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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Wie viel Wasser braucht der Mensch?

„Vier Grundstoffe gehören zur metallurgischen Produktion" erklärte uns, am Tag unserer Ankunft, als wir mit ihm am Fenster seines Arbeitszimmers standen und auf das Werk hinunterblickten, der Rote Direktor Gugel, „Erz, Koks, Kalk und Wasser. Die Erzbasis war von Anfang an gegeben; die Kalkbeschaffung konnte ohne besondere Schwierigkeiten organisiert werden; das Koksproblem lösten wir, indem wir Magnitogorsk und Kusnezk, das neue sibirische mit dem neuen Uralkombinat, die Kohle des Kusbass mit dem Erz der Magnetberge kombinierten; in den gleichen Waggons, in denen wir Erz nach Kusnezk schicken, kommt die Kusnezk-Kohle zu uns. Nur mit dem Wasser war das so eine Sache; ich glaube, es gibt kaum ein anderes Hüttenwerk, dessen Wasserversorgung soviel Kopfzerbrechen, soviel Mühe und soviel heroische Anstrengung gekostet hat (und zweifellos noch kosten wird). Die Schwierigkeiten schienen manchmal, besonders beim Bau des ersten Staudamms, unüberwindlich. Dass der Damm fertig wurde, vor dem festgesetzten Termin sogar, in hundertfünfundfünfzig statt hundertundachtzig Tagen, trotz Sandschlamm und Frost, kommt uns selbst heute noch, nach mehr als einem Jahr, nachdem wir Zeugen so vieler anderer glanzvoller Leistungen geworden sind, kaum glaublich vor.
Daran müssen Sie denken, wenn man Ihnen vielleicht etwas zu oft vom Bau des Staudamms bei Magnitnaja erzählen wird."
Ja, man erzählt uns oft davon. Jeder dritte oder vierte Mensch, mit dem wir zusammenkommen, erwähnt den Staudammbau zumindest; jeder fünfte oder sechste ist selbst mit dabei gewesen, als freiwilliger Helfer an den Ausgangstagen oder abends nach der eigenen Arbeit. Jetzt fahren wir hinaus nach Magnitnaja, um uns den Damm anzusehen.
Unser Begleiter, ein Ingenieur der Planabteilung - auch er war als Woskresnik-Arbeiter mit dabei - erzählt uns unterwegs, warum das Problem der Wasserversorgung so schwer zu lösen ist:
„Wir werden einen ungeheuren Wasserverbrauch haben. Achtzig Millionen Kubikmeter jährlich wird das Werk schlucken, und das auch nur im ersten Bauabschnitt, wenn nicht mehr als zweieinhalb Millionen Tonnen Roheisen im Jahr produziert werden; Eisenbahn und Stadt haben einen Jahresbedarf von zwei Dutzend Millionen Kubikmetern; weitere dreißig Millionen Kubikmeter müssen für die Gemüsegärten, Milchfarmen, Getreidesowchose, Schlachthöfe, Zuckerfabriken, Elevatoren, Mühlen, Kühlanlagen, Konservenwerke und Leichtindustriekombinate, mit denen sich die Steppe rund um Magnitogorsk bedecken wird, bereitgestellt werden. Alle diese Mengen - vier Kubikmeter in der Sekunde - muss der Uralfluss, unser wichtigstes natürliches Wasserreservoir, liefern. Aber der Ural ist ein Gebirgs- und Steppenfluss; die Frühjahrsfluten fließen sehr schnell ab, die Zuflüsse versiegen während eines großen Teils des Jahres völlig oder bis auf geringe Reste. Nur im April und Mai kann der Fluss die notwendige Wassermenge liefern, - da liefert er sogar viermal soviel - in den übrigen Monaten bestenfalls die Hälfte, manchmal nur ein Viertel, ja auch nur ein Achtel. Wir müssen deshalb ein ganzes System von Staubecken anlegen, um für die wasserarmen Monate Reserven zu schaffen. Aber selbst wenn wir, im zweiten Bauabschnitt, in unseren Staubecken und Seen zwei Milliarden Kubikmeter Wasser haben werden, müssen wir mit jedem Tropfen geizen. Wollten wir beispielsweise das Gebrauchswasser nur einmal verwenden und dann abfließen lassen, so würde die Hochofenabteilung allein hundertachtzig Millionen Kubikmeter im Jahr verbrauchen. Deshalb schaffen wir schon jetzt eine ganz große Pump-, Leitungs- und Klärungsanlage, und führen das bereits einmal verwandte Wasser erneut der Produktion zu. Auf diese Weise entnehmen wir die Hauptmasse des vom Werk benötigten Wassers der sogenannten Umsatzwassermenge und brauchen nur einen Bruchteil frischen Zustroms."
