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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Semetschki

Es war in Kasbek.
In Kasbek im Kaukasus, an der großen grusinischen Heerstraße.
Rechts funkelte der Schneegipfel des gleichnamigen Berges in der warmen, gelben Sonne, wie ein in flüssiges Silber getauchter Wunderberg, links leuchteten die weniger hohen Berghänge in vielfachem Grün. In der Mitte schlängelte sich - an den braunen Hütten des Ortes vorbei - das weiße Band der grusinischen Heerstraße um vorspringende Waldnasen und Felskulissen herum, südwärts. Wir hatten in einem Duchan (kaukasische Schenke) gegessen und getrunken - Schaschlyk und roten, „Blut der Erde" genannten Wein - und schlenderten jetzt ein wenig durch die Dorfstraße, während der Chauffeur am Motor des Autos herumbesserte, das uns von Wladikawkas hierher gebracht hatte und mit dem wir weiter nach Tiflis hinunter wollten.
Unter den tief in die Stirn gezogenen Dächern schienen die kleinen Häuser und Hütten von Kasbek zu schlafen. Eine Kirche. Ein freistehender Glockenturm. Ein Friedhof. Von einer Hütte winkt eine blaue Tafel: „Veterinärstation Nr. 34, Kasbek." Von einer anderen: „Schule." Auf der Straße vor den Hütten Kinder und Hammel. Braune, helläugige Kinder und wollige, lustig herumspringende Hammel, mit schwabbrigen Bäckchen zu beiden Seiten des Schwanzes. Elegisch sagte Paul zu mir:
„Schreckliches Los das: Hammel zu sein. Denk dir nur, keiner von ihnen stirbt eines natürlichen Todes; im Bett sozusagen...; alle werden sie geschlachtet..." Offenbar erinnerte er sich daran, dass unser eben erst verspeister Schaschlyk vor kaum Dreiviertelstunden, als wir in den Ort einfuhren, noch lustig herumgesprungen war. Zuerst hatte der Duchanwirt uns selbst den Hammel aussuchen lassen wollen, den wir als Schaschlyk verzehren sollten, dann aber - unsere absolute Unkenntnis in solchen Dingen erkennend - es selber getan: „Da, greifen Sie!... Das ist ein Fleischchen...!"
Meine Erinnerungen wurden durch das Auftauchen dreier Kasbeker im jugendlichen Alter von sechs bis acht Jahren unterbrochen. Die Jungen trugen bunte Kappen und hatten an sonstiger Bekleidung zusammen drei Hemden und zwei Hosen.
Kaum wurden sie unser ansichtig, als sie sich auch schon breit vor uns hinpflanzten.
„Amerikaner..." sagte der Älteste sachverständig, „Amerikaner! Schaut sie euch nur an: sie haben einen Fotoapparat und Dollars... Imperialisten sind sie..." Ich bemühte mich, den Irrtum liebenswürdig aufzuklären. Wir hätten allerdings einen Fotoapparat, aber was die Dollars und den Imperialismus anginge... Der Junge lächelte zuvorkommend-ungläubig. Dann griff er in die Hosentasche (er war einer der beiden Hosenbesitzer) und holte eine Handvoll weißer Kerne hervor. Er steckte einen in den Mund, knabberte an ihm herum und spuckte die Schale kunstvoll in weitem Bogen vor sich hin. „So? Also keine Amerikaner?..."
Er steckte einen zweiten Kern in den Mund und bot an:
„Nimm...!"
Elly, die ihm zunächst stand, wandte sich fragend an mich:
„Was hat er da...?"
Der Junge erriet den Sinn der fremden Worte: „Semetschki..."
Auf seinem Gesicht malte sich unendlicher Triumph und tiefe Verachtung.
„Also, ihr wollt mir weismachen, dass ihr keine Amerikaner seid, und wisst nicht einmal, was Semetschki sind...?!"
Ich erriet seine Gedanken und kapitulierte. Verlegen sagte ich zu Elly:
„Aber weißt du, das sind doch Semetschki, Sonnenblumenkerne, von denen man in allen russischen Romanen liest..., wie konntest du nur...?"
Am Straßenende erschien unser Chauffeur und winkte: „Einsteigen!" Wir gingen. Unterwegs sagte Elly:
„Ja, also, natürlich habe ich gewusst, dass es Semetschki gibt und wie sie aussehen..., aber dann kam ich gar nicht auf den Gedanken, dass es welche sein könnten, weil wir ja in Moskau keinen einzigen Menschen gesehen haben, der Semetschki knabberte oder verkaufte... Ist das übrigens nicht sehr merkwürdig?" Es war in der Tat sehr merkwürdig: wir hatten wirklich während der ganzen Dauer unseres Moskauer Aufenthaltes keine Semetschki gesehen. Und dabei wusste ich doch ganz genau, dass auch nach der Revolution noch die Straßen mit Semetschkischalen besät gewesen waren und Hunderte von Verkäufern, namentlich an den Mauern von Kitajgorod (Anm.: so genannte „Chinesenstadt", ältester Stadtteil Moskaus.) weiße und dunkle Sonnenblumenkerne feilgehalten hatten.
