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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Aus dem Nachlass des Kollegienrats Ponomarow

Der Wind setzt aus.
Tot, ohne Bewegung, als seien sie in der plötzlich geronnenen Luft erstarrt, stehen die Weizenfelder da, die noch vor einem Augenblick lebendig und unruhevoll waren wie das Meer. Jetzt gleichen sie Theaterkulissen. Die weiße Wolke, die schon seit einiger Zeit an der Grenze von Himmel und Ebene kauert wie ein kleiner, aufgeplusterter Vogel, reckt sich jählings hoch, läuft giftgelb an und blauschwarz, wächst und wächst. Es sieht aus, als fresse sie den Himmel, der - eben noch aus Silber und Glas - mit einem mal stumpf und bleifarben geworden ist wie eine erblindete Spiegelfläche.
Mit einem hohen, singenden Ton kommt der Wind wieder heran gefegt, reißt von der Straße eine Staubfahne hoch und wirbelt sie über das Getreide hin, das sich vor ihm tief neigt, als wolle es sich zu Boden legen. Dann bricht der Regen los, schwer und dicht, so dass man den Eindruck hat, der Ford fahre gegen eine gläserne Mauer an. Der Weg bis zum Dorf, das vorhin kaum zwei Kilometer vor uns gelegen hat, scheint endlos zu dauern wie die Angst eines Träumenden, wie das „Sejtschas!" (Sofort!) eines ländlichen Postbeamten. Aber dann tauchen doch, verschwommen und schattenhaft, die Umrisse der ersten Hütte auf.
Der Motor verstummt.
Mit ein paar Sprüngen sind wir unter dem weit überhängenden Dach. Noch bevor wir klopfen können, geht die Tür auf. Ein junges Mädchen steht auf der Schwelle. „Kommt herein! Seid ihr sehr nass? Ich will gleich den Samowar zurechtmachen." Wir treten ein.
Auf dem Tisch in der Mitte der großen Stube steht eine brennende Petroleumlampe, der größte Teil des Raumes und der „Oberstock" des mächtigen Ofens bleiben im Schatten.
In einer Ecke glimmt ein rotes „ewiges Licht", doch von dem Heiligen auf der Ikone darüber ist nur die Gloriole zu sehen.
An der Fensterwand hängt, von der Tischlampe noch halb beleuchtet, ein Bild Stalins.
Die Ellenbogen aufgestützt, das Kinn in den Händen, sitzen am Tisch zwei Bauern, ein schwarzbärtiger, ein graubärtiger.
Ein dritter, mit langem, schlohweißem Bart, hockt auf der Ofenbank.
Sie erwidern unseren Gruß, bleiben aber sonst stumm.
„Setzt euch", sagt das Mädchen und stellt den Samowar auf den Tisch. „Seid ihr von weither gekommen?"
„Ja, von Nowosibirsk."
„Aber ihr seid nicht Dortige?"
„Nein, wir sind Ausländer."
„Spezialisten?"
„Nein."
„Was tut ihr dann hier?" „Ansehen, was es bei euch Neues gibt." Das Mädchen will weiterfragen, aber der Samowar beginnt zu singen, und sie wendet sich ihm zu. Nun beginnt der Graubärtige zu sprechen:
„Ansehen, was es bei uns Neues gibt... Ja, es gibt viel Neues bei uns. Sehr viel. Zuviel vielleicht." Der Schwarz-bärtige, dessen Gesicht gleich bei den ersten Worten des Alten einen Ausdruck besorgten Misstrauens angenommen hat, macht ihm ein Zeichen, aufzuhören, aber der Alte achtet nicht darauf. „Zuviel Neues gibt es bei uns. Zu rasch geht bei uns alles vor sich. Zu rasch, sage ich. Du hast kaum noch Zeit, zu sehen und zu hören... Aber warum diese Eile? frage ich. Die Erde lässt sich auch Zeit, wenn sie die Frucht reifen macht. Der Vogel beeilt sich auch nicht, wenn er auf den Eiern sitzt. Die Kuh bringt ein totes Junges zur Welt, wenn sie vorzeitig kalbt. Warum hasten dann die Menschen so?"
„Weil wir nachholen müssen, was versäumt worden ist!" sagt das Mädchen laut und in dem Tonfall, in dem man zu Kindern spricht. „Und weil uns die andern vielleicht nicht mehr viel Zeit lassen!"
