Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Ludwig Renn - Krieg (1928)
http://nemesis.marxists.org

Auf Patrouille

Wir waren sieben Mann mit dem Leutnant. „Gewehr umhängen! Ohne Tritt - marsch!" Die Perle kam uns nachgelaufen.
„Da hast du ein Stück Wellfleisch!" flüsterte er. „Aber's tropft!"
Er gab mir das warme, wabblige Stück in die Hand. „Ich danke dir", sagte ich. „Aber was soll ich jetzt damit tun?"
„Steck's doch in den Feldbecher!" sagte er und blieb zurück.
Ich hakte den Feldbecher vorn Brotbeutel ab, drückte es hinein und steckte den Becher aufrecht in die rechte Rocktasche. Es wärmte mein rechtes Bein. Ich lächelte in mir wegen des warmen Gefühls und auch, weil er mir das nachgebracht hatte. Aber dann wurde ich aufmerksam.
Wir gingen an dem vordersten Posten vorbei in den schon dämmrigen Wald. Der Weg war steinig und ging steil abwärts in einen Grund. Der Leutnant schritt eilig voran. Vielleicht wusste er schon Genaueres über die Stellung der Franzosen. Wir bemühten uns, nicht so laut zu gehen, aber es ging bei den Zweckenstiefeln nicht anders. Dunkel standen die Fichten in der stillen, klaren Luft.
Eine schmale, halb verfallene Brücke führte über eine Schlucht, in deren Tiefe ein dünnes Wasser rauschte. Der Weg ging steil aufwärts. Zwischen den Bäumen war es unheimlich schwarz, während der Himmel in der Weglücke noch leicht strahlte.
Der Leutnant blieb stehen und winkte mit der Hand, still zu sein. Wir standen. Beim Atmen knirschte das neue Lederzeug.
Es ging weiter. Wir mussten uns schon dem nächsten Bergkamm nähern. Der Leutnant blieb öfter stehen. Kein Geräusch war zu hören, nicht einmal ein Flügelschlag oder ein Rascheln im gefallenen Laub. Der Wald hörte rechts auf. Eine Höhe war vom Himmel begrenzt. Wir verließen den Weg nach links und schlichen am Waldrand entlang. Unter uns war kurzes Gras. Links fiel der Wald in ein dunkles, tiefes Tal. Einige hundert Meter vor uns hing schon ein Nebelstreifen an einem Waldvorsprung. Dort hielten wir. Es war schon ziemlich dunkel. Der Leutnant winkte uns um sich herum.
„Jenseits der Höhe fließt die Maas. Ob die Franzosen auf unserem Ufer sind, weiß ich nicht. Aber wenn sie auf unserem Ufer sitzen, dann sitzen sie nicht unmittelbar davor. Hier am Waldrand ist es gefährlich weiterzugehen, wegen Überraschungen. Rechts auf der Höhe läuft eine Straße, da sind wahrscheinlich Posten und Patrouillen. Also in der Mitte. Die Leute auf der Straße müssen wir gegen den Himmel sehen, dagegen können sie uns gegen den Wald nicht sehen."
Wir gingen in einem Haferfeld vor. Es hatte stark getaut. Die Halme bogen sich um die Beine und ließen knallend los. Meine Hosen waren schon bis zum Rockschoß durchnässt.
Zwei Spuren im Getreide! Die Halme lagen in derselben Richtung, in der wir gingen. - War das eine Patrouille gewesen? Zwei Mann wären dafür reichlich wenig. Es müssen schon Zivilisten gewesen sein. Dass die durch den Hafer gegangen sind, ist verdächtig. Die haben sicher spioniert.
Surrr! fährt es vor uns auf! Mein Herz stockt. Wir stehen. Nur ein Rebhuhn! Ich schämte mich. Der Leutnant lachte etwas verlegen. Wir schritten weiter in die graue Dämmerung und kamen auf eine flache Höhe. Auf einmal stockte der Leutnant. Er winkte mit der Hand nach unten. Ich kniete nieder.
Ein sonderbares Geräusch kam von vorn, wie ein Klirren von Draht.
„Was ist das?" flüsterte der Leutnant.
Die Hufe vieler Pferde im Galopp auf uns zu! Ich entsichere das Gewehr. Der Leutnant knackt an seiner Pistole. Die Hufe immer näher! Ich bringe das Gewehr in Anschlag. Jähes Halten drüben! Drähte klirren. Durchschneiden sie jetzt den Drahtzaun? - Nichts ist zu sehen als unbestimmtes Grau. Sie können nur fünfzig Schritt vor uns sein. - Die Drähte klirren immer noch. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. Was ist das nur? - Ich setze das Gewehr ab. Der Leutnant beginnt gebückt vorzuschleichen. Wir gehen mit, das Gewehr bereit. Er bleibt stehen und schleicht dann weiter. Er kniet nieder und zeigt nach vorn. Undeutlich bewegt sich etwas vor uns. Es sind Rinder. Der Leutnant steckt die Pistole ein.
