Rückzug
„Fertigmachen! In einer halben Stunde steht die Kompanie!"
Wir marschierten wieder nach vorn. Es wunderte mich, wie gleichgültig es mir war, wohin wir marschierten. Die Sonne brannte gerade herunter. Wir zogen uns nach links in den Wald. Vor uns stieg eine ziemlich bedeutende Höhe an.
Boehm rief die Zugführer.
„Wir gehören zur Nachhut und haben den Auftrag, zusammen mit unserer Maschinengewehrkompanie und einer Abteilung Feldartillerie die Franzosen aufzuhalten. Niemand darf sich oben auf der Höhe zeigen außer den Posten."
„Kommt die Feldküche vor?" fragte Ernst.
„Nein, die ist schon mit der Gefechtsbagage abgerückt."
Ich fühlte mich ausgezehrt und legte mich unter einen Baum. Es war wunderbar still. Nur einige Fliegen summten. Es roch nach frischem Harz. Der Himmel zwischen den Fichten war tiefblau und glänzend. Solchen Himmel gab es auch zu Hause auf unserem Berge.
Wenn die Franzosen kämen, ahnungslos die Straße entlang? Ich freute mich fast darauf und schlief ein.
Ich wachte auf und lag im Walde. Die Sonne schien schon schräg. Ein kräftiges Hungergefühl trieb mich auf. Ich wunderte mich, niemand um mich zu sehen.
Sie hatten sich etwas abseits in den Schatten einer Baumgruppe gesetzt und hörten dem Leutnant zu.
„Das gönne ich den Franzosen nicht, dass sie uns jetzt nachkommen können, als hätten sie gesiegt. Die Hunde sind doch so feige, dass sie jetzt noch nicht da sind! Sie riechen wahrscheinlich unter jeden Busch, ob nicht ein Deutscher drunter sitzt!"
Von oben kam einer atemlos. „Herr Leutnant, sie kommen die Strafte entlang!"
„Die Höhen besetzen! Aber nicht schießen, bis sie nicht auf hundert Meter heran sind!"
Wir liefen ausgeschwärmt die Höhe hinauf. Der Wald zog sich noch zwanzig Schritt den anderen Hang hinunter. Rechts auf der Strafte kam die französische Spitze, ein kleiner Klumpen Menschen.
Rrrrrr! setzte jenseits der Straße eins unserer Maschinengewehre ein.
Die Franzosen fuhren auseinander in die Straßengräben.
Sch! Sch! Von hinten fuhr es über uns weg und schlug irgendwo in den Wald.
Rechts ratterten mehrere Maschinengewehre, dazwischen unregelmäßiges Gewehrfeuer. Für uns war die Aussicht nach weiter vorn durch eine niedrige Waldhöhe versperrt.
Rechts hörte das Schießen auf. Nur unsere Artillerie schoss.
Wir warteten. Rechts setzte ein Maschinengewehr ein, brach aber bald ab. Unsere Artillerie hatte auch aufgehört zu schießen.
Sch! S! S! S! kam es von vorn und rauschte hinter. Ram! Ra! Ramm! hinten im Grunde. SsSsSsSs! ging es rechts hinüber. „Pst!" machte Ziesche.
Ich sah links drei aus dem Walde kommen. Sie gingen langsam auf unsere Höhe los.
Ramm! krachte es links hinter uns in den Wald. Hatten sie uns doch schon entdeckt?
Krap-parrr! Die Granate schien in einer Baumkrone krepiert zu sein.
Aus dem Wald kamen etwa zehn Mann unregelmäßig verstreut, immer mehr.
„Jeder einen Mann aufs Korn nehmen und entsichern!" rief Ernst ganz leise. Wir flüsterten den Befehl weiter.
Sch! Sch! kam wieder unsere Artillerie von hinten vor, aber von weiter hinten, wie es mir schien.
Ich legte an auf einen, der, das Gewehr unter dem Arm, langsam heraufstieg.
„Schützenfeuer!" schrie Boehm gellend.
Ich drückte ab. Das Feuer knatterte. Mein Mann lag. Ein paar rannten noch und warfen sich hin. Ich schoss auf den nächsten rechts.
Es waren Geräusche von schwerem Krachen. Aber im Walde hallte es zu stark, um es zu unterscheiden.
S! S! zirpten ein paar Kugeln über uns weg.
Unsere Maschinengewehre ratterten. Ich sah rechts von mir Hartmann laden und schießen und wieder laden. Er schien wie im Fieber.