„Vor unseren Feinden wird uns der Herr beschützen, und wenn sie über uns kommen, so sind sie von ihm gesandt, und nur er wird sie wieder von dannen führen. Alles, was uns heimsucht, ist von ihm gesandt, und nur von ihm kommt dann auch die Rettung."
„Aber nach der Missernte im vorigen Jahr ist die Rettung nicht von ihm gekommen, sondern von den Bolschewiki! Die haben im Frühjahr das Saatgut geschickt, und nicht er."
„Ja, sie haben das Saatgut geschickt, und wir haben säen können, aber es war Gottes Fügung, dass es geschah, wie es Gottes Fügung ist, dass die Bolschewiki über uns..."
Der Schwarzbärtige unterbricht ihn: „Lass das, Vater! Wozu diese Reden? Es hat keinen Sinn. Immer diese alten Geschichten... Und auch die Fremden wollen sicher von anderen Dingen hören."
Wir widersprechen. Im Gegenteil, gerade von solchen Dingen wollen wir hören, der Alte möge doch weitersprechen.
Aber der Schwarze lässt es nicht zu:
„Nein. Es führt zu nichts. Es hat keinen Sinn, über etwas zu klagen, was man im Augenblick..."
Er verstummt, sichtlich mit sich selbst unzufrieden, weil er weitergegangen ist, als er wollte.
Dann sagt er schnell: „Warum auch klagen? Man lebt.
Man wird leben. Es ist schon schlechter gewesen, und es könnte viel schlechter sein. Man muss zufrieden sein."
„Aber man ist es nicht", wendet das Mädchen ein. Und zu uns gewandt: „Sie sind nicht zufrieden, Großvater nicht, und Vater auch nicht. Das Kollektiv im Dorf passt ihnen nicht."
Der Schwarze macht eine heftige Bewegung, als wolle er losfahren, beherrscht sich aber und sagt nur:
„Das Kollektiv kümmert mich nicht, mag es da sein oder nicht."
Ich frage:
„Ihr gehört nicht dazu?"
„Nein", entgegnet der Schwarze, „ich gehe in kein Kollektiv!"
„Und warum?"
Er überlegt einen Augenblick lang, will dann antworten, aber sein Vater kommt ihm zuvor: „Weil er ein Eigentümer ist. Jeder Bauer ist ein Eigentümer. Ohne Eigentum ist er auch kein Bauer mehr." „Ja," pflichtet der Sohn bei, „so ist es. Der Bauer will auf seinem eigenen Grund arbeiten, mit seinem eigenen Vieh, für sein eigenes Haus." Er wird allmählich warm, verliert sein Misstrauen, spricht schneller und eindringlicher: „Ich will sehen, wie meine Arbeit gedeiht, meine eigene Arbeit, verstanden? Wo sehe ich aber, was meine Arbeit ist, wenn ich mit zwanzig andern auf einem Acker schaffe, der uns allen gemeinsam gehört? Wenn ich heute ein Feld pflüge und morgen ein anderes dünge?
Nein, es macht keine Freude, wenn man nicht für sich selbst schafft."
„Aber man kommt weiter, wenn man nicht allein arbeitet", wendet das Mädchen ein, „man bringt mehr zustande, wenn man nach einem großen Plan..." Er fällt ihr, schon ganz heiß geworden, in die Rede: „Ich will keinen großen Plan. Ich bin ein Bauer und habe meinen Bauernverstand. Der weiß von selber, wann gesät und wann geschnitten werden soll; der braucht kein Kommando. Das braucht vielleicht ihr, weil ihr noch zu jung seid."
„Ja", stimmt der Großvater mit ein, „zu jung seid ihr, das ist es, viel zu jung." „Und ihr seid zu alt."
Diese Worte hat nicht das Mädchen gesprochen. Sie sind von der Ofenbank hergekommen, wo der dritte Bauer, der mit dem schlohweißen Bart, sitzt. Wir haben ihn gar nicht mehr beachtet, haben beinahe vergessen, dass er da ist. Er steht jetzt auf und kommt langsam auf den Tisch zu. Sein Gesicht ist braun und rot, aber voller tiefer Falten und Runzeln. Er tippt mit der Krücke seines Knotenstocks die beiden andern leicht an und wiederholt leise und mit Nachdruck:
„Und ihr seid zu alt. Beide. Du und du." Eine Weile herrscht Stille.