„Da haben wir uns aber nasführen lassen! Es sind Rinder, die sich am Drahtzaun schaben, und Pferde, die herumgerannt sind."
Wir bogen nach rechts am Drahtzaun entlang. Ein paar Bäume und Häuser erschienen. Nirgends Licht. Wir schlichen links an den Häusern hin. Ein kurzer Weg zwischen Steinmauern. Dann fiel die Wiese sanft ab. Wir kamen an den Rand, wo es steil in die Tiefe ging, in der es stark rauschte. Dicker, weißer Nebel hing unten.
„Dort unten fährt wohl eine Eisenbahn?" sagte ich.
„Es ist nicht gut möglich, dass hier noch Züge fahren. Das muss die Maas sein. Aber ich wundere mich auch, dass sie so laut rauscht. — Jetzt müssen wir versuchen, hinunterzukommen."
Er tastete vorwärts. Geröll war am Hang. Er kam ins Rutschen. Ich fasste ihn am Arm. Aber er rutschte weiter. Ziesche fasste mit an, und wir zogen ihn herauf. Er zitterte etwas, sagte aber nichts.
Wir gingen nach links am Hang entlang, einen Pfad zu suchen. Die Wiese hob sich wieder. Wir kamen auf eine kleine Kuppe, von der es nach drei Seiten steil abfiel. Wir blieben an einem wilden Rosenstrauch stehen.
„So viel ist sicher", sagte der Leutnant, „dass man hier nicht mit Truppen hinunter kann. Das sollten wir nämlich feststellen. - Wir werden hier rasten. Vor Überraschungen sind wir ja sicher."
Ich breitete meine Zeltbahn aus und setzte mich mit dem Leutnant und Ziesche darauf. Der Becher war in der Rocktasche umgefallen. Die ganze Tasche war von der Brühe fettig. Glücklicherweise war sonst nichts in der Tasche gewesen.
Ich teilte das Fleisch mit dem Taschenmesser, und wir aßen es zu dritt. Ziesche gab Brot und Fabian hartgekochte Eier.
Es fing leise zu regnen an.
„Wir müssen bis zum Morgen hier bleiben", sagte der Leutnant, „um uns noch einmal bei Tage die Gegend anzusehen. Aber hier wird es elend kalt und nass. Wir werden mal sehen, ob wir nicht im Dorf unterkommen können."
Mir kam das Übernachten im Dorf bedenklich vor. Die Belgier sollten ja schon mehrfach in der Nacht welche umgebracht haben. Und zudem konnten wir nicht wissen, ob nicht im Dorf sogar feindliche Soldaten steckten.
Wir kamen an den ersten Gutshof. Er war von einer hohen Mauer umgeben, fast wie eine Burg. Das Tor stand offen. Mehrere Hunde schlugen im Hause an. Fabian ließ zwei am Tore zurück.
„Sofort, wenn Gefahr ist, schießen!" flüsterte er.
Wir schleichen in den Hof. Da ist es unheimlich düster, in der Mitte ein schwarzer Misthaufen. Die Hunde bellen. Der Leutnant klinkt an der Tür. Sie ist verschlossen. Er klopft. An einem Fenster erscheint ein Licht und verschwindet. - Der Leutnant schlägt mit dem Pistolengriff an die Tür, dreimal. Die Schläge dröhnen aus dem Hause zurück. Die Hunde bellen. Ein entferntes Fenster wird erleuchtet, dann das nächste. Jemand kommt schlürfend und öffnet. Wir dringen hinein. Der Leutnant öffnet die Tür gegenüber. Zwei große Männer und eine Frau stehen drin und sehen uns stumm an.
Der Leutnant macht eine Handbewegung nach rechts: „Nach Waffen durchsuchen!"
Ich sehe noch, wie die Frau ihm zu Füßen fällt, und trete in die Stube rechts. Da ist es dunkel. Ich gehe zurück, Licht zu holen. Die Frau hat die Beine des Leutnants umfasst und schreit etwas immer wieder.
„Haben Sie etwas gefunden?" fragt er.
„Nein, Herr Leutnant, es ist dort dunkel."
„Dann hinaus!"
Wir standen draußen.
„Wir müssen etwas anderes suchen", sagte der Leutnant, noch wie unbewusst. Jetzt vorsichtig sein! Die denken ja alle noch zurück an den unheimlichen Hof. Und wir stehen hier auf der Dorfstraße ohne jede Vorsicht.
„Da war was nicht in Ordnung" sagte Fabian. „Weshalb hatte die Frau solche Angst?"
Wir gingen langsam die Straße entlang. Das Dorf schien nur aus drei großen Höfen zu bestehen. Links kam ein nach drei Seiten offener Schuppen.
„Hier werden wir die Nacht zubringen", sagte der Leutnant.
Mir erschien der Platz ziemlich sicher,- denn links war eine Mauer, und nach den übrigen Seiten war es frei. Wir schleppten Stroh herbei. „Renn, Sie stehen Posten."