„Ruhiger schießen!" brüllte Ernst.
Das Knallen ließ etwas nach. Mir schien es, als schössen die deutschen Batterien nicht mehr. Maschinengewehre hörte ich auch nicht.
„Zurückgehen!" wurde von links durch die Linie gerufen.
Das Gewehrknallen hörte auf. Hinter uns krachten Granaten. Wir standen auf und gingen den Hang hinab.
Kramm! Rechts von mir flog neben einem Busch Dreck auf, und eine schwarze Wolke stand.
Pack! fuhr es links etwas näher in den Boden.
Krappramm! riss es in halber Höhe an einem Baum. Die Krone kippte ab und fiel in die unteren Äste.
Zwei rannten eilig dort vorbei. Sollte man auch rennen? Hartmann kam dicht zu mir.
Wack! in den Boden.
„Jetzt durch!" sagte ich und rannte los, um ein paar Bäume.
Kramm! links, und warf Dreck umher.
Es wurde offener, nur noch einzelne Büsche.
Krapp! rechts hinter uns.
Wir waren durch. Ich hörte zu rennen auf und sah mich um. Sie rannten noch hinter mir. Ziesche fehlte. Nein, dort kam er hinter einem Busche hervor, ziemlich langsam, und sah immerfort nach rechts und links.
„Was rennt ich denn?" rief er. „Du wärst beinah reingerannt."
Ich wendete mich ab. Sie sahen mich an. Ein Unsinn, zu rennen! Ich hasste mich!
„Passen Sie doch auf. Renn!" rief Ernst. Ich fuhr zusammen, er gab das Zeichen zum Sammeln.
Die Franzosen schossen weiter auf verschiedene Stellen im Walde. Wir marschierten zurück und bogen auf die Straße. Im Dämmerlicht erkannte ich, dass unser ganzes Bataillon dagewesen war, vielleicht noch mehr. Es wurde still.
Unter Halten und Stocken kam der Marsch in Gang. Vor uns fuhr eine Batterie. Der hinterste Wagen klapperte von Eisen. Das Mondlicht lag auf dem dunklen Kasten, aus dem irgendwelche Stangen ragten. Ich fühlte mich elend und erbärmlich.
Wir kamen wieder in das Dorf, wo wir den Streit mit dem Hauptmann hatten. Das nächste Dorf kam, das kurz dahinter lag. - Wenn wir den ganzen Marsch zurück machen müssten, den wir damals vor machten?
Wir hielten ein-, zweimal.
Der Mond ging unter. Es wurde ganz dunkel.
Und dann begann es langsam hell zu werden. Der Himmel hatte sich umzogen. Vor uns lag eine weite, kahle Fläche. Das Gras auf den Wiesen war braun und wie tot. Es lastete schwül.
Wir hielten. Ich legte mich auf den Tornister. Zu beiden Seiten der Strafte hockten sie nieder. Sie hatten nichts im Magen. Bei mir schien der Durchfall vorübergegangen zu sein. Der Himmel blendete mich, und ich schloss die Augen.
Auf einmal zupfte mich jemand am Ärmel. Ich sah in das fahle Gesicht von Weiß mit ganz erschöpften Augen. Ich fuhr erschreckt empor. „Was ist mit dir?"
„Mein Arm tut so weh, und der Tornister drückt so."
Ja, Weiß war überhaupt schwächlich.
„Aber wie soll ich dir helfen?"
„Ich weiß nicht", flüsterte er kläglich.
„Warte mal", sagte ich. Es wurde mir sauer, aufzustehen. Ich ging zu Ernst.
„Herr Feldwebel, der Weiß hat einen Prellschuss am Arm, aber er wollte bei der Kompanie bleiben. Aber jetzt kann er doch nicht mehr. Könnte er nicht wenigstens ein Stück auf einer Kanone mitfahren?"
„Ich weiß schon", entgegnete Ernst. „Ich werde es Herrn Leutnant sagen."
Als ich zu ihm zurückkam, saß Weiß am Straßenrand. Er zitterte und versuchte, es mir nicht zu zeigen.
Ich sagte ihm: „Hab keine Angst. Wir sind bald da." Aber ich glaubte es selbst nicht. „Dann sehe ich deinen Arm mal nach." Ich wusste aber gar nicht, was man mit so einem Arm macht.
Boehm ging zur Artillerie vor und holte dann Weiß und einige, die nicht mehr fortkonnten.
Wir marschierten weiter. Am Straßenrand lagen Schanzzeug, Telefontornister, Seitengewehre, aber keine Marschkranken. Denn wer liegen blieb, kam in Gefangenschaft.
