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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Ein anderes Klondike

Kein zweites Klondike
„Gleich werden wir dort sein!" sagt der amerikanische Ingenieur, der schon seit Moskau mit uns im gleichen Abteil reist und fast die ganze Fahrt über von Magnitogorsk erzählt hat, der neuen großen Hochofenstadt am Fuß der Magnetberge, mitten in der Steppe des südlichen Ural. Er steht jetzt neben uns am Korridorfenster des Waggons und starrt, wie wir, in den milchigen Morgennebel hinaus, der die Weite der braunen, welligen Ebene nur ahnen, nicht messen lässt. Der Zug fährt ganz langsam; die Strecke ist noch im Bau; links neben uns wird der Bahndamm erst aufgeschüttet; die Schwellen, über die wir fahren, liegen unmittelbar auf dem Steppenboden. „Gleich sind wir dort! Schade nur, dass es so neblig ist. Und dass Sie mit dem Zug ankommen. Sie hätten eigentlich, wie man es noch vor drei Jahren musste, weil die Bahn damals nicht weiter ging, von Troizk aus einen Wagen nehmen sollen. Den Karrenweg von dort nach den Magnetbergen vergisst man nicht! Er ist wie aus einer Geschichte von Jack London. Man kann auch in der Nacht von ihm nicht abirren, obwohl nur ein Bündel flacher Wagenspuren durch die baumlose, einförmige Steppe führt, - es liegen nämlich zu beiden Seiten Pferdeskelette, eines neben dem andern; buchstäblich: eines neben dem andern, zwei Reihen weißer Gerippe von Troizk bis Magnitogorsk!... Ich glaube, es ist dieser Weg gewesen, der in mir, gleich bei meiner ersten Reise hierher, die Erinnerung an die Erzählungen meines Onkels wachgerufen hat, eines alten Goldsuchers, der die sagenhafte Entwicklung von Klondike miterlebt hatte... Ja, und seither muss ich jedesmal, wenn ich nach einer Dienstreise oder nach einem Urlaub hierher zurückkomme und sehe, um wie viel Magnitogorsk in der Zwischenzeit gewachsen ist, an die Goldsucherstadt in Kalifornien denken. Ein zweites Klondike! Das gleiche, rasend schnelle Wachstum; die gleiche fieberhafte Arbeit; das gleiche Gewirr von Sprachen, Rassen und Generationen! Nur dass es hier nicht um Gold geht..." Die Lokomotive stößt einen langgezogenen, schrillen Pfiff aus und beginnt schneller zu fahren. Als habe er nur auf ein Signal gewartet, springt der Wind auf und wirbelt den Nebel hoch.
Vor uns liegen gelbe und braune Blockhäuser; graue Wellblechschuppen, davor lange Reihen roter Lastwaggons; drahtumzäunte Stapelplätze mit wirren Haufen von Kisten, Ballen, Fässern und Säcken. Vor uns leuchten bunte Signallampen auf. Wimmelnde Menschen, Lokomotiven, Draisinen und Krane; vielfältiger Lärm. Der Zug hält.
„Magnitogorsk! Endstation! Alles aussteigen!" Der Iswostschik vor dem Bahnhof verlangt für die Fahrt zur Bau- und Betriebsleitung fünfzehn Rubel. „Goldsucherpreise!" bemerkt Alex sachverständig, „der Yankee hat recht gehabt. Wir sind in Klondike, und der Kerl hier glaubt, du trägst die Goldnuggets lose in der Hosentasche. Komm, wir fahren mit dem Autobus! Wenn wir uns gleich anstellen, kriegen wir vielleicht im dritten schon einen Platz!"
Aber ich möchte doch lieber mit dem Wagen fahren. Erstens, weil dann das Schlange stehen fortfällt, zweitens, weil wir eine ganze Menge Gepäck haben, und schließlich - aber das sage ich Alex nicht- weil ich eine sentimentale Schwäche für diese immer seltener werdende Sorte von Iswostschiks habe, deren Schläue ebenso gewaltig ist wie ihre Körperkraft, die sich bissig und harmlos, philosophisch überlegen und kindlich heiter geben können, und deren blumige Sermone nicht weniger lang und verschlungen sind als ihre Patriarchenbärte. Nach einigem Feilschen habe ich ihn denn auch so weit, dass er uns für sieben Rubel fährt. Dafür müssen wir ihm unterwegs Antwort auf hundert Fragen geben: warum Mister Ford nur noch an vier Tagen in der Woche Autos fabriziert und wie viel ein Pud Heu in Deutschland kostet; ob wir nicht bald Revolution machen und was ein Iswostschik bei uns im Tag verdient.
