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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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„Die Wahrheit von Gudauti"

Gudauti.
Das Fuhrwerk hält vor der niedrigen, unregelmäßigen Häuserzeile des Marktplatzes, der ein Stück flachen Brachlandes wäre, wenn nicht an einer seiner vier Seiten eben jene Häuserreihe stünde, jene Häuserreihe, die gleichzeitig Markt, Hauptstraße, Vorstadtgässchen und ganz Gudauti ist.
Die Reisenden verschwinden in den Garküchen, deren Türen offen stehen und aus deren Halbdunkel die Feuerchen der Samoware heraus leuchten. Du wendest dich von den Häusern ab, gehst auf den Marktplatz. Männer in pilzförmigen Filzhüten, in Turbanen, drängen sich durcheinander, kaufen, verkaufen. Man hält feil:
Jagdfalken, grau-braun gesprenkelte und dunkelbraune mit bernsteingelben Augen.
Ledersättel mit Messingbeschlägen.
Buntes Riemenzeug, das durch Pferdemähnen geflochten wird.
Hausleinen.
Schaffellmäntel, roh zugeschnitten, die wollige Seite nach außen.
Fellmützen und Filzhüte. Töpferwaren.
Glasgeschirr: dickwandige, grünlich schillernde Becher und matt gewordene Spiegel, Glasperlen, Glasschmuck. Dann noch Brot, Fleisch, Früchte in großer Menge. Alles irgendwie grob und arm... oder ist es nur der seit Stunden unaufhörlich niedersprühende Regen, das fahle Zwielicht, was den Waren auf dem Markte von Gudauti diesen Schein von Dürftigkeit und Primitivität verleiht? Die durcheinander wimmelnde Menge der Käufer, Gaffer und Verkäufer lichtet sich. Einer nach dem andern beginnen die Händler ihre Waren einzupacken. Die Falken wandern unter die Mäntel ihrer Herren, die Sättel auf einen hochräderigen Karren. Der Markt ist zu Ende. Du siehst eine Weile dem Einpacken zu, dann kehrst du zu der Häuserreihe zurück. Aus den Garküchen strömt beißender Qualm und der Duft von Zwiebeln, Hammelfett und süßlichem, billigem Tabak. Du gehst die Häuserzeile entlang, zuerst nach links hin, bis zum Ende, dann nach der entgegengesetzten Seite. Der dickflüssige Schlamm, in dem einige magere, schwarze Schweine mit Behagen herumschnüffeln, schmatzt unter deiner Sohle und will sie nicht von der Stelle lassen.
Irgendwo, an einer roten Mauer, hängt ein glatt gehobeltes Brett.

WANDZEITUNG
„Die Wahrheit von Gudauti"

verkündet eine Überschrift in russischen Lettern und in unbekannten Schnörkelbuchstaben einer fremden Sprache. Darunter klebt ein Stück Zeitungspapier, ein Ausschnitt aus der „Prawda": der Aufruf des Gesamtrussischen Gewerkschaftsbundes mit der Aufforderung, die streikenden englischen Bergarbeiter zu unterstützen. Und unter dem Zeitungsausschnitt, in ungelenken Zügen, mit Kohle geschrieben und vom Regen halbverwischt, drei Zeilen in der unbekannten Schnörkelschrift und dann russisch: „Die Solidarität der arbeitenden Klasse reicht über Berge und Grenzen. Die werktätige Bevölkerung von Gudauti und die zu Markt fahrenden Kutscher sammelten bisher 32 Rubel 24 Kopeken für ihre englischen Brüder..."

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