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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Zusammenbruch

I.

„Wir müssen sehen, wie wir den Ersatztransport hinauskriegen", sagte mir der Leutnant im Geschäftszimmer des Ersatzbataillons. Mich wunderte der Ton. Das ist wahrscheinlich einer von den ganz Ängstlichen, dachte ich.
Wir gingen auf den Kasernenhof hinaus. Die Kompaniefeldwebel ordneten ihre Leute und meldeten. Es fehlten noch etwa fünfzig Mann. Die da waren, trugen große Pakete in den Händen, standen unordentlich im Glied und schwatzten durcheinander.
Wir warteten. Von den Fehlenden kamen nur noch drei. Das sind aber Zustände hier beim Ersatzbataillon! dachte ich.
„Die Fehlenden werden Herrn Major gemeldet!" sagte der Leutnant. „Wir müssen jetzt abmarschieren."
Auf dem Bahnhof beim Einsteigen in den Zug schimpften die Leute, es wäre zuwenig Platz.
Der Leutnant nahm mich mit in sein Abteil. Der Zug fuhr ab.
„Unerfreulich!" sagte er nach einer Weile. „Die Lage an der Front scheint auch recht bedenklich zu sein."
„Ich habe die Frontbewegungen nicht verfolgt, Herr Leutnant."
„Lesen Sie denn keine Zeitungen?"
„Nur selten, und dann versteht man nichts."
Er sah mich forschend an. „Da wissen Sie wohl auch nichts von dem deutschen Friedensangebot?"
„Ich habe gehört, dass man sich darüber aufregt. Aber ich verstehe nicht, weshalb."
„Nu, es ist doch ein Eingeständnis unserer Schwäche!" fuhr der Leutnant auf.
Ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Es war mir auch ganz gleichgültig, was man darüber sagte, wenn nur der Krieg zu Ende ginge! Ich hatte auch noch nie über Politik nachgedacht. Ich hatte einen Ekel davor, wie vor etwas Schmutzigem.

 

II.

In einer kleinen flandrischen Stadt stiegen wir nach mehreren Tagen Bahnfahrt aus und marschierten bei Sonnenschein auf einer flachen Straße, rechts und links Gemüsefelder mit blauen Kohlköpfen auf moorigschwarzer Erde.
Ich marschierte vorn, der Leutnant hinten. Die Leute schwatzten und schimpften so laut, dass wir es verstehen mussten.
„Jetzt ist der Kotz aus! Wegen der paar Tage Krieg werden wir uns nicht mehr totschießen lassen!"
„Wenn ich vor soll, sage ich einfach: Das mache ich nicht!"
Ein paar niedrige Ziegelhäuser kamen, neben denen vier Bäume seltsam hoch aussahen.
Wir kamen in einen größeren Ort. Auf dem viereckigen Marktplatz verteilte der Regimentsschreiber den Ersatz auf die Bataillone. Ich kam zum zweiten Bataillon.

 

III.

