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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Briefe aus dem Rheinland und aus Manitoba

Eine Motorpanne.
„Wir müssen zusehen, dass wir Pferde oder einen Traktor auftreiben, der den Ford zur nächsten Schmiede schleppt", sagt der Schofför. „Wir wollen einmal die Leute fragen, an denen wir vorhin vorbeigefahren sind, kommt!" Wir gehen zurück bis zu einem Feld mit Erntearbeitern. Sie machen gerade Rast, liegen im spärlichen Schatten der Traktoren, Wagen und Maschinen, essen und rauchen. Wir sehen bunte Russenhemden und Mushikbärte, aber wir hören deutsche Worte.
„Deutsche?" fragen wir die erste Gruppe, zu der wir kommen.
„Ja. Deutschsibirjaken. Und ihr? Ihr seid wohl Deutschländer?" „Wie?"
Ein Mann mit einem ausgefransten, breitkrempigen Strohhut belehrt uns:
„Er meint: ob Sie aus Deutschland sind. Wir nennen nämlich die Landsleute aus dem Reich ,Deutschländer' zum Unterschied von den Wolgadeutschen, den ukrainischen und kaukasischen Schwaben und von uns Deutschsibirjaken."
Die Lagernden haben sich erhoben und umdrängen uns. Sie lassen den Mann mit dem Strohhut nicht weiterreden.
Sie überschütten die „Deutschländer" mit einer Flut von Fragen:
Ob es den Bauern in Deutschland auch so schlecht gehe, wie dem Kolchosbauer hier?
Ob es den Bauern in Deutschland auch so gut gehe, wie dem Kolchosbauer hier?
Ob der Bauer in Deutschland auch so seine Sorgen habe, wie hier der Kolchosbauer? Der Mann mit dem Strohhut erläutert: „Sie haben hier Leute aus drei verschiedenen Kollektiven vor sich, deshalb die verschiedenen Meinungen. Die Zufriedenen sind von der Kommune ,Karl Liebknecht' bei Steelechutor. Dort die, die so schimpfen, kommen aus dem Kolchos ,Neuer Acker' in Ebenfeld. Und die anderen gehören zu dem Kollektiv ,Rote Front', auf dessen Feld wir hier stehen."
Der Schofför kommt auf uns zu und ruft: „Alles in Ordnung. Wir werden von einem Traktor nach Rownaja Poljana geschleppt, dort gibt es eine kleine Schmiede. Los, gehen wir!"
„Schon? Können wir nicht noch ein wenig bleiben?" „Nein, das geht nicht. Wir haben keine Zeit. Die Reparatur wird sicher eine ganze Weile dauern, und wir haben noch einen sehr weiten Weg vor uns. Und außerdem muss der Traktor gleich losfahren, damit er zurück ist, wenn die hier nach der Rast wieder zu arbeiten anfangen. Unsertwegen darf die Ernte nicht verzögert werden!" Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Wir verabschieden uns.
Der Mann mit dem Strohhut merkt offenbar, wie ungern wir gehen, ohne mehr von den Menschen hier erfahren zu haben.
„Wenn es Ihnen recht ist", sagt er, „begleite ich Sie bis Ebenfeld, so heißt Rownaja Poljana auf Deutsch. Sie werden allerdings keinen sehr guten Eindruck von unseren deutschsibirischen Dörfern mit nach Hause nehmen; Ebenfeld ist nämlich unser ,schwarzes Schaf, das deutsche Dorf mit dem schlechtesten Ruf. Sie haben ja gehört, wie die Bauern vom ,Neuen Acker' jammern. Was? Gerade ein solches Dorf interessiert Sie? Na, dann los!" Unterwegs erzählt er.
Er ist Lehrer und leitet die Schule in Protopopowka beim Kolchos „Rote Front". Er war Bauer. Er stammt aus Wolhynien, aus einem der reichen deutschen Kolonistendörfer, deren Bewohner zu Kriegsbeginn in den Osten und Süden verschickt wurden. So kam er nach Sibirien. Er hatte gerade seinen neuen Hof einigermaßen in die Höhe gebracht, als die Revolution ausbrach.