Dann erzählt er von seiner Frau und seinen vier Söhnen und den Frauen und Kindern seiner Söhne, und davon, was sein Vater immer gesagt hat, wenn ein Pferd neu beschlagen werden musste, und was seine Mutter immer getan hat, wenn eines ihrer Kinder krank wurde... und ganz zum Schluss, wie schon der rote Steinwürfel des Verwaltungsgebäudes und der ockerfarbene des „Zentralhotels" vor uns auftauchen, beginnt er schnell noch davon zu erzählen, wie es vor dreißig Jahren um die Magnetberge herum aussah. Er war damals schon hier und hat jeden Winter Erz nach Bjelorezk gefahren. „Achtzig Kopeken zahlten die Eisenhütten in Bjelorezk für das Pud. Ja. Du brauchtest das Erz gar nicht zu graben oder loszuhacken, es lag oben auf dem Atatschberg frei zutage. Du musstest nur das kleine Geröll in den Schlitten schaufeln, und fertig. Noch siebzehn haben wir es so gemacht. Wir waren unser ein ganzes Hundert, alles Bauern aus Magnitnaja; aber man fuhr nur im Winter; und auch da nur vier oder fünf Wochen lang. Ja. Das ganze übrige Jahr kümmerte sich niemand um den Atatsch, der lag da wie die Wildnis, ganz einsam und verlassen. Ein paar Kirgisen hatten im Sommer hier ihre Jurten. Noch vor vier Jahren waren wir kaum fünfhundert Menschen. Und heute sagen sie, es sind schon dreihunderttausend. Und in einem Jahr werden es vielleicht doppelt soviel sein. Es geht zu, sagen sie, wie drüben in Amerika!"
Von dem Fenster des Zimmers aus, in dem der frühere Metallarbeiter und jetzige Rote Direktor des Magnitogorsker Kombinats arbeitet, überblickt man einen großen Teil des werdenden Industriegeländes, einen Teil jener siebentausend Hektar, die man aus einem jahrhundertelangen Steppenschlaf gerissen, die man aufgewühlt, mit Holz, Stein, Eisen und Zement gespickt und in Baugruben, halbfertige, zu drei Viertel fertige, ganz fertige Werksabteilungen, Wohnhäuser und öffentliche Gebäude verwandelt hat. Man sieht das Gewimmel der Menschen, Pferde, Wagen, Autos, Lokomotiven, Loren, Draisinen, Raupentraktoren, Erdbagger, Betonmischmaschinen und Krane; man hört den verworrenen Lärm von Stimmen, Signalen und Arbeitsvorgängen, - aber man kann nicht unterscheiden: wo hört ein Bauplatz auf und wo fängt eine schon in Betrieb genommene Fabrikswerkstatt an, wo wird noch gebaut und wo wird schon produziert. „Ein zweites Klondike?" sagt der Direktor. „Nein, Sie können das im Deutschen viel besser sagen; es heißt dann dasselbe und bedeutet doch auch das Gegenteil: ein anderes Klondike!... Ein anderes, denn die Sache, um die es hier geht, ist grundverschieden von der, um die es dort ging. Ich meine natürlich nicht den Unterschied zwischen
Eisen und Gold, ich meine den Gegensatz zwischen Gemeinwohl und Profitinteresse, zwischen Planwirtschaft und Raubbau, zwischen Sozialistischem Wettbewerb und Konkurrenzkampf bis aufs Messer. Klondike, das war eine Art Spielhölle, man konnte gewinnen, aber die meisten kamen in der Hölle um; Magnitogorsk ist ein sozialistischer Betrieb, er erzeugt nicht nur Güter, er formt auch Menschen. Unter den Jungarbeitern, die siebzig Prozent unserer Belegschaft ausmachen, haben wir schon heute elftausend Komsomolzen. Diese Elftausend sind unsere besten Arbeiter: sie organisieren den Sozialistischen Wettbewerb, sie ,bugsieren' die säumigen Teile der Belegschaft, sie sorgen für Disziplin, sie machen sich mit einer unglaublichen Energie und Schnelligkeit die komplizierte Technik unserer neuen Bau- und Produktionsmethoden zu eigen; sie haben beispielsweise den ganzen zweiten Hochofen montiert, ohne Holzgerüste und in einem Bruchteil der Zeit, die wir zur Montage des ersten Ofens brauchten, sie haben die Hauptarbeit am Staudamm geleistet, sie haben die beste Koksbatterie gebaut, sie arbeiten auf dem am weitesten vorgeschrittenen Horizont der Erzgrube, sie sind überall dort, wo es schwer und gefährlich ist! Aber das sollen Sie sich nicht erzählen lassen, das müssen Sie selber sehen. Gehen Sie und machen Sie Augen und Ohren so weit wie möglich auf! Sie werden erkennen, es ist ein anderes Klondike!"

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