Ich hängte die Zeltbahn um und ging vor dem Schuppen auf und ab.
Was die Frau entsetzt war! Was das unheimlich war, da drin! Das muss schon irgendeinen Grund gehabt haben. Ob sie vielleicht da drin ein paar von unseren Husaren umgebracht haben? Es sollen doch welche verschwunden sein. - Ich stand auf einmal vor einem Gedanken: die Pferde vorhin? Die schweren belgischen Pferde rennen doch nicht auf einmal in der Nacht so herum. Das waren Kavalleriepferde.
Ich hörte leise Schritte hinter mir und wandte mich um. Es war der Leutnant.
„Hören Sie", flüsterte er, „Sie machen mit Ihren Nagelstiefeln zuviel Lärm. Da sich das nicht vermeiden lässt, solange ein Posten steht, kommen Sie lieber mit unter das Dach, und wir wachen abwechselnd. Ich fange damit an; ich kann sowieso noch nicht schlafen."
Ich legte mich, das Gewehr im Arm, neben Ziesche hin. Unter dem Stroh waren irgendwelche eisernen Geräte verborgen, auf denen ich liegen musste, weil sonst kein Platz mehr war. Gerade unter meinem Kreuz lag schräg eine Stange.
Ich lag. Der feuchte Wind strich mir übers Gesicht und kroch auch hier und da durch die Falten der Zeltbahn. Ich lag und konnte nicht einschlafen. Der Punkt hier war mir doch nicht recht geheuer. Immer zog es mich, in die Gegend zu sehen. Aber der Leutnant hätte es gemerkt.
Schritte? - Jemand berührte mich. Ich fahre auf.
„Die andern wecken", flüstert der Leutnant. Er hat schon die Pistole in der Hand.
Ich packe Ziesche am Arm. Er richtet sich auf. Die Tritte sind schon nah. Über zehn Mann, schätze ich. Einer schnarcht. Das Lederzeug knirscht bei jedem Atemzug. Ich stoße den Schnarcher in die Seite. Er schnarcht auf und schläft weiter. Ich höre Ziesche das Gewehr entsichern. Vielleicht dreißig Schritt von uns stehen sie jetzt und flüstern. Zu sehen ist nichts. Wir sind nur fünf zur Abwehr bereit. Sie müssen uns bemerkt haben. Wenn man nur ein Wort verstehen könnte!
„Guten Abend, Reichart!" ruft Fabian und steht auf.
„Guten Abend", ruft es zurück, wie erlöst. Es war eine andere Patrouille unseres Regiments.
Die Offiziere sprachen miteinander. Dann ging die Patrouille Reichart nach rechts weiter.
„Verflucht", sagte Fabian. „Hier bleiben wir nicht."
Wir zogen uns wieder nach links, wo wir vorhin versucht hatten, hinabzuklettern.
Auf einmal war auf der dunklen Wiese ein rötlicher Schein. Wir wandten uns um. Drüben brannte eine Scheune, vielleicht schon jenseits der Maas, vielleicht aber auch auf einer vorgeschobenen Höhe unseres Ufers.
Auf der Höhe mit dem wilden Rosenstrauch, wo wir vorhin saßen, setzten wir uns auf die Zeltbahn. Der Regen machte ein feines Geräusch im Gras. Über die Höhe strich gleichmäßig der Nebel in dünnen Streifen. In der Ferne knallten ein paar Gewehrschüsse. Zwei schliefen schon wieder. Drüben schlugen die Flammen aus dem Dach, links mit heller Flamme, rechts düster rot und qualmig. Das Dach brach ins Innere. Funken stoben in den schwarzen Himmel, und eine lange Flamme wurde herausgezogen, riss ab, und unten blieben kleinere Flammen, züngelnd, unruhig. Balken fielen funkensprühend herab. Die Glut wurde düsterer. Es regnete nicht mehr. Nur der Nebel nässte noch. Da kam langsam der Tag. Der Leutnant schlief nicht. Manchmal regte er sich ein klein wenig. Einer wachte auf, dehnte sich mit den Ellbogen und strich sich mit den Händen über die Augen. Dann wurde er lebhafter und schnitt Brot.
„Es hat keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben", sagte Fabian. „Der Nebel geht in den nächsten Stunden nicht weg, und wir müssen bis zehn Uhr hinten sein."
Wir gingen nach dem Dorf und kamen auf die Höhe. In der Mulde dahinter wurden Geschützstellungen geschanzt.
„Was soll denn das heißen?" sagte Fabian. „Es sind wohl noch viel mehr als unsere Patrouillen hier vorn gewesen? Sonst könnten die doch hier nicht so friedlich schanzen."
Wir gingen durch die Mulde. Auf der nächsten Höhe tauchte ein Reiter auf. Das war unser Adjutant.
„Ihre Kompanie kommt gleich hinter mir! - Unsere Armee greift an!"



Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur