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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Die Feinde von Minsk

In so einen breiten russischen Eisenbahnwagen steigst du immer mit einem Gefühl neugieriger Erwartung und dem Vorgeschmack vergnüglichen Faulenzerlebens ein. Du weißt: du wirst in diesem Wagen, der eigentlich ein Haus, eine ganze kleine Welt auf Rädern ist, eine hübsche Zeit lang „wohnen" (zwei Tage im Zuge sind in der Union eine „kleine" Reise!); du wirst die Lebensgeschichten, Verwandtschaftsverhältnisse   und   philosophischen   Anschauungen aller im selben Abteil mitfahrenden Reisenden kennenlernen und deinerseits deinen Freunden (Fahrten im russischen Eisenbahnwagen bringen die Menschen einander nahe) die Kenntnis deiner Lebensphilosophie, deiner Familienverhältnisse und Schicksale vermitteln und ihren wohlgemeinten Rat entgegennehmen; du wirst vom Prowodnik - dem in jedem Waggon mitfahrenden Wagenschaffner - gegen zwei Rubel Leihgebühr eine weiche Matratze, zwei Decken, zwei Leintücher und ein Polster (alles sauber und vor deinen Augen aus dem Kerker eines plombierten Sackes befreit) entlehnen und dir auf deinem Liegeplatz ein Lager betten; du wirst auf diesem Lager ruhen und die weite, unendlich weite, platte Landschaft an dir vorübergleiten lassen, oder schlafen; du wirst von deinen Freunden zum Tee eingeladen werden und mit ihnen auf den Stationen nach heißem Wasser für den mitgeführten Tschainik (Anm.: Teekessel) du wirst in den Gaststuben der großen Bahnhöfe knusprige Piroschki (Anm.: Pasteten) und von den Bäuerinnen an den kleinen Haltestellen kanonenkugelgroße Melonen für zehn Kopeken und gebratene Hühner für 40 Kopeken kaufen - und trotz aller Erfahrungen im Feilschen beschwindelt werden; du wirst dich so an das Leben im Zuge gewöhnen, dass es dir bald eigenartig vorkommen würde, nicht beim Rollen und Rattern des Zuges einzuschlafen und aufzuwachen, und du wirst einer Eisenbahnverwaltung dankbar sein, die den Wagen so breit, die Matratzen so weich und alles so bequem eingerichtet hat.
Du wirst vielleicht von Bewunderung erfüllt sein, wenn du weißt, dass diese Eisenbahnverwaltung zu jedem Zuge nur soviel Karten verkaufen lässt, wie es Liegeplätze im Zuge gibt, und dir deinen Platz im vorhinein fest anweist, zu welchem Behufe sie dich gleichzeitig mit der Fahrkarte auch eine Platzkarte lösen heißt.
... Was an sich eine ganz vorzügliche Einrichtung, aber wie alles Irdische bisweilen Stückwerk und Haschen nach dem Winde ist und dich vor den Tücken des Schicksals nicht immer bewahren kann, wie die Geschichte der guten Leute beweist, die in Minsk zu nachtschlafender Stunde in unseren Zug einstiegen und „ihre" Plätze von vier schlafenden - nach Ausländern aussehenden - Individuen besetzt fanden, ... von uns.
Wir vier: unsere kleine, aus drei Personen bestehende Reisegesellschaft und Fanny Markowna, unsere russische Freundin, die schon die Reise durch Polen mit uns gemeinsam gemacht hafte und gleich uns nach Moskau wollte. Und Fanny Markowna war es auch gewesen, die - als wir uns auf den fremden Plätzen häuslich niederließen - gesagt hatte:
„Und in Minsk, Kinder, schlaft... oder macht wenigstens so, als ob ihr schliefet, sonst sind die Plätze futsch..." „Aber man hat ja nach Minsk telegraphiert, dass die Plätze besetzt sind und nicht verkauft werden sollen..." „Ja, wenn sie nur nicht schon verkauft waren, bevor noch das Telegramm kam..." Und sie hatte recht. Als der Zug in Minsk hielt, wurde die Waggontüre aufgerissen, ein schwarzer Menschenknäuel drängte sich ins Wageninnere.
„Still liegen und nicht mucksen!..."
Wir zogen die Decken über die Nasen.
