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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Verwandlungen

Vierzig Meter muss die Kohle in die Höhe klettern, um aus den Mischapparaten (dorthin ist sie aus den verschiedenen Bunkern gekommen) auf die Plattform des Kohlenturms zu gelangen, der alle Gerüste und Gebäude in seiner Umgebung um mehrere Stockwerkshöhen überragt. Aus den Mischapparaten kam sie in großen Brocken; auf der Plattform langt sie als „Drei-Millimeter-Staub" an; die Kohlenbrecher und Mühlen, durch deren Trommeln sie unterwegs hindurch musste, haben ihr Werk getan. „Hier beginnt der Verwandlungsprozess der Kohle", erklärt uns Beg Kushejew, ein Vorarbeiter von der siebenten, der Komsomolzen-Koksbatterie, unser Führer durch das Koks-Chemische-Kombinat, „es ist der interessanteste Prozess im ganzen Magnitogorsker Werk. Ich sage das nicht etwa, weil ich im ,Koksochim' arbeite und nur mit der Kohle zu tun habe; ich habe mir an meinen Ausgangstagen alle anderen Werksabteilungen angesehen und auch Bücher über den Hochofen und die Erzgrube und das Martinswerk gelesen, und ich habe gefunden..." Ein rußiger Bursche kommt hergelaufen und meldet, dass Batterie acht entladen wird; ob die Fremden sich das nicht ansehen möchten.
Wir gehen schnell zu den Koksbatterien hinüber, vielfächerigen riesigen Kassetten aus feuerfestem Ziegel und Stahl. Zwei Batterien arbeiten schon; zwei weitere sollen in den nächsten Tagen den Betrieb aufnehmen; an den vier letzten wird noch gebaut, sie werden zu Neujahr fertig. „Wir haben hier Öfen System Koppers, neunundsechzig Stück in jeder Batterie; sie sind sehr ergiebig und arbeiten schnell, jeder von ihnen liefert in sechzehn Stunden zwölf Tonnen Koks aus sechzehn Tonnen Kohlenstaub. Andere Öfen brauchen vierundzwanzig Stunden und liefern weniger. Die feuerfesten Ziegel mussten wir aus Deutschland kommen lassen, unsere Ziegeleien sind noch nicht so weit, aber gebaut wurden die Öfen von unseren Maurern. Nur die Ingenieure waren Ausländer, Franzosen. Die machten zwar Krakeel, als man ihnen fast nur junge Leute gab -bei ihnen zu Hause lässt man einen Mann erst dann Koksöfen bauen, wenn er mindestens fünfzehn Jahre mit der Kelle hantiert hat-, aber wo sollen wir bei uns soviel alte Maurer hernehmen, wenn an allen Ecken und Enden gebaut wird und nicht einmal mehr die Lehrlinge ausreichen?! Aber die Jungen schafften es doch; es waren ein paar Komsomolzenbrigaden darunter. Frühmorgens vor der Arbeit übten sie immer eine Stunde lang und gingen erst dann an die Arbeit; jetzt bauen sie beinahe schon so schnell wie in Amerika. Als die erste Batterie fertig da stand, es war diese hier, Nummer acht, sagte der Chefingenieur: ,In Frankreich wäre so etwas nicht möglich. Die Jungen haben das nur zustande gebracht, weil die Bolschewiken es mit dem Teufel halten und der Teufel es mit den Bolschewiken hält!'... Aber Achtung, es wird gleich entleert!" Eine Maschine: ein Riesenkran, nein, eine Art riesiger Galgen, kommt die Koksbatterie entlang gerollt, packt mit einem stählernen Arm die Tür des ersten Ofens und schiebt sie hoch. Ein zweiter Stahlarm stößt einen Puffer von der Größe der Tür in den Ofen hinein: tief, noch tiefer. Jenseits der Batterie wird dumpfer Donner laut; Rauch und Funken kommen über den Batteriebau herüber geweht. „Drüben hat der Ofen noch eine Tür. Durch die ist der Koks eben hinaus gestoßen worden; er fällt in Kippwagen, die ihn zum Kühlturm fahren."