Später, bei unserem zweiten Aufenthalt in Moskau, fand ich aber doch noch einen Semetschkiverkäufer. Allerdings nur einen einzigen. Er saß melancholisch vor einem Körbchen mit Kernen und einem zweiten mit Äpfeln, zwischen einem Chinesen, der buntes Papierspielzeug, und einem Ukrainer, der den „neuesten Hand- und Taschenatlas mit 80 Karten" verkaufte. Es war in der Nähe des Iberischen Tores, unweit der fünf ewigen Bettler, die vor der Kapelle der Iberischen Mutter Gottes stehen und die zu wenig freigebigen Spender beschimpfen; just an der Mauer des zweiten Sowjethauses, dessen Goldlettern verkünden: Religion ist Opium für das Volk!
Ich kaufte ein Maß Semetschki und interviewte ihn über die Ursachen des Verfalles seines Handelszweiges. Ob es eine grundlegende Geschmacksänderung der Konsumenten gewesen sei oder eine Verschlechterung der Ware...
Nein, das nicht: die Semetschki seien nie besser gewesen, als gerade jetzt, und die Moskauer knabberten auch jetzt noch gern Sonnenblumenkerne, wenn nicht... „...wenn nicht die Bolschewiki das Ausspucken auf der Straße verboten hätten..."
Seit Erlass jenes Verbotes sei es aus mit dem Geschäft. Denn - in die Hand spucken, oder in ein Papier.... das könne man den Kunden denn doch nicht zumuten. „Wie würde sich denn das ausmachen, Bürger, ich bitte Sie, in die Hand...?"
Ich erfuhr noch, dass der kommunistische Jugendverband seinen Mitgliedern das Knabbern von Semetschki verboten habe, und dass mein Freund jetzt statt der früheren 120 nur 20 Maß Kerne täglich verkaufe, weshalb er nebenbei mit Äpfeln handle.
Aber nur nebenbei       denn eigentlich sei dies eine Deklassierung... Dann ging ich.
Einige Tage später - es war im Moskauer Sowjet und ein Genosse zeigte mir eine Statistik der Straßenhygiene -kam die Rede wieder auf die Semetschki, und da sagte der Genosse:
„Sehen Sie, lieber Genosse, ihnen mag das vielleicht lächerlich vorkommen, wenn ich aus dem Verbot des Ausspuckens von Semetschkischalen etwas Großes mache..., aber Sie mögen es mir glauben: es war vielleicht leichter, den Kreml zu stürmen, als das Ausspucken von Semetschkischalen zu verhindern... Und dann: diese Kleinigkeit ist symptomatisch..., symptomatisch für die Einstellung des Proletariats zu seiner Stadt, zur Hygiene, zum kulturellen Fortschritt überhaupt... Weniger schwulstig und gelehrt gesagt: diese Kleinigkeit ist symptomatisch für unser Sowjetsystem, für unsere Pläne... Verstehen Sie, was ich damit meine...?" Ich verstand.
Verstand, weil ich in diesem Augenblick all die tausend anderen ähnlichen Kleinigkeiten sah: die Papierkörbe an allen Straßenecken, die plombierten Wäschesäcke in den Zügen, die nach jedesmaligem Gebrauch desinfizierten und in frische Papierhüllen eingewickelten Rasierpinsel in den genossenschaftlichen Rasierstuben, die Fabrikskinderkrippen mit ihren hygienischen Stillzimmern, die Straßenpropaganda gegen Syphilis und Tuberkulose... Und darüber hinaus: die Nachtsanatorien, die Arbeitererholungsheime an der Meeresküste, die Veterinärstationen und Sanitätspunkte in verschollenen abchasischen Bergdörfern, die mit Petroleum übergossenen und so malariarein gemachten Sümpfe in Adsharistan... Alle die „Kleinigkeiten", die nur die ersten Sprossen einer Jakobsleiter sind, auf der wohl keine Engel in den Himmel klettern, die aber hinaufführt zu einem neuen und lebenswerteren Zeitalter, dessen Vorzeichen sich jetzt bereits kundgeben in den hunderttausend und Millionen elektrischer Glühlampen, die schon heute in vergessenen tungusischen, kalmückischen, daghestanischen Siedlungen leuchten; in den Radiostationen und Schulen, „Agropunkten" (landwirtschaftliche Beratungsstellen) und Lesehütten, Krankenhäusern und neuen Bahnstationen, deren Netz jenes Riesenreich immer engmaschiger überzieht und bis in den kleinsten Aul an der persischen Grenze, bis in die letzte Siedlung am arktischen Meer die stolze Losung des Kommunismus trägt: „Diese Welt wird unser sein!"

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