Dann fährt er fort. Seine Stimme ist noch leiser geworden; fast scheint es, als spreche er nur zu sich selbst, nicht zu uns andern:
„Aber ihr seid nicht alt genug. Ich bin neunzig, und ihr seid kaum sechzig und eben erst vierzig. Vielleicht ist es gerade das. Ihr seid zu alt, um mit den Jungen zu gehen, und ihr seid noch nicht alt genug, um zu verstehen, dass sie ihren Weg gehen müssen und dass man ihnen Platz machen muss... Ja, das ist es: ihr habt nicht lange genug unter den Zaren gelebt! Ihr habt nicht lange genug die Birkenruten zu spüren bekommen und nur Sonntags chleb s pirogom (Schwarzbrot mit Weißbrot) gegessen! Ihr erinnert euch nicht gut genug daran. Ihr nicht. Aber ich! Oh, ich erinnere mich..."
Er versinkt in Schweigen. Sein Kopf neigt sich. Das Kinn mit dem langen weißen Bart ruht auf der Brust. Es sieht aus, als schlafe er im Stehen.
In die Stille hinein sagt der Vierzigjährige:
„Ja, ja, der Großvater hält's mit den Bolschewiki, aber wenn man ihn fragt, was sie mit diesem oder jenem wollen, weiß er es nicht."
Der Alte hebt den Kopf.
„Es ist wahr, ich verstehe vieles nicht, was sie machen; aber ich verstehe auch nicht, was eine Schrift zu mir sagt, und doch weiß sie anderen viel zu sagen. Ist es die Schuld der Schrift, dass ich nicht verstehe, was sie mir zu sagen hat! Was sie aber nicht wollen, die Bolschewiki - das weiß ich; und ich weiß auch, was ich nicht will. Es ist dasselbe. Das hier!"
Er hebt mit einer schnellen Bewegung die Tischlampe hoch und zeigt zu der Fensterwand hinüber. Neben dem Stalinbild ist jetzt ein Rahmen sichtbar, der eine alte Urkunde umschließt: große, grau gewordene Lettern auf vergilbtem Papier.
Die Glasscheibe darüber hat zwei Sprünge.
Der Alte geht, die Lampe in der Hand, auf die Wand zu.
Er winkt uns.
Wir folgen ihm und lesen:

UKAS SEINER
KAISERLICHEN MAJESTAET
des Selbstherrschers über alle Russen.
Aus der Gouvernementsverwaltung Wladimir:
Der Öffentlichkeit wird hiermit zu wissen gegeben, dass von der Gouvernementsverwaltung auf öffentlichem Markte verkauft werden:
1. Die Stallmagd Sofia Abakirowa, 28 Jahre alt, bewertet mit 80 Rubel, letzter Besitzer Grigori Christoforowitsch Barulin;
2. Die Stallmagd Nastassja Tschurikowa, 24 Jahre alt, bewertet mit 75 Rubel, letzter Besitzer Michail Solikowski;
3. aus dem Nachlass des Kollegienrates Ponomarow, Jewgeni Alexandrowitsch, der Bauer Pantelej Trofimow mit Frau Jelena Pawlowna und einem einjährigen Knaben, ohne Land, bewertet mit 60 Rubel, jährlicher Ertrag 5 Rubel.
So Käufer vorhanden sind, mögen sie sich wegen des Kaufs bis zum 1. Oktober d.J. an die obengenannte Gouvernementsverwaltung wenden, die von der Kaufabsicht vorher zu unterrichten ist. Gegeben in der Stadt Wladimir, den 20. Juli 1843

„Lies!" sagt der Alte zu dem Mädchen. Das Mädchen beginnt vorzulesen, laut und langsam. Wie sie an die Stelle kommt, wo von dem einjährigen Knaben des Bauern Pantelej Trofimow die Rede ist, unterbricht sie der Alte:
„Wo steht das? Der Name von dem Mann, von der Frau und das von dem Kind? Zeig es genau!"
Sie zeigt es ihm.
Er hebt seinen Stock, klopft dreimal sacht auf das Glas, auf die Stelle, auf die sie gewiesen hat, und sagt: „Das waren wir: mein Vater, meine Mutter und ich... aus dem Nachlass des Kollegienrats Ponomarow..."

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