Der Schuster
  Über den klaren Himmel reckten sich gierig die Wolkenzungen und leckten den ganzen strahlenden, blauen Glanz ab. Wie bei einem Schiff, dessen Anstrich man abkratzt, trat schmutziges Grau und rostiges Braun zutage. Die stumpfrosa Reflexe, die eben noch in den flachgewölbten, schmalen  Fenstern  der  Moschee  genistet  hatten,  erblindeten,  und  die  Schatten  sickerten  eilig  in  die  Erde.  Über  der Straße  erhob  sich  eine  dichte  Staubwolke  und  flatterte  wie der  gelbe  Beschmet  eines  galoppierenden  Kosaken.  Dahinter  schimmerte  das  Meer,  -  Blei  jetzt,  nicht  mehr  Silber.  Jählings  prasselte  der  Platzregen  los,  zuerst  einzelne ungeheure  Tropfen,  dann  Strahlen,  dann  Sturzbäche.  Eilig flüchteten  wir  in  die  nächste  Hütte,  eine  schiefe,  kleine Holzbude  ohne  Fenster. 
    Das Licht der rußenden Lampe geriet in zitternde Aufregung und verzerrte die Konturen von Mensch und Ding. „Können wir bleiben, Genosse, bis der Regen vorbei ist...?" 
    Inmitten eines Haufens alter Schuhe saß ein spitzbärtiger Mann. An den Wänden hingen Pantöffelchen aus Ziegenleder, himbeerfarbene und zitronengelbe, und Röhrenstiefel mit blanken Schäften. „Bleibt..., aber schließt die Tür gut zu..." 
    Er machte eine einladende Bewegung nach der primitiven Bank hin, die neben der Tür stand. 
    Das Licht hat sich beruhigt. Das Trommeln des Regens wird nur übertönt durch die Hammerschläge des Schusters, der eine frische Sohle auf einen alten Schuh nagelt. „Ihr seid Ausländer...?" „Ja...  Tschechoslowaken..." 
    Der Spitzbart beugt sich tiefer über die Arbeit, hämmert, schweigt. 
    Der Rauch seiner kleinen Pfeife steigt kerzengrade in die Höhe, wie der weiße Stängel einer fremdartigen Blume, und duftet nach dem bunten Gewimmel östlicher Städte, nach Bazaren, winzigen Kaffeestuben, winzigen Gewürzläden... 
    Mit einem Male sagt er: 
    „Ein kleines Land, ja... aus einem kleinen Land seid ihr gekommen und unser Land ist groß... aber übrigens, was ist Größe und Kleinheit, was sind menschliche Maße überhaupt, angesichts der Grenzenlosigkeit des..." Er verstummt. Nimmt die Pfeife aus dem Munde und starrt auf den dünnen Rauchfaden, die fremdartige Blume, die nach östlichen Bazaren duftet. Woran denkt er? 
    Welche Mäanderwege nehmen seine Gedanken, die soeben von den zufällig in seine Hütte hereingeschneiten Fremden  zu  der  Grenzenlosigkeit  des...  ja  wessen  nur?... vorgestoßen  sind? 
    Schuster sind ein besonderes Volk. Man weiß eigentlich nie so recht, was überhaupt in ihnen steckt. Sie sitzen mit gekreuzten Beinen da, handhaben Hammer oder Ahle, und das Werk ihrer Hände ist im wahrsten Sinne des Wortes in den Staub der Erde gebannt; ...und zur selben Zeit schweifen ihre Gedanken über Himmel und Erde nach letzten Dingen... 
    Hans Sachs war Poet, und der Tscheche Thomas Bata, der Ford unter den Schustern, stellt tiefgründige Untersuchungen an über die Schädlichkeit des Klassenkampfes und mangelhafter Fußpflege und die Nützlichkeit des Fußballspieles und seriöser Lektüre... und verkündet die gefundenen Weisheiten in seiner eigenen Zeitung und in hundert Reden und Aussprüchen, die - säuberlich eingerahmt und unter Glas getan - in den Schaufenstern seiner Verkaufsstellen  in  Praskolesy  und  London,  Karpatorussland  und  Siam  hängen... 
    Schuster sind ein eigenartiges Volk. Wer vermöchte jenem Gedankengang zu folgen, der, von der Grenzenlosigkeit der letzten Dinge sich plötzlich abwendend, wieder zu uns und unserer kleinen Heimat zurückkehrte? „...Grenzenlosigkeit  oder  Begrenztheit...  Da  wir  aber auf  dieser  Erde  leben:  warum  will  uns  der  Minister  eures Staates  nicht  anerkennen,  wo  wir  doch  ein  Sechstel  der Erde  sind  und  ihr  nur  ein  kleiner  Flicken  auf  einer  großen Sohle?..." 
    Wir aber schwiegen, übermannt nicht so sehr durch die Vielgestaltigkeit seiner philosophischen Meditation, als durch ihr politisch-geographisches  Beiwerk...  denn  wir befanden  uns  sechs  Tagereisen  von  Moskau,  und  zwei  von Tiflis  entfernt  in  einem  armseligen  Dorfe  der  Autonomen Sowjetrepublik  Adsharistan... 
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