Der Galgen ist schon beim zweiten Ofen; der Greifer fasst nach der Tür; der Puffer stößt vor; von jenseits kommt wieder der dumpfe Donner.
Wir gehen um die Batterie herum. Vor einem der Öfen steht ein grauer Kippwagen. Die Ofentür schiebt sich hoch; schwarzer und gelber Rauch kommt hervorgequollen; eine flammrote Masse stürzt funkenstiebend in den Wagen. Der Wagen setzt sich in Bewegung, fährt in einen dicken, kalkofenähnlichen Turm hinein, über dem gleich darauf eine dichte, weiße Dampfwolke emporsteigt. Dann kommt der Kippwagen wieder zum Vorschein und stürzt seine dampfende, aber nicht mehr rotglühende Last auf ein breites Fließband.
„Wohin das Fließband führt? In die Sortiermaschine. Dort wird der Koks je nach Größe in Brocken, kleine Stücke und Grieß geschieden; Stücke und Brocken kommen in die Hochöfen, der Grieß wandert zurück in die Batterie und wird zu Klumpen zusammengebacken. Aber damit ist der Weg der Kohle keineswegs zu Ende, mit der Verkokung beginnen eine ganze Menge anderer, wichtiger Prozesse. Im Koksofen verliert der Kohlenstaub ein Viertel seines Gewichts, er scheidet Schwefelgase, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und eine Menge anderer Gase aus; alle diese Gase saugt man ab und führt sie durch eine Kühl- und Waschanlage, wo sie Teer und Ammonium abscheiden, in die ,Skrubber', sechsunddreißig Meter hohe Badewannen mit Steinkohlenöl, in denen sich Benzol bildet. Der Teer aus den Kühlanlagen kommt in das Destillierwerk, - dort drüben das Baugerüst, man hat eben erst mit den Zimmerarbeiten begonnen, aber im Winter wird es schon fertig sein! Dort gewinnt man Naphthalin, Pech und Anthrazen daraus; das Benzol aus den Skrubbern wandert teils in die Garagen, teils in die Werkstätten zur Erzeugung von Xylol und Toluol. Das gewaschene und gebadete Gas gibt dann noch den Wasserstoff her, den man im Salpeterwerk zur Erzeugung von sogenanntem Leunasalpeter braucht. Das ist ein prächtiges Düngemittel. Wir werden davon einige zehntausend Tonnen im Jahr erzeugen und damit die Baumwollfarmen in Tadshikistan beliefern. Ist das nicht wunderbar?
Aber damit sind die Verwendungsmöglichkeiten der Kohlengase noch nicht erschöpft. Wir werden einen Teil der Gase aus den Koksöfen als Brennstoff verwenden; Koksgas ist zwar nicht ganz so ergiebig wie Kohle, aber wir brauchen es nicht erst von weither zu holen. Wir werden zudem das Koksofengas mit dem noch weniger ergiebigen und für die chemische Verwertung ungeeigneten Hochofengas mischen und mit diesem Gemisch alle Martinsöfen, Kesselhäuser und Erwärmungsschächte des Walzwerks, der Martinszeche, der Agglomerationsfabrik und des Gebläsewerks heizen. Kein Kubikmeter Gas wird verloren gehen. Mit achtzehnhundert Grad wird das Gas zu arbeiten beginnen und erst mit hundertundfünfzig darf es in die Luft entweichen. Neunhundertdreiundvierzigtausend Tonnen Kohle werden wir auf diese Weise ersparen und Magnitogorsk zu dem Werk mit der sparsamsten Brennstoffwirtschaft machen... Ist das nicht wunderbar?" Ja, es ist wunderbar. Aber noch wunderbarer ist: wer uns all das erzählt! Noch wunderbarer als der Prozess, den die Kohle durchläuft, scheint uns der, den der Junge da vor uns durchgemacht hat. Noch wunderbarer als die Verwandlungen der Kohle dünken uns die Verwandlungen des Kasachenjungen Beg Kushejew.

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