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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Dostojewskigasse, letztes Haus

Nur eine Stunde hat die Wagenfahrt von Stalinsk nach Kusnezk gedauert, aber wie wir jetzt durch die Gassen der verschlafenen alten Stadt gehen, scheint uns Stalinsk ein ganzes Jahrhundert weit entfernt.
Gewiss, über dem Tor eines Hauses auf dem Marktplatz hängt ein Schild mit der Inschrift „Kusnezker Sowjet der Arbeiter-, Bauern- und Kosakendeputierten"; und neben der Schnapsbrennerei, dem einzigen „Kulturerbe" aus der Zarenzeit, steht eine neue Sowjetschule - aber morgens, mittags und abends ertönen hier noch die heiseren Glocken dreier Kirchen, und der Beamte auf der Post lässt den lästigen Briefmarkenkäufer eine halbe Stunde lang vor dem Schalter warten, dieweil er mit tiefsinniger Miene Fliegen fängt.
Zöge nicht eine Gruppe von Jungen Pionieren über den Marktplatz; flatterte nicht vom Erholungsheim des Stalinsker Gewerkschaftsrats die rote Fahne; sänge nicht der kleine Motor der provisorischen Elektrostation sein aufgeregtes Lied in die dösige Stille, man könnte wirklich, wie Alex sagt, meinen, die Stadt wäre ein historischer Naturschutzpark.
„Ja, man kommt sich hier manchmal vor wie in einem Museum", sagt der Techniker vom Stalinsker Hochofenwerk, der hier einen kurzen Genesungsurlaub verbringt, „dort oben auf dem Berg sehen Sie noch die Mauern der Burg, in der bis zum Jahr siebzehn die Kosaken des
,Weißen Zaren' saßen, um die Altaistämme zu bewachen; hier um den Markt herum finden Sie die Häuser der Pelzhändler und Goldaufkäufer, die den schorzischen Jägern und russischen Goldsuchern für ein paar Pfund Pulver und ein paar Flaschen Schnaps die schönsten Zobelfelle und das feinste Gold abkauften; drüben in der Gasse, die zum Tomfluss hinunterführt, hat Dostojewski während seiner Verbannung gewohnt, und in dem letzten Haus der Dostojewskigasse wohnt noch ein alter Sonderling, ein Geologe, Goldsucher und Naturheilkundiger, Nikolai Alexejewitsch Popow, ein ,Semlewolez', ein Mann, der zusammen mit Kropotkin und Wera Figner in der Gesellschaft ,Semlja i Wolja - Land und Freiheit' gewesen ist. Wenn Sie wollen, können wir ihn besuchen. Ich war neulich bei ihm und habe mir von der großen Zeit der Semlewolzen erzählen lassen; er wird uns auch heute davon erzählen, und ich glaube, Sie werden beim Zuhören das gleiche seltsame Gefühl haben, das auch ich neulich hatte: man glaubt, ein Buch fange zu reden an, ein altes Buch, oder ein Bild aus dem Moskauer Revolutionsmuseum, oder eine Gedenktafel.
Es ist beinahe unheimlich!"
Ja, es ist beinahe unheimlich. Durch das Fenster sieht man, jenseits des grünen Tomflusses, die braungraue Wolke des Hochofenwerks über den niedrigen Hügeln lagern; auf dem Tisch am Fenster liegen die Moskauer und Nowosibirsker Zeitungen mit den neuesten Meldungen von der „Industriefront"; an der Wand hängt ein Kalender der „Zentralen Arbeiter-Genossenschaft" mit einem Bild des großen Staudamms von Dnjeprostroj... aber der hochgewachsene, vierschrötige Mann mit dem braunen Gesicht und dem schlohweißen Bart, der da vor uns sitzt, ist gar nicht hier, im Kusbass des vierten Planjahrs, sondern in St. Petersburg der beginnenden achtziger Jahre.
