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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Der Knacks des Mister Green

Von Mister Green hörten wir zum ersten Mal durch Trofim Terentewitsch, den Iswostschik. Der zeigte uns einmal im Vorüberfahren ein Holzhaus und sagte: „Dort wohnt Mister Green!" „Mister Green? Wer ist Mister Green?" „Das wisst ihr nicht? Ja, hat euch denn noch niemand von ihm erzählt? Er ist doch hier bekannt wie eine falsche Kopeke!"
„Nein, man hat uns nie von ihm erzählt. Warum ist er denn so bekannt?"
„Na, zum Beispiel, weil er seine Kutscherin geheiratet hat."
„Seine Kutscherin...?"
„Ja. Er hat sie geheiratet. Marfa Nikolajewna heißt sie. Sie kam vom Land und wollte Arbeiterin werden, aber dann hielt sie es in der Werkstatt nicht aus vor lauter Heimweh nach dem Dorf, und so ging sie zum Fuhrpark. Dort hatte sie wenigstens Pferde. Die waren für sie so ein Stückchen Dorf. Ja. Und dann teilte man sie als Kutscherin dem Amerikaner zu, und sie fuhr ihn herum und da verliebte er sich in sie und sagte ihr, dass er sie heiraten wolle, aber, das verrückte Huhn, wochenlang ließ sie sich bitten und drängen! Na, schließlich heirateten sie dann doch. Jetzt geht sie in die Schule, und er hat einen anderen Kutscher, aber manchmal setzt sie sich noch auf den Bock und kutschiert wie früher, und..."
„Das ist ja wie im Film!" rief Alex lachend. „Der Dollarprinz und das arme Mädchen, nebst happy-end!" Und dann vergaßen wir Mister Green. Aber einige Tage später hörten wir schon wieder von ihm. Diesmal im Gewerkschaftsrat. Wir hatten dem Sekretär des Gewerkschaftsrats unser Erlebnis mit dem deutschen „Firmeningenieur" erzählt, der vom ganzen Stalinsker Werk nur die Walzmaschinenmontage kannte, und wollten wissen, ob das eine Einzelerscheinung sei oder ob es unter den Firmeningenieuren noch mehr solche Typen gebe.
Ja, genug, erhielten wir zur Antwort, aber natürlich finde man unter ihnen auch ganz andere Typen: „Da haben wir einen Amerikaner, Mister Green..." Mister Green? Ob das derselbe sei, der... Er sei es bestimmt, es gebe hier nur den einen Green! Also der habe erst neulich seinen Beitritt zur Technikergewerkschaft erklärt.
Seinen Beitritt zur Technikergewerkschaft? Alex und ich sahen einander an.
„Das passt eigentlich nicht zu einem happy-end-Helden aus Hollywood!"
Und dann vergaßen wir Mister Green abermals, doch bald darauf wurden wir neuerdings an ihn erinnert. Diesmal im Vorraum der Ausländerküche in der „Sozialistischen Stadt". Dort lasen wir in der Wandzeitung:
Zur Nachahmung empfohlen!
Der amerikanische Ingenieur-Konsultant B. C. Green erklärte auf der letzten allgemeinen Versammlung der ausländischen Ingenieure und Techniker, dass er auf die Valutaklausel seines Vertrages verzichte, weil er es für wichtiger halte, dass die Devisen zum Ankauf ausländischer Maschinen als zur Bezahlung ausländischer Spezialisten verwendet werden. Der Verzicht auf die Valutaklausel sei kein Opfer, wenn man sich vor Augen halte, welche Entbehrungen sich die russischen Arbeiter... Weiter kam ich nicht, denn Alex sagte: „Also der Mann ist doch das, wofür wir ihn von Anfang an gehalten haben, nur ist er keine Filmfigur, sondern ein Fibelheld, so ein richtiger Lesebuchheld, durch und durch edel und hochherzig; der reinste rote Heilsarmeesol..." Sie unterbrach sich plötzlich. Jemand hatte, dicht hinter uns, laut aufgelacht. Wir fuhren herum. Da stand ein Mann der uns schon eine ganze Zeit lang zugehört haben musste, denn er sagte:
„Ach, das tut mir aber leid! Zu dumm, dass ich Sie gestört habe. Ich hätte so gern noch mehr über mich erfahren, ich bin nämlich dieser Green, müssen Sie wissen." Wir stotterten etwas hervor. Unsere Verlegenheit machte ihm sichtlich Vergnügen. Er ließ eine ganze Weile verstreichen, bevor er fortfuhr:
„Ja, ich bin dieser Green. Leider muss ich Ihnen eine kleine Enttäuschung bereiten; ich bin nämlich weder ein Lesebuchheld noch ein roter Heilsarmeesoldat; ich gehöre nur zu den Ausländern, bei denen es geknackst hat." „Wie bitte?" fragte Alex. „Geknackst?" fragte ich.