„Ich war gegen die Sowjets, gegen die Bolschewiki. Fast alle sibirischen Bauern waren im Anfang gegen sie. In Sibirien herrschten nämlich ganz andere Verhältnisse als in Russland. Feudalen Großgrundbesitz gab es so gut wie gar nicht, es fehlte infolgedessen der Gegensatz zwischen einer kleinen Herrenschicht und einer Riesenmasse halb leibeigener Bjednjaki (Kätner), wie drüben. Gewiss, es gab auch hier reiche Bauern, sehr reiche sogar, aber sie waren doch nur Bauern und nicht Pomeschtschiki (Großgrundbesitzer), und dann gab es auch viel mehr Mittelbauern. Die Parole von der Aufteilung des Großgrundbesitzes zog hier nicht, auch nicht bei der Dorfarmut. Die war vor allem kriegsmüde; man sagte ihr, der Bolschewismus bringe neuen Krieg, Bürgerkrieg, man müsse die Sowjets beseitigen, dann gäbe es Frieden, - und diese Agitation hatte Erfolg: im Sommer achtzehn gab es in Sibirien keine Sowjets mehr!
Bis dann die Koltschakmobilisierung kam. Zwangsaushebung, Requisitionen, Krieg, alles war auf einmal wieder da! Nun setzte der Umschwung ein. Zuerst desertierten die Bauern nur; die männliche Bevölkerung ganzer Dörfer ging in die Wälder. Als die Koltschaktruppen und die tschechischen Legionen diese Dörfer durch Strafexpeditionen brandschatzen ließen, verwandelten sich die Deserteure in Partisanen.
Auch bei mir war das so. Die Tschechen steckten meinen Hof an und trieben das Vieh weg. Da ging ich zu den Partisanen. Später trat ich in die Rote Armee ein und machte den ganzen sibirischen Feldzug mit, von neunzehn bis zweiundzwanzig, bis zur Befreiung von Wladiwostok. Zuerst als Soldat, dann als ,Liquidator' (Anm.: Helfer zur Liquidierung des Analphabetentums.) und Lehrer. Nach der Demobilisierung wurde ich als Schulorganisator hierher in die deutschen Dörfer des Nowo-Omsker Bezirks geschickt. Jetzt leite ich schon seit sechs Jahren die Viergruppenschule in Protopopowka. Wir sollten diese Schule eigentlich schon längst in eine Siebengruppenschule umwandeln, wir haben auch schon das Geld dafür und die Lehrmittel, aber es fehlen die Lehrkräfte. Na, im Herbst bekommen wir einen Hilfslehrer, dann wollen wir sehen." Wir fragen ihn über das Leben in den deutschen Dörfern aus. Vor allem wollen wir wissen, warum die Bauern vorhin so verschieden über die Kolchose urteilten. „Weil die Kolchose verschieden gedeihen. Da sind zum Beispiel die zwei Kommunen ,Liebknecht' und ,Luxemburg', in denen klappt alles. Es gibt keine Unstimmigkeiten, die Arbeit geht gut voran, und die Kommunen kommen sichtlich hoch. Die ,Liebknechter' bauen jetzt schon den zweiten großen Stall, und die ,Luxemburger' schaffen den sechsten Traktor an! Beide Kommunen haben trotz Dürre und Misswuchs den Winter und Frühling gut überstanden, und den diesjährigen Anbauplan haben sie zu hundertzehn Prozent erfüllt. Nach der Ernte wollen sie sich neue Kinderkrippen und Klubs einrichten. Im Kolchos ,Rot Front' in Protopopowka sieht es nicht ganz so günstig aus. Dieses Kollektiv ist eben nicht so aus einem Guss. In den zwei Kommunen sind die Mitglieder alle Häusler gewesen. In unserem Kollektiv ,Rote Front' gibt es auch ehemalige Kleinbauern und Mittelbauern. Sogar Großbauern hatten wir eine Zeitlang dabei. Von denen ist das Kollektiv ja auch gründlich heruntergewirtschaftet worden, sie sabotierten, wo sie konnten. Vor zwei Jahren haben wir sie dann lischiert (der Bürgerrechte entkleidet), und sie wurden ausgesiedelt. Jetzt kommt das Kolchos langsam hoch, aber im vorigen Jahr haben wir noch immer nicht mehr als vierundzwanzig Kopeken für den ,Arbeitstag' herausschlagen können. Na, dafür kommen wir in diesem Jahr bestimmt über die fünfzig!"
