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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Im Gasthof zur heiligen Dreifaltigkeit

Seit Stunden schon saßen wir eng aneinandergedrängt unter dem Leinwanddach des primitiven Autobusses der „Transkaukasischen Autoverkehrsgesellschaft". Der Motor brüllte und donnerte und fraß gierig das endlose Band der weißen Uferstraße in sich hinein. Staub erhob sich in dicken Säulen zu beiden Seiten des Gefährts. Es ist Abend.
Mit plötzlichem Ruck hält der Wagen. „Psyrzcha...! Nowi Afon...!"
Der Kopf ist noch ganz benommen von dem Dröhnen und Rütteln der Fahrt. Die Glieder aber genießen schon die Wohltat des Reckens und Dehnens. „Also das ist Nowi Afon...?!"
Ein schneller Blick überfliegt den kleinen Platz, zu dem sich die Straße geweitet hat; die Holzkioske des Autotrusts und der Schifffahrtsgesellschaft; die Landungsbrücke, die auf hohen Stelzen vorwitzig weit ins Meer hinausläuft; die wenigen niedrigen Häuser, das Postamt, die Kooperative, das lange, niedrige Gebäude mit der Tafel: „Kurverwaltung von Psyrzcha, Strandgasthof", die paar Menschen, die sich um das Auto versammelt haben..., und sucht dann nach dem Aufstieg zur Höhe des grünbewipfelten Berges, von dem Kuppeln und ein Kirchturm herunter winken.
„Also dies ist Nowi Afon...!"
Du wiederholst dir früher Gehörtes: Nowi Afon: neues Athos... jetzt abchasisch Psyrzcha... Gründung griechischer Mönche... verdankt einer Zarenlaune seine Entstehung... nachgeschaffen der berühmten Mönchsrepublik auf dem Berge Athos... seit der Vertreibung seiner kuttentragenden Bewohner Aufenthaltsort für Sommergäste, Gasthof der staatlichen Kurverwaltung. Ein kleiner, abgerissener Bengel, das himbeerfarbige Käppchen mit den buntgestickten Ornamenten auf dem Hinterkopf, bemächtigt sich unseres Gepäcks und spielt den Führer.
Die Kanzlei des „Strandgasthofes" befindet sich im Zimmer des ehemaligen Pförtners der Klosterherberge. Ein alter Mann mit Patriarchenbart - lebendiger Überrest einer vergangenen Zeit - zeigt uns unsere Zimmer. Die Sandalen schlürfen über die Fliesen. Ein ungefüger Schlüssel knarrt. Die Zimmer sind kahle, weißgetünchte Zellen. Durch das Fenster, vor dem die Riesentannenzapfen der Zypressenkronen aufragen, kommt mit dem warmen Abendwind ein wenig Tangduft herein. Unweit liegt der Strand, der Holzkiosk der Schifffahrtsgesellschaft, die stelzende Landungsbrücke. Man hört deutlich den Wellenschlag. Irgendwo in weitester Ferne vereinigen sich Wasser und Luft, und das Meer pflückt gierig den reifen Granatapfel der sinkenden Sonne vom Himmel. Um die Ränder der schwanenweißen Wolken fließt die Feuerschlange des Sonnenuntergangs und haucht ihren glutfarbenen Atem über die blaue Wölbung. Allmählich wird ihr Blut dick und blau, sie stirbt. Wir gehen die mit „Katzenköpfen" gepflasterte Straße hinan, die zum eigentlichen Kloster, zum jetzigen „Berggasthof" hinaufführt. Dunkel stehen die Zypressen zu beiden Seiten Wache, schauen auf die kleinen Kapellen nieder, auf deren Wänden ein verwaschener Christus sein Kreuz von Leidensstation zu Leidensstation trägt.
Irgendwo zweigt ein Seitenweg ab, auch er von Zypressenreihen gesäumt. Führt an einem kleinen Wasserfall vorbei zum Perlmutterspiegel eines eirunden Teiches, in dessen Wasser die tief niederhängenden Zweige der Uferbäume tauchen. Mitten im Perlmutter schwimmt der sichelförmige Mond und gibt der ganzen Landschaft die falsche Süße einer Ansichtskarte „aus dem Süden". Die Luft ist schwer vom Duft faulenden Holzes und dem Atem des unbewegten Wassers.
Über Steintreppen, die ein Läufer aus Moos fast ganz bedeckt, kehren wir auf die Straße zurück, nehmen die letzte Steigung. Vor uns steht die gelbe Mauer des äußeren Klosterhofes. Das Band der Straße verschwindet hinter dem braunen Torflügel, über dem eine Bauernmadonna ihr herbes, dunkles Gesicht linkisch zur Seite neigt, als schäme sie sich vor denen, die das Tor durchschreiten. Massig wachsen die Klostergebäude in die Höhe, überragt von dem gedrungenen Turm. Die Fenster der Kirche sind hell erleuchtet. Die Fenster der Kirche von Nowi Afon sind allabendlich hell erleuchtet, - denn die Kirche ist jetzt eine Gastwirtschaft, ihr Schiff Speisesaal, ihre Sakristei Küche. Man hat den Altar fortgeschafft, die schöngerahmten Ikone aus den Seitenkapellen weggenommen, das Weihwasserbecken entfernt. Sie führen jetzt zusammen mit Monstranzen, Messgewändern und Weihrauchgefäßen ein stilles Dasein im Klostermuseum.