Er erzählt von der letzten Sitzung der Gesellschaft „Land und Freiheit". Sie sind noch einmal zusammengekommen: die Gemäßigten, die das alte Programm der „Semlja i Wolja" erhalten, die auf dem Land arbeiten, ins Volk gehen und auf sein Erwachen warfen wollen, und die Radikalen, die Neuerer, die für den „Schlag ins Zentrum", für den politischen Terror eintreten; sie sind noch einmal zusammengekommen, um zu untersuchen, ob der Bruch unvermeidlich ist oder ob ein letztes Kompromiss gefunden werden kann:
Da sitzen sie alle: Kropotkin, Drigo, Sheljabow, Kibaltschitsch, Wera Figner, Sofja Perowskaja und die anderen, Kropotkin hat den Vorsitz. Er redet den Terroristen zu. Er sagt:
„Das Volk ist noch zu dumpf. Das Volk schläft noch. Aber man kann es aus seinem Schlaf nicht durch die Explosionen von Bomben wecken. Es hört die Bombenschläge, aber es versteht nicht, was ihr wollt. Seht euch doch um! Wo haben eure Taten im Volk Widerhall gefunden? Wo hat sich das Volk zu eurer Unterstützung erhoben? Nein, nein, man muss die Erkenntnis des Volkes wecken, man muss es reifen lassen; es reift langsam, aber es reift; einmal wird es erwachen und aufstehen! Dann ist unsere Stunde gekommen. Bis dahin müssen wir warten, müssen ins Volk gehen, müssen mit ihm leben, müssen eins werden mit ihm. Darum sage ich: geht ins Volk, bereitet sein Erwachen vor, wartet auf die entscheidende Stunde!" Er redet so eindringlich, dass ich überzeugt bin, er werde sie alle auf seine Seife bringen. Aber da ist Sheljabow, der Bauer, der Mann mit den brennenden Augen und den wilden Bewegungen. Wie ein Bär ist er, wie ein gereizter Bär. „Man darf nicht auf eine große Stunde warten, die irgendeinmal kommen wird; man muss sie selbst herbeiführen! Das Volk ist dumpf? Das Land schläft? Dann müssen wir eben ein Signal geben, das auch den Dumpfesten aufrüttelt; dann müssen wir eben ein Feuer anfachen, bei dessen Schein das ganze Land wach wird! Wir sollen ins Volk gehen? Sind wir denn nicht ins Volk gegangen? Haben wir denn nicht friedliche Propaganda getrieben? Was war die Antwort? Zuchthaus, Zwangsarbeit, Verbannung, Folterung! Wir haben die Schergen der Regierung dafür gestraft; nicht streng genug, weil wir auf euch hörten. Was war die Antwort auf unsere Unentschlossenheit? Der Galgen. Achtzehnmal hat er in den letzten achtzehn Monaten ein Opfer aus unseren Reihen gefordert! Sollen wir unsere Kameraden, sollen wir uns selbst abschlachten lassen, ohne uns zu wehren? Nein, es ist genug! Wir erklären dem Despotismus den Krieg! Er muss vernichtet werden, damit wir, damit alle, die er unterdrückt, leben können. Der Zar muss sterben, damit die Freiheit geboren wird!' Wie berauscht ist Sheljabow, er behext sie alle, Kibaltschitsch, den Arbeiter, und Sofja Perowskaja, die Adlige. Sie hat ein ganz weiches Gesicht; wie ein Vögelchen sieht sie aus, wie ein zärtliches Kind... aber dann fängt sie zu sprechen an, mit einer weichen und leisen Stimme, doch hinter dieser Stimme steht der Wille zu töten. Sie sagt: ,Der Zar wird sterben!' und alle fühlen, dass ein Todesurteil gesprochen worden ist..."
Der Alte macht eine Pause. Wie er fortfährt zu sprechen, hat sich seine Stimme verändert, sie berichtet jetzt von Vergangenem, während sie vorher Gegenwärtiges zu schildern schien:
„Diese letzte Sitzung war im Februar achtzig. Im März einundachtzig wurde das Urteil vollstreckt. Die Perowskaja organisierte den Anschlag; sie gab das entscheidende Zeichen mit dem Taschentuch, auf das hin die Bomben geworfen wurden. Im April wurden sie hingerichtet: Sofja Perowskaja, Sheljabow, Kibaltschitsch, Michailow und Ryssakow; in Büßerhemden, auf der Brust eine Tafel mit dem Wort ,Zarenmörder'." Wieder machte er eine Pause. Dann sagt er:
„Ich habe davon erst später erfahren, von dem Attentat und von der Hinrichtung. Viel später erst. Ich war damals schon hier." „Als Verbannter?"
„Nein, freiwillig. Ich habe es mit Kropotkin gehalten und bin ins Volk gegangen."
„Und?"
Es dauert lange, bevor der Alte antwortet: „Und? - Oh, ich weiß, was ihr wissen wollt. Ich weiß. Ob nicht die ,große Stunde' gekommen ist, auf die wir warten sollten; ob sie nicht neunzehnhundertsiebzehn gekommen ist, nicht wahr?"
Er sieht uns an, aber sein Blick ist leer, und wie er wieder zu sprechen beginnt, spricht er nicht zu uns, sondern nur zu sich selbst:
„Da kommt mir jetzt manchmal ein Gedanke... seit sie dort drüben die Hochöfen bauen... da kommt mir der Gedanke... ob nicht damals... vor fünfzig Jahren als ich hierher ging... ob da nicht eine Tür ins Schloss gefallen ist?... Ja. Und jetzt will sie sich vielleicht wieder öffnen, aber jetzt ist es zu spät; jetzt kann ich nur noch durch den Türspalt sehen; jetzt kann ich nicht mehr über die Schwelle!... Und dann, sie sind so schnell; alles stülpen sie um; nichts bleibt, wie es war... alles machen sie viel zu schnell. Oder bin ich...?" Er steht auf.
Wie wir Anstalten machen, uns zu verabschieden, sagt er, dass er uns ein Stück begleiten wolle. Am Flussufer macht er halt.
„Gute Nacht!" sagt er, nachdem wir ihm alle drei die Hand geschüttelt haben; er sagt es auf Deutsch, langsam, beinahe feierlich: „Gute Nacht!"
Wie wir uns nach ein paar Schritten umdrehen, sehen wir ihn auf einem Baumstrunk stehen, starr, als sei er mit dem Strunk zusammengewachsen. Er schaut über den Fluss hinüber, zu der Hügelkette hin, auf deren Kamm die braungraue Wolke der Hochöfen von Stalinsk liegt.

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