Ja, es gibt auch noch Einzelbauern in Protopopowka: vier Wirtschaften mit etwa dreißig Köpfen. Warum die nicht mit im Kolchos sind? „Einen, den Tischler Lochmann, hatten wir drin, aber der war mit seinem Anteil nicht zufrieden, stellte ständig neue Forderungen und fing mit jedem Streit an; wir mussten ihn wieder ausschließen. Und die andren sind entweder Verwandte der ausgesiedelten Kulaken und wollen vom Kolchos nichts wissen, oder es sind solche, denen es einfach gegen den Strich geht... Nein, nein, keine Mennoniten! Es gibt zwar in der Gegend eine Menge Mennoniten, ganze Dörfer sogar, aber in Protopopowka selbst haben wir keine. Und übrigens haben sich die Mennoniten mit der Kollektivierung und dem Sowjetleben ausgesöhnt, seit ein paar von den im Jahre dreißig ausgewanderten Familien wieder zurückgekommen sind und andere ihren hier gebliebenen Verwandten lange Jammerbriefe schreiben, wie schlecht es ihnen in Deutschland und Kanada geht, und wie gern sie wieder hier wären. Aber unsere Einzelbauern in Protopopowka sind einfach Dickschädel, die auf ihrem eigenen Grund und Boden wirtschaften wollen, auch wenn es ihnen dabei schlechter geht als den Kolchosmitgliedern. Als sie dieses Frühjahr infolge der vorjährigen Missernte kein Saatkorn hatten, haben sie sich auf dem Staatsgut verdingt, aber ins Kolchos sind sie nicht. Dickschädel, richtige Dickschädel! In den Jüngeren dämmert es aber schon, die machen bestimmt nicht mehr lange mit, neulich sind sogar ein paar in unserer Versammlung gewesen."
Die Nachricht von unserer Ankunft hat sich in Ebenfeld rasch herumgesprochen. Wir sind von einem dichten Haufen umringt.
„Wie kommt es denn, dass so viele Männer zu Hause sind, wo doch die Ernte schon begonnen hat?" fragen wir einen Bauern, einen kleinen Kerl mit rundgebogenen Beinen. „Nur auf den Kolchosfeldern", gibt er zur Antwort, „nur auf den Kolchosfeldern, und auch nur auf denen vom Kolchos ,Rote Front', na, und eine Brigade vom hiesigen Kolchos arbeitet dort ja mit."
„Warum denn nur eine?"
Der Rothaarige zuckt mit den Achseln.
Das wisse er nicht.
Er sei Einzelbauer, gehöre nicht zum Kolchos, wahrscheinlich sei es so ausgemacht.
Ein anderer, mit einer Adlernase und feuerrotem Bart, sagt:
„Mach doch keine Krutschki, Schorsch, sag's wie es ist! Wegen einer Arbeit fürs Kolchos reißt sich eben niemand ein Bein aus. Hab ich recht, Bauern?" Die andern bleiben stumm.
„Na ja, sie sagen es nicht, aber es ist so!" behauptet der Rotbärtige.
Ob er im Kollektiv ist, erkundigt sich Alex. Nein. Aber er sehe doch, wie es im Kollektiv zugeht.
„Die paar, denen es im Kollektiv gefällt, kann man an den Fingern abzählen. Das sind frühere Hungerleider. Aber die andern? Ihr müsst wissen, was Ebenfeld früher einmal war! Das reichste Dorf im ganzen Bezirk! Ein Hof schöner als der andere! Fast jeder Bauer hatte ein paar Knechte. Aber jetzt ist man ja ein Kulak, wenn man Knechte beschäftigt und einen schönen Hof hat und so wirtschaften will, wie man früher gewirtschaftet hat. Und den Kulaken setzen sie in den letzten Jahren bös zu!" „Ja", meint ein anderer, „wenn man einmal aus dem Vollen gewirtschaftet hat, auf dem eigenen Hof und nach dem eigenen Kopf, und jetzt auf einmal soll man Kleinbauer werden oder nach irgendwelchen Richtlinien arbeiten, die sie auf einem sobranije (Versammlung) beschlossen haben... nein, nein..."
Langsam werden alle warm. Einer nach dem andern beginnt zu sprechen:
„Das ist kein Leben für einen deutschen Bauern. Der will allein wirtschaften, nicht mit anderen zusammen!" „Ganz recht, das mag etwas für Baschkiren oder Kirgisen sein, vielleicht auch für Russen, vielleicht auch für die Deutschen, die früher keinen eigenen Grund hatten, aber was ein richtiger Ebenfelder Bauer ist, passt nicht ins Kolchos!"