„Ja", antwortete er, „geknackst. Ich nenne einen bestimmten Vorgang so: es gibt hier ausländische Spezialisten, die merken plötzlich, dass sie bisher alles nur unvollständig gesehen haben, dass sie gehört, aber nicht begriffen, dass sie nebenher gelebt, aber nicht miterlebt haben! Natürlich knackst es nicht bei jedem Ausländer, der hier lebt und arbeitet; sehr viele bleiben überhaupt unberührt von dem, was rund um sie geschieht, und selbst von denen, die in den riesigen Umwandlungsprozess, den die Menschen hier durchmachen, mit hineingezogen werden, könnten wahrscheinlich nur die wenigsten sagen, dass es bei ihnen geknackst hat - so allmählich ist die ,Ansteckung' und Umwandlung vor sich gegangen. Aber bei mir hat es richtig geknackst."
„Aha, also doch eine Bekehrungsgeschichte!" triumphierte Alex.
Der Amerikaner lachte.
„Wenn Sie es so nennen wollen, gut! Es ist wirklich eine erbauliche Geschichte, und wenn Sie Lust haben ..." So bekamen wir die Geschichte Mister Greens zu hören: Er kam als technischer Ratgeber herüber. Er kam teils aus Abenteuerlust, teils des hohen Gehalts wegen, das ihm angeboten wurde. Er wusste von den Bolschewiken wenig; er war nicht ihr Feind, aber er liebte sie auch nicht; er war ihr Vertragspartner, darüber hinaus fühlte er sich zu keinerlei Beziehungen verpflichtet.
Der erste Eindruck, den er von Moskau empfing, war nicht gerade günstig. Er musste zehn Tage lang in den Amtszimmern verschiedener Kommissariate und Trusts herumsitzen, bevor er erfuhr, wo und woran er arbeiten werde. Der erste Eindruck, den er vom Kusbass empfing, war nicht besser. Er wurde an der Bahn nicht, wie verabredet, erwartet; das Zimmer, das man ihm zuteilte, war schlecht; die Warmwasserleitung funktionierte nicht, das Klosett war kaputt, das Bett war verwanzt; das Brot war schwarz, das Essen ungewohnt; bei der Arbeit gab es Schwierigkeiten über Schwierigkeiten: zuerst waren die Pläne, die er überprüfen sollte, nicht da, dann mangelte es an Baumaterial, zuletzt, als alle Vorbereitungen getroffen waren, stellte es sich heraus, dass man nicht genug geübte Arbeitskräfte zur Verfügung hatte. Den Ingenieuren fehlte die Erfahrung, und trotz Dolmetscher klappte die Verständigung nicht. Jeden Tag gab es neue Missverständnisse. Mister Green erwog ernstlich, alles stehen und liegen zu lassen und abzureisen. Aber da war der Vertrag, und da war seine Zähigkeit und sein Trotz, die eine Kapitulation vor den Schwierigkeiten nicht zulassen wollten. Er blieb. Allmählich kam auch alles ins Geleise, aber das Land blieb ihm fremd, die Sprache schien ihm auch weiterhin eine Art Husten, das Menschenmaterial, mit dem er zu tun hatte, roh, die Anstrengung der Stoßbrigaden sinnlos. Dazu kam der Winter mit seinen Temperaturen von 40 bis 50 Grad; dazu kam der Anblick der eilig und schlecht zusammengezimmerten Baracken und der langen Schlangen vor den Kooperativläden. Alles erschien ihm unerfreulich und niederdrückend.
„Bis dann die Geschichte mit dem Pfund Butter passierte. Wir waren auf einer Inspektionsreise im Altai, in den Bergen bei Telbes und Temir-Tau, wo unsere erste Erzbasis projektiert ist. Die Arbeiter dort hatten es besonders schwer. Die Arbeit war hart. Am Tag litten sie unter großer Hitze, in der Nacht froren sie. Baracken gab es noch nicht, man übernachtete in Zelten, aber die Zelte waren schon sehr mitgenommen und boten bei Regen nur wenig Schutz. Der Nachschub stockte oft, Wege mussten erst gebaut werden, der Transport war schlecht organisiert, die vorgeschobenen Brigaden hatten manchmal zwei, drei Tage lang nur Zwieback und getrocknetes Fleisch oder Grütze zu essen. Zwei Tage vor unserer Rückreise besuchten wir die am weitesten vorgeschobene Gruppe. Es war eine Stoßbrigade von etwa fünfzehn Mann. Sie arbeiteten unter besonders schwierigen Verhältnissen, inmitten einer fast unzugänglichen Wildnis, und nährten sich schon seit Tagen nur noch von Schwarzbrot und geräuchertem Fisch. Wir schickten ihnen deshalb aus unseren Vorräten ein Pfund Butter. Aber sie schickten es uns zurück. Der Mann, der das Paket zurückbrachte, übergab uns einen Zettel. Auf dem Zettel stand: ,Nicht wir dienen bei euch, ihr dient bei uns!' Darunter die Namen der fünfzehn Stoßbrigadler. Sehen Sie, an diesem Tage hat es bei mir geknackst!" Er machte eine Pause, dann schloss er: „Ja, das ist also meine Geschichte. Wenn ich ein Schriftsteller wäre, so würde ich sie niederschreiben. Und wissen Sie, wie ich sie nennen würde? ,Das Land, wo der Hunger nicht weh tut'!"

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