel vom Grab eines Kam zu nehmen. Das war bei den Schamanisten.
Wo immer wir hinkamen, der gleiche Prozess: der Glaube an ein besseres Jenseits wurde abgelöst vom Kampf um ein besseres Diesseits.
Überall war die Religion in eine Sackgasse getrieben. Aber sie hat den Kampf nicht aufgegeben: An der Pforte einer kleinen Kirche unweit der Moskauer Chinesenmauer fanden wir eine Kundmachung, ein paar halbverwischte Schreibmaschinenzeilen auf einem gelblichgrauen Kanzleibogen:

BEKANNTMACHUNG
Der Heilige Synod bringt den Gläubigen zur Kenntnis, dass das heilige, wundertätige Bild der Iberischen Mutter Gottes sich in der Kapelle im Hofe der Nikolsker Kirche (Chlynowsker Sackgasse, beim Nikitsker Tor) befindet.
Gottesdienst: 8-10 Uhr.
Jeden Abend, acht Uhr, feierlicher Gottesdienst mit Wasserweihe. Vergebung der Sünden! Straßenbahnlinien Nr. 15, 16, 18, 22, 26. Autobus Nr. 2 und 4.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur