Die verlorenen Traktoren
  Die neue dreiteilige Chaussee - rechts Traktorenbahn, links Karrenweg, in der Mitte Autostraße - läuft von der Irtysch-Fähre aus dreihundert Kilometer weit in die Steppe hinaus, in der die großen Sowchose des Omsker Gebiets liegen. 
    Semjon Grigorjewitsch erzählt, dass die Ernte in wenigen Tagen beginnen wird. Von den Mähdreschern auf den Feldern des Borrissower und Sossnowsker Staatsgutes nach den Elevatoren an der Bahnlinie und wieder zurück werde dann eine „endlose Kette" von fünfhundert Lastautos über diese Straße rollen. 
    „Eine Million Zentner Weizen! Vierhundert Traktoren und dreihundert Combines auf den Feldern! Wenn ich daran denke: siebenhundert Mähdrescher und Traktoren ... und vor sechzehn Jahren habe ich noch mit diesen Händen hier" - er betrachtet sie dabei mit einer ungläubigen Neugier, als sehe er sie jetzt zum ersten mal - „einen Pflug geführt, der hatte nicht einmal eine richtige Pflugschar, sondern nur einen breiten Nagel ... Es packt einen manchmal. Es packt einen... Ihr seid Ausländer, und ein Ausländer, auch wenn er unser Freund und Genosse ist, und schon oft hier war und das Land kennt, wird doch nicht ganz so stark das mitfühlen können, was uns packt, wenn wir wieder einmal, ganz plötzlich, merken, wie viel, wie unendlich viel schon zwischen dem Jahr siebzehn und heute liegt." Er schweigt eine Weile. Dann sagt er: „Man schreibt im Ausland immer wieder, wir berauschen uns an der Technik- aber das ist falsch. Seht ihr, was mich berauscht, wenn ich an die neuen Traktoren und Combines und Autos und Elektrizitätswerke denke, das ist etwas ganz anderes. Ich sehe dann immer die Bauern vor mir, die sich nicht mehr mit dem Nagelpflug schinden müssen, die nicht mehr diese unendlich langen, toten Stunden im Dunkeln durchdösen müssen, die nicht nur lesen und schreiben, sondern auch die Welt erkennen lernen, aufwachen, aus einem stumpfen Dasein in ein Leben, das sich zu leben lohnt!" 
    Er wird unterbrochen. Laut heulend gibt die Hupe unseres Autos Antwort auf den gellenden Sirenengruß, den uns die kleine Elektrostation des Sossnowsker Sowchos entgegenschickt. 
    „Ja, ein Getreidesowchos ist eben kein Bauernhof!" sagt, über unsere Erschöpfung lächelnd, der Chefagronom, der uns fast drei Stunden lang mit Zahlen und immer wieder neuen Zahlen bombardiert hat. „Und dabei gibt es jetzt gar nicht mehr die Übersowchose wie zur Zeit der Gigantomanie, als wir Staatsgüter von 300000 und mehr Hektar gründeten, wie zum Beispiel das Kijalinsker, auf dem dann die Geschichte mit den verlorenen fünfzig Traktoren ..." 
    Was das für eine Geschichte sei? Ein Stück Historie schon, aus dem Jahr neunundzwanzig. Wenn wir sie hören wollten... Wir würden dann sehen, dass es in den ersten Jahren der Sowchoseentwicklung nicht minder abenteuerliche Episoden gegeben hat als einstmals in den „Pionier-Tagen" des amerikanischen Fernen Westens. 
    Also: Das Kijalinsker Sowchos im Petropawlowsker Gebiet  hatte  300000  Hektar  jungfräulichen  Bodens  zugeteilt  bekommen.  Davon  sollte  im  ersten  Jahr  ein  Viertel bebaut  werden.  Man  suchte  sich  die  besten  Landstücke  aus, steckte  hier  zehn-,  dort  wieder  acht-,  dort  wieder  zwanzigtausend  Hektar  künftiges  Ackerland  ab  und  ließ  dazwischen  breite  Streifen  Steppe  unabgesteckt  liegen.  Von  der Sowchosbasis  aus,  wo  vorläufig  alle  Traktoren  und  Maschinen  konzentriert  waren,  weil  es  noch  keine  Vorwerke gab,  waren  bis  zu  den  entfernten  Feldstücken  mehrere hundert  Kilometer  zurückzulegen.  Die  Sowchoslandkarte wurde  erst  gezeichnet,  Wege  waren  noch  unbekannt.  Die Pflügerkolonnen  fuhren  einfach  den  Spuren  der  Agronomenautos  nach,  bis  sie  auf  die  roten  und  weißen  Pflöcke, die  Grenzen  der  künftigen  Felder  stießen.  Es  klappte  im großen  und  ganzen  alles  sehr  gut,  und  so  dachte  niemand daran,  den  fünfzig  Traktoren,  die  man  einige  Tage  später, mit  Lebensmitteln  und  Brennstoff  auf  etwa  eine  Woche versehen,  zur  Saat  ausschickte,  einen  Kompass  mitzugeben.  Die  Traktorführer  bekamen  die  ungefähre  Richtung  gezeigt;  man  sagte  ihnen,  dass  sie  zuerst  an  zwei Seen,  dann  an  einem  Birkenwald,  dann  wieder  an  einem See  vorbeikommen  und  dann  schon  das  gepflügte  Feld Nr.  18  sehen  würden,  auf  dem  die  Aussaat  beginnen  sollte. Im  Übrigen  seien  die  Spuren  der  Pflügerkolonnen  noch deutlich  sichtbar.  Sie  fuhren  also  los.  Am  nächsten  Tag traf  jedoch  der  Chefagronom  auf  Feld  18  niemand  an.  Die alarmierte  Verwaltung  schickte  zuerst  ein  Auto,  dann einige  Motorradfahrer,  zuletzt  alle  verfügbaren  Autos und  Reiter  aus,  um  die  Traktoren  zu  suchen.  Man  fand aber  nicht  einmal  eine  Spur,  weil  ein  heftiger  Regen  alle Fährten  verwischt  hatte.  Nach  sieben  Tagen  voller  Spannung  und  Aufregung  traf  endlich,  gerade  als  man  Flugzeuge  zur  Suche  einsetzen  wollte,  aus  einer  tausend  Kilometer  weit  entfernten  Eisenbahnstation  die  Meldung  ein, dass  die  Traktoren  dort  angekommen  seien.  Was  war  geschehen?  Die  Kolonne  hatte  sich  im  Sturm  verirrt  und  war am  nächsten  Tag  einer  vermeintlichen  Spur  gefolgt,  die plötzlich  aufhörte.  Man  versuchte  sich  nach  den  Seen und  Wäldern  zu  orientieren,  aber  alle  Steppenseen  gleichen  einander,  und  ein  Birkenwald  sieht  aus  wie  der andere. 
    Am Morgen des dritten Tages beschloss man in einer Richtung weiterzufahren, in der, nach der Meinung einiger Traktorführer,  größere  Kasachensiedlungen  liegen  mussten.  Man  traf  auch  im  Laufe  des  Tages  auf  zahlreiche  Jurten,  sie  waren  aber  alle  verlassen:  offenbar  hatten  ihre Bewohner  vor  der  Kolonne,  die  mit  großem  Getöse  einherfuhr  und  riesige  Staubwolken  aufwirbelte,  die  Flucht  ergriffen.  Das  bestätigte  auch  ein  am  Abend  „eingefangener" Kasache,  der  die  Kolonne  am  nächsten  Morgen  endlich  in eine  bewohnte  Siedlung  führte.  Es  stellte  sich  heraus,  dass man  bereits  viel  weiter  vom  Sowchos  als  von  der  Turksibbahn  entfernt  war.  Da  außerdem  die  Brennstoffvorräte zur  Neige  gingen,  entschied  man  sich  für  den  kürzeren Weg.  Man  rastete  einen  Tag  lang  und  gelangte  nach  zwei weiteren  Tagen  ohne  weitere  Abenteuer  an  die  Bahn.  Auf dem  Sowchos  traf  man  allerdings  erst  zehn  Tage  nach  dem Ende  der  Saatkampagne  ein,  die  unter  großen  Schwierigkeiten  mit  Hilfe  eilig  zusammengetrommelter  fremder Traktoren  durchgeführt  worden  war. „Ob  etwas  Ähnliches  noch  heute  vorkommen  kann?  Nein. Bei  uns  hier  wenigstens  nicht.  Erstens  haben  wir  überallhin  Wege  und  Straßen  gebaut,  und  dann  ist  unser  Sowchos auch  nicht  so  riesig.  Allerdings,  mit  europäischen  Maßen gemessen,  ist  es  immer  noch  so  groß  wie  eine  kleine  Provinz!... Aber wenn es Ihnen recht ist, so gehen wir jetzt los!" 
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