Geblieben sind nur die Wandmalereien und die Kanzel, die - ein gravitätischer Storch - auf einem einzigen hohen, dünnen Bein steht.
Von der Kanzel herab dirigiert ein langhaariger Kapellmeister sein kleines Orchester, das mittags und abends aufspielt.
Von den Wänden schauen verwunderte Heilige auf das ungewohnte Bild herunter, auf die elektrischen Glühbirnen, die weiß gedeckten Tische, auf die flinken Kellner in kaukasischen Röcken, auf die schwatzenden, essenden Gäste. Schauen und werden aus all dem nicht klug, diese wohlgenährten, gütig blickenden Greise mit rosigen Bäckchen und schütteren Silberhaarkränzen um elfenbeinfarbene Tonsuren; diese hageren Fanatiker mit blutenden Wundmalen; diese ernsten Matronen und verzückt leidenden Jungfrauen; diese schlanken Jünglinge mit gekräuselten Locken und diese vollsaftigen Männer mit wohlgepflegten Bärten, die - seltsame Laune des Malers - karminrot gefärbt sind, wie die Nägel schöner Orientalinnen... Goldene Krummstäbe funkeln zu uns herüber und frisch geputzte Heiligenscheine; die drei Könige aus dem Morgenland breiten ihre Kostbarkeiten vor uns aus, und die bunten Gewänder der Hochzeit von Kana wetteifern mit dem Glanz des Diadems der Großmärtyrerin Warwara und dem Panzer Sankt Georgs des Siegreichen; hungrige Hände greifen nach einem unerschöpflichen Vorrat von Fisch und Brot, und sanfte, frischgewaschene Osterlämmchen betrachten mit der ihnen zustehenden De- und Wehmut die zerstückelten und knusprig braungebratenen Leiber ihrer unglücklichen Brüder, die als „Schaschlyk" oder „Baraschek" (Anm.:Lamm.) aus der Küche auf die Tische und von da in die Mägen hungriger Gäste wandern. Wir sitzen mitten im Saal, mitten drin in dieser wunderlichen Welt voll Heiliger und Sünder. Vor uns auf dem Tisch leuchten aus den Bastkörben die Sammetwangen der herrlichen Früchte dieses gesegneten Landes, und glitzert der bernsteingelbe Napareuli in den hohen Gläsern. Die Musik spielt „Budjonnys Reitermarsch", „Wolga, Wolga, matj rodnaja..." und ein Potpourri aus dem „Rosenkavalier", und der Arzt aus Kiew, der an unserem Tisch sitzt, - er hat sich in „dieses elende Nest" verkrochen, weil es hier viel weniger Towarischtschi gibt, als in Kislowodsk oder Gagri - sagt unvermittelt:
„...und doch darf man sich nicht wünschen, dass dieses Regime zusammenbrechen möge, denn die Sowjets sind die einzige Macht, die Russland wieder groß machen und ihm seinen gebührenden Platz in der Welt zurückerobern kann..."
Er ist Antibolschewist: die Bolschewiki haben ihm sein schönes Privatsanatorium weggenommen und seine Häuser. Er hat gegen sie in der Armee Denikins gekämpft und lebte dann in der Emigration. Nein, er liebt die Bolschewiki nicht und macht aus seinen Gefühlen kein Hehl. Und doch ist er hierher zurückgekehrt, in das „Land, dem sie den Namen genommen haben, um es mit ein paar Buchstaben zu bezeichnen, das aber doch das Vaterland bleibt", weil -und hier glimmt seinen Augen der Fanatismus der Erben des berüchtigten Testaments Peters des Großen auf- „weil ihre Energie so wild und eisern ist, dass sie alle Schwierigkeiten überwinden und alle Feinde niederwerfen werden, weil unter ihrer Herrschaft Russland schon heute eine Macht ist und morgen unüberwindlich sein wird..." Dann bricht er — ebenso unvermittelt, wie er begonnen -wieder ab und versinkt in Nachdenklichkeit. Ein kleiner Junge - stolz, seine eben erst erworbenen Kenntnisse verwerten und zeigen zu können - stellt sich vor einem der Heiligenbilder auf und beginnt die verschnörkelte goldene Inschrift zu buchstabieren: „Za...a...r.."
Zuerst weiß er mit dem Worte nichts anzufangen, wendet und dreht es unbeholfen hin und her:
„Zar...? Zar... Zarzarzar...?"
Mit einem Male aber geht ihm ein Licht auf:
„Mamascha...! Mama...! Komm mal her! Schau, so hat der Zar ausgesehen, der einmal vor der Revolution da war..."
Sankt Georgi Pobjedonossez (der Siegreiche), die Lanze zum Angriff auf den Drachen gesenkt, will protestieren. Aber der Junge - ganz Eifer, ganz Entdeckerstolz - merkt es nicht...

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