Dieser Fluss? Ja, das sei schon der Ural. Ob wir, um einmal über anderes als Kubikmeter zu sprechen, etwas von seiner Geschichte hören wollten? Er sei nämlich ein Fluss, der in allen Geschichtsbüchern des alten und auch des neuen Russland vorkomme. Das sagenhafte Volk der Tschuden habe an seinen Ufern gesessen und das erste Eisen in den ersten Schmelzöfen hergestellt; die wildesten Kosakenhorden des Zaren seien hier, am Jaik, wie der Ural früher hieß, „in Freiheit dressiert" worden: „für die Aufrechterhaltung der Unfreiheit"; in den Steppen, die der Ural durchfließt, habe Jemeljan Pugatschow die aufrührerischen Bauern gesammelt, mit denen er einen Augenblick lang den Thron der zweiten Katharina ins Wanken brachte; von hier aus sei nach der Oktoberrevolution der Bandenführer Dutow gegen die Sowjets marschiert; hier habe aber auch der verzweifelte Marsch des von der Roten Armee abgeschnittenen Korps Blücher begonnen: durch das von Koltschak besetzte Gebiet nach Kungura, wo die rote Hauptmacht stand. Große Kapitel einer großen Historie!
„Aber größer als die anderen ist das letzte, der Dammbau!" sagt der Dammwärter, der sich uns zugesellt hat; wir sind unterdessen am Wasser angelangt und vom Wagen gestiegen und gehen jetzt auf den Damm hinaus, dessen 101 sichelförmige Glieder den Fluss zurückstauen, so dass ein breiter See entstand. „Sie wissen, wie es beim Bau zuging? Nein, Sie können es nicht wissen! Sie waren ja nicht dabei.
Aber ich war dabei, vom ersten bis zum letzten Tag!"
Und dann müssen wir uns wieder einmal die Geschichte vom Bau des Magnitnaja-Staudamms erzählen lassen: Wie der Sandschlamm alle Anstrengungen der Erdarbeiter zunichte machte, alle Pumpen verstopfte, alle Pfeilerschächte, kaum dass sie ausgehoben waren, aufs neue füllte: „Man konnte ihm nicht beikommen, er floss von der Schaufel wie Suppe!" In Wasser und Schlamm versanken die Menschen, die Voranschläge, die Planziffern. Bis der Leiter des Erdarbeiterarteis Solowjow auf den Gedanken kam, das Flussbett durch Sandsackmauern in lauter Zellen zu teilen, jede dieser Zellen einzeln leerzupumpen, gleich auszuschachten und die Schächte mit Beton zu „plombieren".
Dann kam der Frost und machte das Betonmischen zur Qual und die Arbeit im Wasser zur Hölle, trotzdem wurde die verlorene Zeit eingeholt und das Fundament noch vor dem festgesetzten Termin fertig gemacht. „Wir arbeiteten bis zum Umfallen. Wir wussten nicht, ob es Tag oder Nacht war. Man steckte in einem Schmelzofen: entweder wurde man zu flüssigem Eisen, oder man verbrannte. Jeder Mann auf dem Bau wusste genau, wie viel Beton, wie viel Stein und wie viel Stahl schon verarbeitet war und noch verarbeitet werden musste. Es gab keine Bummler und Drückeberger; wir brannten sie aus. Ihre Namen standen in den Zeitungen und auf den Schwarzen Tafeln und auf den Zigarettenpäckchen und Streichholzschachteln. Die Ingenieure hatten ihre Feldbetten im Baubüro. Mein Sohn, er arbeitete als Meister an der Betonkanone, schlief sechs Tage hintereinander in Stiefeln und Kleidern im Materialschuppen. Man musste ihn durch Belegschaftsbeschluss zwingen, nach Hause zu gehen, zu baden und sich auszuschlafen. Jetzt arbeitet er in Angara, in der Taiga am Jenissej, wo das neue sibirische Riesenkombinat gebaut wird."

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