Offen gestanden, ich glaubte nicht recht an den Erfolg dieser „Kriegslist". Denn wer, wie wir, Schlaf simulierend anderen die Plätze nimmt, erwartet den gerechten Zorn der rechtmäßigen Besitzer:
„Sie da! Hören Sie mal, wie kommen Sie denn eigentlich...?!..."
Aber niemand rüttelte uns an den Schultern, niemand zog uns an den unter der Decke hervorlugenden Beinen. Niemand dachte daran, uns zu wecken, und der Lärm, der allmählich zu unerhörten Dimensionen anwuchs, diente auch nicht diesem Zwecke, sondern war sozusagen eine bloße Folgeerscheinung der hitziger werdenden Diskussion, die sich unter den Neuankömmlingen entspann. Was nun folgt, ist die Wiedergabe eines rein akustischen Erlebnisses, denn ich hatte die Decke über den Kopf gezogen und wagte es nicht, auch nur einmal die Nase hervor zustecken und mich umzusehen. Die Sache begann so:
Eine sanfte Männerstimme - sie musste einem friedfertigen Menschen mit taubenblauen Augen gehören - sagte mit einem Male dicht neben meinen Beinen:
„Also, da liegt jemand auf unseren Plätzen..."
Der Ton, in dem die Stimme dies sagte, war schüchtern und verzagt:
„Also, da wären unsere Plätze, aber sie sind besetzt..." Die Stimme verlor sich augenscheinlich in Betrachtungen über die Eitelkeit menschlicher Hoffnungen und Pläne und hätte gewiss eine Zeitlang Ruhe bewahrt, wenn nicht eine zweite Stimme - eine energische, etwas scharf klingende Frauenstimme - dazwischengefahren wäre: „Was heißt denn das, Grigori Semjonowitsch, was heißt denn das: ,unsere Plätze sind besetzt'? Wie können unsere Plätze besetzt sein, wenn wir doch die Platzkarten...?" Die energische Frauenstimme schob sich nach vorn: „Oder haben Sie am Ende falsche Karten gekauft oder uns in einen falschen Wagen...?"
„Aber Awdotja Nikolajewna", verteidigte sich gekränkt die taubenblaue Stimme. „Aber Awdotja Nikolajewna, wie können Sie nur so etwas sagen. Sie wissen doch selber, dass ich die Karten wenigstens ein dutzendmal nachgesehen und auch den Prowodnik gefragt habe, ob dies unser Wagen sei. Aber im Übrigen: sehen Sie doch bitte selber nach. Hier, hier sind die Karten! Nummer 32 und 33... und hier sind die Plätze - auch Nummer 32 und 33... Sie sehen, Sie tun mir Unrecht, Awdotja Nikolajewna, wir stehen vor unseren Plätzen, aber die Plätze sind besetzt..." Von weiter hinten, vom Wageneingang erschollen Stimmen:
„Was ist denn vorn los, Bürger? Warum versperren Sie den Durchgang?! Wir wollen auch zu unseren Plätzen!"
„Drängen Sie nicht!" sagte die energische Frauenstimme gereizt. „Ich sage Ihnen, Bürger, drängen Sie nicht so!
Sehen sie denn nicht, dass wir nicht Platz machen können, weil jemand auf unseren..."
Aber sie konnte nicht zu Ende sprechen: „Ach was, Plätze besetzt... ,das kann jeder sagen! Was gehen uns Ihre Plätze an. Wir können doch deswegen nicht in Minsk bleiben..."
Erregt fiel die Frauenstimme in hohen Fisteltönen über den „rücksichtslosen Egoisten" her, dem das Schicksal seiner Mitmenschen gleichgültig sei, und der deshalb ein böses Ende nehmen werde.
Die Stimmen hinten wurden lauter und dringlicher: „Vorwärts!"
„Wir können nicht warten!"
„Aber Bürger..."
„Wo ist der Prowodnik?"
Es entstand ein kleiner Tumult. Einige der hinten Stehenden hatten offenbar die Geduld verloren und drängten sich durch den Menschenknäuel durch, der sich um unsere Plätze gebildet hatte.
Eine dicke, keuchende Stimme, der man es anhörte, dass sie aus einem Halse kam, dessen Nacken eine rote Fettfalte zierte, tauchte auf und knurrte empört:
„Da liegt ja auch auf meinem Platze irgendjemand, ... das ist ja..."
