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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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„Gestatten Sie, ich bin ein Schädling"

Zwei Tage darauf begegnen wir ihm wieder. In der Speisehalle des sogenannten Amerikanerdorfs, wo die Ausländer und einige russische Spezialisten wohnen. „Schau, er ist genau so angezogen wie das letzte Mal!" sagt Alex, „wir haben also falsch geraten; er hat sich nicht etwa zur Feier des Anstichs in Gala geworfen, er geht immer in Schwarz, und auch den Halspanzer trägt er anscheinend alle Tage! Ob er nicht doch ein Ausländer ist?" Nein, er ist kein Ausländer. Er ist Russe.
„Von mütterlicher Seite her sogar mit einer der vierunddreißig Familien verwandt, die ihre Abstammung von den Ruriks (Anm.: der Waräger, war der Gründer der ersten - Nowgoroder - russischen Dynastie (862 u. Z). Sein Geschlecht regierte, mit einigen Unterbrechungen, bis 1398, dann erlosch es, doch führten 34 adlige Familien ihren Ursprung auch weiterhin auf ihn zurück.) herleiten!" erklärt er uns lächelnd, wie wir mit ihm ins Gespräch kommen. Dann nennt er seinen Namen. „Das hätten wir vorgestern wissen sollen", sagt Alex, „da hätten wir Sie selbstverständlich geknipst, wie Sie gerade mit ihrer Aktentasche Sand schaufelten. Welche Sensation für eine europäische Boulevardzeitung: Nachkomme der Ruriks schippt begeistert..." Alex bricht ab.
Das Lächeln unseres Gegenüber ist so seltsam geworden, so herausfordernd ironisch und mitleidig. Er merkt, dass wir das merken, und sagt:
„Sie müssen entschuldigen, aber es kam mir so komisch vor, dass Sie glaubten, ich sei begeistert gewesen!..." Was er damit meine?
Oh, nichts Besonderes. Nur: ob Alex denn nicht richtig gehört habe, als er vorhin seinen Namen nannte. Und er wiederholt ihn.
„Nun?" Er sieht zuerst Alex, dann mich erwartungsvoll und lauernd an. „Haben Sie ihn wirklich noch nie gehört?" Er wendet sich zu mir: „Sie sagten doch vorhin, Sie seien im November und Dezember dreißig in Moskau gewesen; erinnern Sie sich nicht, damals den Namen gehört oder gelesen zu haben?"
„Nein... oder... warten Sie... aber das ist doch unmöglich!"
Doch, es sei möglich! Er gehöre zu den Verurteilten im Prozess gegen die Angehörigen der sogenannten Industriepartei des Professors Ramsin.
„Zum Tode verurteilt und nachher zu zehn Jahren strenger Einschließung begnadigt!... Ja ja, ich bin wirklich das, was man hierzulande einen Schädling nennt!" Pause.
Wie er hierherkomme, und was er in Magnitogorsk treibe? Man habe ihn schon vor längerer Zeit bedingt aus der Haft entlassen. Er arbeite hier als Ingenieur. „Ich bin übrigens nicht der einzige ,Ramsinmann' hier; wir sind unser dreizehn, alles hochqualifizierte technische Spezialisten. Wir arbeiten an leitenden Stellen. Einer beispielsweise ist der Chefingenieur!" Ob er denn... hm... wie denn das sei mit dem Leben hier... wo er denn wohne und...
„Ach, Sie meinen, ob ich etwa nachtsüber eingesperrt werde oder unter Bewachung stehe? Nein, ich bewege mich hier völlig frei. Ich muss mich nicht einmal bei der Miliz oder GPU melden, wenn ich mal auf ein paar Tage verreise (aber wahrscheinlich wissen sie schon, wo ich stecke). Ich bin hier Ingenieur wie irgendein anderer; ich bekomme ein Spezialistengehalt; man hat mich in einem der Amerikanerhäuser untergebracht; ich bin sogar der Ausländerküche zugeteilt worden. Natürlich bin ich meinem Roten Direktor verantwortlich, und mein Assistent ist ein Widwishenez (Anm.: Techniker, Ingenieur, Redakteur. Arzt, kurz Spezialist, der vorher Arbeiter oder Bauer gewesen ist, eine Art Gegenstück zum Selfmademan, ein „Collectivmademan", wenn man so sagen darf.), aber ich werde - wenigstens konnte ich bisher das Gegenteil niemals feststellen - nicht strenger kontrolliert als jeder verantwortliche Arbeiter. Im Betrieb befolgt man meine Anordnungen aufs genaueste; natürlich wissen die Stoßbrigadenführer, die Parteileute, die Komsomolzen im Betrieb, wer ich bin, und wahrscheinlich passen sie insgeheim sehr scharf auf mich auf, aber sie zeigen es nicht... Wie ich zu den Bolschewiken stehe? Ich bin nicht gerade ihr Freund, nein, das kann ich nicht behaupten, aber ich habe auch keine Konflikte mehr mit ihnen. Viele meiner früheren Kameraden haben kapituliert, nicht nur physisch, auch innerlich: sie sind, ich habe