„Nichts klappt. Wie soll es auch klappen? Bauern, Häusler und Knechte, alle in einem Topf, und alle haben gleich viel zu sagen, - wie kann da richtig gewirtschaftet werden?!" „Das Kollektiv ist auch danach. Ich sage: wir gehen zugrunde. Dreißig Pud Mehl habe ich für das ganze Jahr bekommen, dreißig Pud für sieben Mäuler!" „Wieso nur dreißig Pud?" fragt der Lehrer, „drei Kilo für den ,Arbeitstag' machen doch über fünfzig Pud im Jahr aus. Oder habt ihr weniger als drei Kilo pro Tag bekommen?"
„Ach wo", sagt der mit dem Feuerbart und grinst, „sie haben drei Kilo für den Trudodjen bekommen, aber sie reißen sich eben für das Kolchos kein Bein aus; sie machen mehr blau als sie arbeiten!"
Der Kolchosvorsitzende hat uns in sein Haus eingeladen. Wir sitzen in der großen, niedrigen Bauernstube mit den frischgeweißten Wänden und den blankgescheuerten, sandbestreuten Dielen, in dieser Stube, deren mächtiger Ofen mit Schlafplatz an Sibirien und deren Schwarzwälder Uhr und bunte, schwäbische Teller an Deutschland erinnern.
„Wir werden den ,Neuen Acker' schon noch ins richtige Geleise bringen. Lasst nur erst einmal unsere Bauern helle werden", versichert der Vorsitzende. Er wird von seiner Frau unterbrochen. Die stellt den Samowar auf den Tisch und schenkt Erdbeertee ein. „,Lasst sie nur helle werden' - du meine Güte, das wird noch hübsch lange dauern!" Der Mann wiegt den Kopf und entgegnet: „Soll es noch eine Weile dauern! Einmal werden sie doch helle. Du bist es ja auch geworden." Und zu uns gewandt: „Vor einem Jahr noch wollte sie vom Kolchos nichts wissen. Da hieß es immer: ,Ach du mit deinem albernen Kolchos, alle Zeit und Arbeit steckst du hinein, und es kommt doch nichts dabei heraus, dich und die ganze Familie richtest du damit zugrunde!' Ja. Und heute? Heute ist sie mit drin in der Kolchosleitung und möchte die Bauern am liebsten mit der Forke zu Disziplin und Planerfüllung erziehen... Na ja, ich weiß, es sind Briefe gewesen, aber ich sage dir: wo es nicht ein Brief ist, ist es eben was anderes, und wenn das Kolchos erst einmal überm Berg ist, dann sollst du sehen, wie sie von selbst dahinterkommen, was vorteilhafter ist. Da braucht es keine Briefe mehr!" Wir fragen, was das für Briefe sind.
„Von meinen Brüdern aus Manitoba, in Amerika, und von einem Soldaten aus Köln!" antwortet die Frau. „Na, zeig sie schon her, Kathrin; ja, ja, geh nur und bring das Buch her, es sind ja keine Geheimnisse." Die Frau sperrt die große, geschnitzte Truhe, die neben der Ofenbank steht, auf und holt ein dickes Album mit dunkelgrünen Plüschdeckeln hervor. Wir schlagen es auf. In den blassrosa Kartonblättern stecken Ansichtskarten, Fotografien und Briefe. Hier der wolhynische Bauernhof, auf dem die Frau geboren wurde; hier sie selbst als junges Mädchen mit ihren Eltern und Geschwistern. Noch eine Familienaufnahme, noch eine, dann ein Einzelbild: ein Bursche in viel zu weitem Ölzeug, einen Südwester auf dem Kopf, lehnt an einer Boots-Atrappe und starrt auf die Kokospalmenpracht einer mit Liebe gepinselten Südseelandschaft. Darunter „Gruß aus Riga". Die Frau erklärt:
„Mein ältester Bruder. Er ging neunzehnhundertacht nach Amerika hinüber."
Karten, Briefe, Bilder von drüben. Die Schriftzüge ändern sich, sie werden sicherer, geschmeidiger, nachlässiger, und auch die Unterschrift ändert sich: zuerst grüßt: „Euer Sohn und Bruder Wilhelm", später: „Euer Will" und zuletzt nur noch: „Bill".
Das Bild eines anderen Bauernjungen in Südwester und Ölzeug, diesmal vor einem Hintergrund „stürmische See" mit Sturmvögeln über weißen Wellenkämmen. „Mein Bruder Heinrich. Er ist ein Jahr nach Wilhelm hinübergegangen."