Gegen neun Uhr vormittags kamen wir in ein Dorf. Dort sollten wir bleiben. Die Feldküche stand da und war hoch mit Broten beladen.
Der Adjutant kam in scharfem Trab geritten. „Sofort abmarschieren, in dieser Richtung!" Er deutete dahin, von wo wir eben kamen.
„Verfluchte Scheiße!"
„Man kann uns doch nicht hin und her zerren wie die jungen Hunde!"
„Ruhe!" brüllte Boehm.
„Herr Leutnant!" sagte ein Unteroffizier. „Das geht nicht mehr."
„Wir sind im Kriege! Da lässt sich keine Rücksicht nehmen!"
Wir marschierten wieder nach vorn und legten uns in eine flache Mulde. Boehm nahm die Zugführer vor und bestimmte die Abschnitte. Wir schwärmten aus und schanzten in dem Sandboden. Ich hatte bald ein Loch gegraben, groß genug, mich hineinzulegen. Dann gab ich meinen Spaten
dem Linke, der seinen gestern weggeworfen hatte, weil er so schwer war und immer mit dem Stiel ans Knie schlug.
Die Feldküche kam hinter uns in die Mulde gefahren. Sie hatten vier Pferde vorgespannt, um sie mit der schweren Belastung in dem Sandboden fortzubringen, und trieben die Pferde mit Hüo und Peitschenknallen vorwärts.
Wir traten zum Essenempfang an.
Boehm befahl, in drei bis vier Stunden noch einmal Essen auszugeben.
Ich ging zu Weiß, obwohl es mir selbst schwer wurde zu gehen und ich lähmend müde war. Er hatte sich einen neuen Rock verschafft, der ihm um seinen dünnen Leib schlotterte. Ich half ihm den Rock ausziehen. Die Binde saß noch auf der Stelle, hatte sich aber zusammengedreht und musste drücken. Ich wickelte sie ab. Das Päckchen war mit Blut angeklebt. Ich versuchte, es vorsichtig abzulösen. Aber er griff hin und riss es herunter. Die Schmarre war schon zugeheilt. Aber der Muskel war geschwollen und sah blau aus.
„Ist das gefährlich?" fragte ich ihn.
Er schielte hinunter. „Das ist ganz harmlos, aber's tut lausig weh."
„Komm!" sagte ich. „Jetzt ziehen wir wieder deinen Rock an, und dann schlafen wir drüben in meinem Loch."
Ich hörte, wie Boehm mit Ernst sprach: „Es ist noch die neue Nachhut vor uns. Wir brauchen keine besonderen Vorsichtsmaßregeln."
Ich legte die Zeltbahn unten in das Loch; denn der Sand war feucht. Unser Loch war eng für zwei. Ich begann auf einmal zu frösteln. Weiß zitterte, wohl vor Überanstrengung.
„Lehn dich an mich an, dass dein Arm ganz frei liegt!"
Ich zog noch an der Decke herum. Dann wusste ich nichts mehr.
„Kompanie fertigmachen!" Heftiger Kanonendonner.
Pramm! schlug eine Granate vielleicht zweihundert Meter vor uns ein. Es war mir, als hätte es schon lange geschossen. Der Himmel sah unheimlich schwarz aus mit einem fahlen Glanz.
Ich stand auf. Weiß schlief noch. Wie blass er aussah! Es tat mir leid, ihn zu wecken. Ich packte ihn am Bein.
Er schnaufte und sah sich auf einmal um. „Wie ist dir jetzt?" fragte ich.
Er wischte die Augen mit dem Handrücken und lächelte. „Gut." Ist das ein Kind! dachte ich.
Eine Granate schlug ganz nah ein. Ich könnte mich danach umsehen, aber ich tat es nicht. Die Kanonen wummerten. Oder war das Donner? Ein Windstoß fegte Staubwolken über die Fläche.
Wir sammelten rückwärts und marschierten ab. Hinter uns donnerten noch die Kanonen. Von rechts trieb uns ein Wind Staub und Hagel ins Gesicht. Die Körner sprangen auf den Feldern.
Boehm ging vor uns mit schief gehaltenem Kopf und sagte: „Da wird man doch wenigstens mal rein! Aber gemein ist, dass man dabei nicht rauchen kann!"
Stoßweise kam der Wind, bald mit dicken Wassertropfen, bald mit Hagel. Am Gewehr lief das Wasser entlang und tropfte vom Helm in den Hals.
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