Ein kleines Kind, das zu seiner Großmutter nach Mittelasien fuhr (die Mutter erzählte es uns am nächsten Morgen), begann - augenscheinlich der kleinlichen europäischen Händel bereits überdrüssig - lauf und mit Ausdauer zu schreien.
Zehn verschiedene Stimmen sprachen durcheinander. Obenauf schwammen die Fisteltöne der energischen Frau. „Sie sollten sich nicht so erregen, Awdotja Nikolajewna", sagte die taubenblaue Stimme sanft, „Sie sollten sich nicht so erregen, es wird Ihrer Gesundheit schaden...", verkroch sich aber sofort in unterwürfiges Schweigen. „Was, nicht erregen? Haha... und wer wird uns denn zu unseren Plätzen verhelfen, wenn ich mich nicht errege, Grigori Semjonowitsch? Wer denn, frage ich?! Vielleicht Sie, der Sie dastehen, als wäre Ihnen der Mund zugefroren...? Sie sagen, es werde meiner Gesundheit schaden, wenn ich mich errege. Ich aber sage Ihnen, Grigori Semjonowitsch, dass es meiner Gesundheit noch viel mehr schaden wird, wenn ich meinen Platz nicht bekomme und die ganze Nacht über stehen muss..." Der Besitzer des vierten von uns besetzten Platzes entdeckte mich und sagte dröhnend:
„Da ist ja noch einer hat man so etwas schon gesehen! Vier Plätze widerrechtlich besetzt!" Er trug gewiss ein Ruderleibchen über mächtig entwickeltem Brustkasten, hatte auf dem linken Oberarm ein blaues Herz und zwei Anker eintätowiert und war eine Michael-Kohlhaas-Natur:
„Ich fahre ja nur bis Smolensk mit und hätte ohnehin nicht geschlafen..., aber Ordnung muss sein, und wenn ich schon eine Platzkarte habe, muss mir die Eisenbahnverwaltung auch einen Platz geben ..."
„Aber lieber Genosse, die Eisenbahnverwaltung kann doch ihre Augen nicht überall..." Allein Michael Kohlhaas blieb hart: „Das ist mir gleich: meinen Platz will ich haben." Er war ein aufrechter Mann, und ich liebte ihn. Schade nur, dass er gerade den Platz beanspruchte, auf dem ich lag. Der Lärm war inzwischen angewachsen. Das Kind schrie andauernd.
Eine bucklige Stimme jammerte stolz: „Also, da haben wir es. Ich sage ja immer, wir reden zu viel von der Amerikanisierung und tun nichts dazu, um sie einzuführen. Ich sage ja immer, wir müssen zuerst im Kleinen anfangen, Ordnung zu schaffen..." „Naja, Ausländer sind es!" bemerkte bissig die Fettfaltenstimme: „Amerikaner! Sehen Sie sich doch nur die Socken an!"
Ich hatte Paul immer davon abgeraten, die blaugrünen Socken mitzunehmen. Jetzt saß er in der Tinte. Jetzt würden sie ihn... Aber nein, sie warfen ihn nicht hinunter, wie ich gefürchtet hatte. Sie ließen uns auch weiterhin unbehelligt „schlafen".
Draußen erscholl das Glockenzeichen. Der Lärm wurde noch stärker.
„Ausländer...! Ausländer hin, Ausländer her..., meinen Platz will ich haben..."
Von hinten schrie man: „Bürger, der Zug geht ab!" Der Lärm schwoll zu einer ungeheuren Welle an und verschluckte alle einzelnen Stimmen. Die Lokomotive pfiff durchdringend. Ganz dicht bei meinem Ohr kreischte auf einmal die energische Frauenstimme gellend auf und zerschnitt den Lärm: „Grigori Semjonowitsch! Grigori Semjonowitsch!... Ich werde ohnmächtig, ich bin auf etwas Lebendiges getreten..."
Stille.
Nur das Kind schrie.
In die Stille sagte Grigori Semjonowitsch dumpf: „Sie haben sich geirrt, Awdotja Nikolajewna, Sie haben sich geirrt: es ist nichts Lebendiges, auf das Sie getreten sind..., es ist nur ein gebratenes Huhn, das zu Boden gefallen ist..."