Dann eine Hochzeitsgesellschaft. In der Mitte die Frau, jung, drall, in schwäbischer Tracht, neben ihr ein Bursche, in dem wir nur schwer den Kolchosvorsitzenden erkennen, ein geschniegelter Sohn der Steppe in hohen, glänzenden Röhrenstiefeln, enganliegenden Hosen, weißem Tscherkessenhemd und mächtiger Lammfellmütze. Ein paar Seiten weiter ist von der Hochzeitspracht nicht mehr viel übrig. Das Schwabenmädchen steckt in einem abgerissenen Pelz und hat ein dickes Tuch um die Ohren gebunden, und der verführerische Sohn der Steppe trägt Filzstiefel und einen viel zu weiten Schafsfellmantel. „So sind wir in Sibirien angekommen. Das war im ersten Kriegswinter. Alle deutschen Kolonisten in Wolhynien mussten binnen drei Tagen ihre Höfe verlassen; mitnehmen durfte man bloß, was auf die Karren ging. Aber im Herbst darauf hatten wir schon dieses Haus hier unter Dach. Da, sehen Sie, so hat es früher ausgesehen! Im Jahre sechzehn. Mein Mann war damals eingezogen, an der türkischen Front."
„Und wer sind die beiden Männer hier neben Ihnen vor dem Haustor?"
„Pastor Behrens und Herr Putz, zwei Kriegsgefangene, die uns als Knechte zugeteilt waren. Aber sie arbeiteten nicht viel; der Pastor überhaupt nichts und Herr Putz nur soviel, um nicht einzurosten, wie er immer sagte. Sie bekamen beide von daheim Geld geschickt, durch das Rote Kreuz, und lebten hier wie die Pensionäre. Der Pastor hat nach seiner Heimfahrt im Jahre achtzehn nichts mehr von sich hören lassen, aber Herr Putz schreibt hin und wieder. Er ist jetzt Warenhausangestellter in Köln." „Aha, der schreibt also die Briefe aus Köln!" „Ja, die müssen noch kommen." Sie überschlägt ein paar Seiten, es ist alles ein wenig durcheinander, Briefe und auch Bilder, sie sind eingeordnet, wie sie kamen. „Nein, das ist Wilhelm. Nicht wiederzuerkennen, was?" Wilhelm, vielmehr Bill, ist wirklich nicht wiederzuerkennen. Nichts erinnert mehr an den Burschen in Südwester und Ölzeug. Er trägt einen karierten Sportanzug mit breiten Knickerbockers, hat zwischen den Zähnen eine Shagpfeife stecken und betrachtet statt der falschen Kokospalmen ein echtes Auto. Unter der Fotografie steht:
„Das ist unser Wochentagsauto. Wir haben auch noch eins fürs Weekend. Es ist eine Studebaker und läuft ohne Mühe 110 km."
Und in dem Brief, der dazu gehört: „...bedauern wir sehr, dass Ihr unter so traurigen Verhältnissen leben müsst. Hier ist alles in großem Aufschwung. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, dass man ohne tractors und combines und die anderen Maschinen worken kann. Heinrich hat sogar einen eigenen Elevator, und wir wollen auch einen bauen. Wenn Ihr herüberkommen könntet..."
„Ja, das war damals," sagt die Frau, „achtundzwanzig! Da ging es ihnen allen gut, Wilhelm und Heinrich und dem Herrn Putz auch." Es ging ihnen wirklich gut.
Bruder Heinrich schickt die Bilder seiner beiden Töchter. „Doll und Neil, die sweet girls. Sie sitzen im Garten von unserem Landhaus. Der Hahn, den Nell auf dem Schoß hält, ist in California geboren, aber er kratzt Mutter trotzdem." Mutter, das ist Schwägerin Carmen Mildred aus Kalifornien. Auch sie ist im Garten ihres Landhauses fotografiert worden; am Ufer eines kleinen Sees mit einer Miniaturgrotte und einem winzigen Ritterschloss aus Zement. Sie hat einen Florentinerhut schief auf dem Kopf und trägt lange, schwarze Handschuhe, die ihr bis über die Ellenbogen reichen; in der Hand hält sie eine Peitsche und lässt auch sonst durchblicken, dass sie eine „Rassefrau" ist, wie ihr Mann schreibt.
„Der Fuchs, den Deine Schwägerin umhat, ist aus Sibirien, und wir denken deshalb oft an Euch Arme", schreibt Heinrich. „Wir möchten Euch eine Kiste Kleider schicken. Sie sind ein wenig getragen, aber noch sehr gut. Schreibt, ob es erlaubt ist."