keinen Grund an ihrer Ehrlichkeit zu zweifeln, aufrichtig überzeugt, dass der Kommunismus der einzige positive Weg für unsereins sei; sie glauben an die Richtigkeit des ganzen Systems. Ich bin nur überzeugt, dass die Bolschewiken und ihr System stärker sind, als ihre Feinde annehmen; ich weiß nur, dass unsere Aktion gegen die Sowjets gescheitert ist. Unsere Pläne waren auf falschen Voraussetzungen aufgebaut; wir haben falsch gesetzt und verspielt; sie hätten uns mit gutem Recht liquidieren können, ganz so, wie wir sie liquidieren wollten. Sie haben es nicht getan, ob aus einem Gefühl der Sicherheit und Stärke oder aus politischen Gründen, sei dahingestellt. Sie haben uns am Leben gelassen. Sie haben uns schon im Gefängnis die Fortsetzung unserer wissenschaftlichen Arbeit erlaubt. Sie haben den meisten von uns die Möglichkeit gegeben, schon nach kurzer Zeit das Gefängnis mit der Fabrik zu vertauschen. Nicht aus Menschenfreundlichkeit. Sie brauchen qualifizierte wissenschaftliche Kräfte. In meinem Fach beispielsweise gibt es kaum ein Dutzend russische Spezialisten. Man braucht Leute wie mich in der Produktion, man holt sie heran, wenn das irgendwie möglich ist. Man hat mich herangeholt. Man hat mit mir gewissermaßen ein Geschäft gemacht: ich werde aus der Haft entlassen, ich bekomme eine Stelle als Spezialist, ich werde nicht anders als meine Kollegen behandelt, dafür habe ich gute und präzise Arbeit zu leisten. Ich bin auf das Geschäft eingegangen, ich bekomme, was mir zusteht, und ich leiste, was ich zu leisten habe, das ist alles. Dankbarkeit gehört nicht zu meinen Obliegenheiten, und ich empfinde sie auch nicht; ich habe nichts übrig für Gefühle, aber auch die Bolschewiki sind nicht sentimental. Ich weiß, sie würden mich ohne Zögern an die Wand stellen, wenn ich ein zweites Mal meine Finger in einer Ramsinsache hätte. Ich werde mich hüten. Nicht aus Angst, sondern weil es Wahnsinn wäre, zweckloses Opfer. Nur Dummköpfe opfern sich ohne Zweck. Ich bin kein Dummkopf!... Warum ich vorgestern mit geschaufelt habe? Oh, nicht etwa, um mich bei irgend jemand lieb Kind zu machen, ich bin kein Kriecher, es würde mir wahrscheinlich auch nicht gelingen, mir mit solchen Mätzchen eine gute ,Sittennote' zu holen; sehen Sie, ich war oft in England und habe eine Schwäche für gewisse englische Eigenschaften und Sitten. Sie mögen es vielleicht einen spieen nennen oder eine Schrulle, aber ich habe nun einmal sehr viel übrig für fairness im Kampf, und ich liebe die großzügige Geste des ,Eine-Chance-Gebens'. Die Bolschewiki haben mir eine Chance gegeben; sie konnten mich vor die Gewehrläufe stellen, oder im Loch sitzen lassen, aber sie haben mir die Möglichkeit geboten, in verhältnismäßiger, ja geradezu in unverhältnismäßiger Freiheit zu arbeiten und zu leben. Gut, da habe ich mir gesagt, ich gebe den Bolschewiki auch eine Chance. Sie sollen einmal ungestört, wenigstens von mir ungestört und ungestört auch durch alle Hindernisse, die ich bemerken und beseitigen kann, arbeiten; sie sind verteufelte Kerle, das muss ihnen auch der Gegner lassen, sie haben eine tolle Energie, jetzt sollen sie einmal zeigen, ob ihr System ebenso gut ist wie ihre Nerven. Ich gebe ihnen bis zum Ende des dritten Fünfjahrplans eine Chance. Ich bin heute fünfzig, aber in unserer Familie lebt man lange; ich rechne bestimmt damit, mindestens so alt zu werden wie mein Vater und Großvater, die wurden beide sechsundneunzig. Ich habe also noch genug Zeit.
Ich kann den Bolschewiken ruhig ein Jahrzehnt lang eine Chance geben."
„Und wenn Sie nach zehn Jahren einsehen, dass das System der Bolschewiki ebenso gut ist wie ihr Elan und ihre Widerstandskraft?"
„Dann streiche ich die Flagge. Dann gehe ich hin und melde mich bei der Partei als Kandidat. Sie werden für mich dann eine doppelte, eine dreifache, eine fünffache Probezeit ansetzen, das wäre nur in Ordnung. Aber ich bin ja, wie ich schon sagte, aus einer zähen Familie; ich würde auch als Achtzigjähriger noch meinen Mann als ,Jungkommunist' stellen, ich würde noch mindestens sechzehn Jahre und eine Menge nützlicher Leistungen vor mir haben. Ja. Manchmal stelle ich mir vor, wie das dann sein würde...
Aber was rede ich da zusammen? Mir scheint, ich werde sentimental, und Sentimentalitäten kann ich nicht leiden!"

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