Der Blautätowierte sagte drohend: „Und überhaupt gehören Amerikaner in den weichen Wagen..." Die Fettfaltenstimme pflichtete bei: „Ganz richtig, in den weichen Wagen,... die haben genug Geld..." Eine Stimme ganz hinten sagte:
„Sie sollten da nicht mitreden, Väterchen, Sie sind auch nicht gerade eine Kirchenmaus..."
Der dicke Nacken protestierte erregt.
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Eine tiefe, milde Stimme flatterte auf Engelsflügeln herzu und meinte:
„Aber Bürger, wir sollten doch verträglich sein: wir sind doch nicht in Polen..."
Das Hohngelächter der Frauenstimme verscheuchte sie aber:
„Hehe, ein Patriot, hat sicher seinen Platz nicht besetzt gefunden..."
Stürmisch verlangten einige Stimmen nach dem „Genossen Agenten", nach dem im Zuge mitfahrenden Beamten der GPU.
Der Lärm ließ für Augenblicke nach. Ich schlief ein...
Als ich am nächsten Morgen erwachte, bot alles ein Bild vollsten Friedens. Einige Reisende lagen noch auf ihren Plätzen und schliefen, andere - auch Fanny Markowna, unsere Freundin - waren bereits aufgestanden und machten Tee.
„Nun, wie ist es gestern ausgefallen... wissen Sie es vielleicht?"
Ja, sie wusste es: der Agent war erschienen und... hatte eine lange Debatte begonnen: zuerst über die Plätze, dann über die Eisenbahn, dann über die Notwendigkeit des Regimes der Ökonomie, dann über den Kampf gegen das Analphabetentum...
„Und dann war es drei Uhr früh, und der Agent machte vier andere Plätze ausfindig, und da gingen eben alle schlafen..."
„Und das soll ich Ihnen glauben, Fanny Markowna...?" Ich war fast beleidigt darüber, dass sie glaubte, mir einen solchen Bären aufbinden zu können. Später freilich war ich selbst Zeuge ähnlicher Szenen, sah selbst, wie der Milizionär in Moskau oder Tiflis oder einer anderen Stadt mit einer ganzen großen Menge „fertig wurde", ohne den Gummiknüppel zu gebrauchen oder das berühmte „Im Namen des Gesetzes..." zu schnarren. Erlebte es selbst, wie der Milizionär eine kleine Rede hielt, wie sich zwischen ihm und den anderen Debatten entspannen, wie alles ohne Drohungen glatt abging. Glatt abging, weil die Menge fühlte, dass ihr gegenüber kein Fremder, kein Feind, sondern einer ihresgleichen stand... und weil auch der Milizionär wusste, dass er nur ein Teil jener Menge war, der er sich gegenüber befand. Damals aber, an jenem Morgen im Waggon, wusste ich es noch nicht, hatte aber keine Zeit, über die Sache weiter zu sprechen oder nachzudenken, weil der Zug gerade hielt und heißes Wasser geholt und Piroschki gekauft werden mussten.
Und als wir beim Tee saßen und die heiße Flüssigkeit vorsichtig durch die Zuckerstückchen zwischen den Zähnen schlürften, war auch keine Zeit, Fanny Markowna weiter auszufragen, denn da kam aus dem Nebenabteil „Besuch" herüber: ein rundlicher Mann mit blondem Bart und einer dicken Falte im Nacken erkundigte sich nach unserem Wohlbefinden, fragte nach Reiseziel und Zweck, fragte, woher wir kämen und was wir bisher bereits auf der Reise erlebt hätten, wünschte uns viel Glück auf unserem weiteren Wege und empfahl sich mit folgenden Worten: „Und wenn man sie gestern nachts vielleicht geweckt hat (ich will nicht hoffen, dass man so unhöflich gewesen ist), so denken sie ja nur beileibe nicht, dass es deswegen geschah, um sie von ihren Plätzen zu vertreiben... Wir in Russland haben Gott sei Dank noch immer in jedem Zuge vier Plätze frei für (hier wurde seine Stimme weich und schnurrend) unsere lieben Genossen aus Amerika..." Sprach's und ging ab.
Die rote Falte im Nacken leuchtete wie Morgenrot...

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