Herr Putz hat keinen eigenen Elevator und kein Landhaus, auch kann er nicht mit den Bildern von zwei sweet girls und einer Rassefrau aufwarten; er sendet nur „lustige und herzliche Grüße vom Kölschen Karneval". Das deutsche Vaterland leide zwar immer noch an den Folgen von Versailles, aber trotzdem sei Deutschland eben nicht unterzukriegen. Hoffentlich komme auch für die Freunde in Sibirien bald eine bessere Zeit!
„Ja, das war damals!" sagt die Frau nochmals und fügt dann hinzu: „Aber nachher ist es anders geworden." Sie blättert ein paar Seiten um:
Bruder Wilhelms zweites Auto ist verschwunden. „Heinrich hat den Elevator abgestoßen, Doll und Nell sind noch gut dran, dass sie beide Arbeit haben, bei den boys ist es viel Ärger. Ihr könnt Euch keine Vorstellung machen, wie groß die crisis jetzt bei uns ist." Aber zu Weihnachten hofft er über das Schlimmste hinweggekommen zu sein, der Silberstreifen...
„Der Silberstreifen", wirft der Kolchosvorsitzende ein, der mitgelesen hat, „immer wieder schreiben sie, dass er schon da ist, und immer wieder ist es dann Essig damit. Von den zwei Mädels hat auch nur noch die eine Arbeit, und dem Wilhelm seine Farm geht überhaupt ganz kaputt, schreibt seine Frau im letzten Brief."
Bill ist ganz verzweifelt, schreibt sie, der Weizenpreis fällt ununterbrochen; der wheat-pool (die große Verkaufsorganisation der Weizenfarmer) hat Pleite gemacht, es lohnt nicht mehr, anzubauen, die Aussaat kostet mehr als die beste Ernte einbringen kann. „Man wäre besser daran, wenn man eine ganz kleine Farm hätte mit Kartoffeln und Geflügelzucht. So liegen die großen Felder brach und die
tractors und combines verkommen. Man wird neue anschaffen müssen, wenn man wieder anbaut, aber das kostet mindestens 20000 dollars und dann kriegt man den Weizen perhaps nicht los. Bill sagt immer, er versteht die Welt nicht mehr, er hat all das Leben lang ehrlich gearbeitet und jetzt kommt er sich vor wie ein Banker, der bancrupt ist."
„P. S.: Wie sehen eigentlich diese collective-farms aus, von denen man liest, dass sie bei Euch gegründet werden?" Und weiter:
Bruder Heinrich hat sein Landhaus verkauft, Bruder Bill seine Weizenfarm einfach im Stich gelassen. Herr Putz berichtet, dass er Abteilungsleiter geworden ist, aber leider nur noch 175 Mark im Monat verdient und einen neuen Gehaltsabbau schon kommen sieht. Wie er dann mit dem Gehalt auskommen solle, wisse er nicht; es reiche jetzt schon kaum:
„Heute kann ich mich leider nicht mehr so vollschlagen wie damals bei Ihnen, ich bin froh, wenn wir nicht hungern. Gerade jetzt sitzen wir nach dem Abendbrot da, aber ich könnte ruhig noch eins vertragen. Und wenn ich erst daran denke, wie gut ich mich bei Euch gefühlt habe! Euch geht es gewiss hart, aber Ihr habt doch nicht die furchtbare Angst, die auf uns allen liegt. Ihr sprecht doch immer von der Zukunft. Bei uns wären alle froh, wenn es wenigstens wieder so würde wie in der Vergangenheit. Unser armes Deutschland ist in einer entsetzlichen Lage, und ich wünsche mir manchmal, ich wäre wieder, wie damals, in Sibirien!"
Der Schofför erscheint.
„Der Motor läuft wieder, wir müssen weiter!" „Schreibt einmal!" sagt der Mann.
„Gut, wir werden schreiben. Kommen unsere Briefe dann auch in das Album?"
„Nein!" antwortet er lachend, „ihr kommt nicht mehr hinein. Erstens ist kein Platz mehr, und zweitens haben wir keine Zeit zum Einkleben, nicht wahr, Kathrin?" „Klar!" meint die, „wir haben doch auf der Kolchosenkonferenz versprochen, dass wir aus dem ,Neuen Acker' das beste Kolchos im Bezirk machen. Und da werden wir noch gehörig zu tun haben, bevor es soweit ist, das könnt ihr euch denken."

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