Ich wartete von Tag zu Tag, was mit mir werden sollte. Das Regiment war winzig klein geworden. An einer Stelle, irgendwo vorn, war ein ganzes Bataillon umzingelt und abgefangen worden, anderswo die erste und die dritte Kompanie mit dem Bataillonsstab. Offiziere fremder Regimenter waren herversetzt worden, die niemand kannte. Zwei der Bataillonskommandeure waren eigentlich Kavalleristen. Jetzt sollte ein Reserveregiment aufgelöst und damit unser Regiment aufgefüllt werden.
Die Geschäftszimmer, bei denen ich war, lagen etwa fünfzig Kilometer hinter der Front und verkehrten mit der Front und den Feldküchen durch Boten auf Fahrrädern, die meist erst am nächsten Tage zurückkamen.
Die Ersatzmannschaften, die ich mitgebracht hatte, bummelten in den Straßen umher und gingen ins Kino.
Endlich eines Morgens war der Regimentsadjutant gekommen und hatte befohlen, die Ersatzmannschaften sollten mit einem um zehn Uhr eintreffenden Bataillon zum Regiment vorrücken.
Wir traten auf dem Marktplatz an. Die Ersatzmannschaften waren sehr still. Vielleicht fürchteten sie sich vor dem Bataillon, das angekündigt war, und wollten erst einmal das Weitere abwarten.
Wir warteten. Nach anderthalb Stunden kam ein Offizier geritten und sagte, das Bataillon hätte nicht den Umweg über den Ort hier machen wollen. Er würde den Ersatz vorführen.
Wir marschierten ab. Ich ging hinten. Es war schwül. Die Sonne schien, aber zugleich war ein graues Gewitterlicht da.
Es war sehr dunkel geworden. In der Ferne zuckte es. Große Tropfen fielen, immer dichter.
Im nächsten Ort traten wir in eine große, leere Scheune, die merkwürdig schwarz aussah, und warteten, dass der Gewitterguss vorüberginge.
Gegen Abend kamen wir in eine kleine Stadt mit engen Gassen. Es ging auf schmalen Brücken über Kanäle mit langsam fließendem Wasser, auf dem Lastkähne lagen.
Auf einem Platze hielten wir. Mehrere Offiziere kamen aus einem Hause. Ich kannte keinen von ihnen.
„Vizefeldwebel Renn zur sechsten Kompanie!"
Ich rückte mit den zwanzig Mann für meine Kompanie ab. Ein Bataillonsläufer führte uns.
„Hier wohnt Herr Leutnant Schubring", sagte der Läufer.
Ich ließ halten und richtete die Leute aus. Mich ärgerte ihre schlappe Haltung.
„Sie müssen nun einmal stillstehen", sagte ich, „da machen Sie's auch gut! Oder gehören Sie zu denen, die alles möglichst schlecht machen wollen?"
Der Ton schien sie zu verwundern. Ich ließ sie stehen und ging ins Haus.
Im ersten Stock traf ich einen Gefreiten.
„Ich möchte zu Herrn Leutnant."
Jemand sah aus einer Tür. „Wer ist da?" Er trug einen spärlichen, sehr geraden Scheitel in der Mitte und einen Klemmer darunter.
„Vizefeldwebel Renn mit zwanzig Mann als Ersatz zur sechsten Kompanie!"
„Kommen Sie mal herein!" Er war etwa vierzig Jahre alt und sah nervös aus. „Was für Ersatz? Wieder so verlumptes Pack?"
„Sehr schlapp, Herr Leutnant." „Was? - Gut, ich sehe sie mir an." Er verteilte die Leute.
„Sie bekommen den zweiten Zug", sagte er zu mir. „Den führt bisher der Unteroffizier Mehling, ein gewandter Mensch, aber zu jung. Er liegt hier nebenan."
Ich ging ins Nebenhaus. Mehling sah mich aus offenen, braunen Augen an und erklärte mir mit wenigen Worten alles. Er war der erste klare Mensch, seit ich wieder im Felde war.
Der Führer des ersten Zuges war Unteroffizier Höhle, der des dritten Leutnant Hanfstängel.
Wir blieben mehrere Tage in der Stadt. In der Ferne hörten wir manchmal ein Murren von Kanonen. Vor uns lag noch eine Division. Wir stellten nur einige Posten nach rechts, weil man unserer Nachbardivision nicht traute. Angeblich hatte sie sich mit der Bevölkerung verbrüdert.
In der Stadt waren alle Läden offen. Da gab es Zwirn und weiße Semmeln. Ich kaufte mir gleich welche und aß in einer Konditorei ein Stück echten Kuchen. Das alles gab es ja seit Jahren in Deutschland nicht mehr.

 

IV.

In den ersten Tagen des November kam der Befehl, nach vorn abzumarschieren.
Zu Mittag kamen wir gegen einen kleinen Ort mit Bäumen und niedrigen Häusern. Alle paar Minuten ging ein Schuss nach dem Straßenkreuz. Wir liefen, eine Gruppe nach der andern, über das Straßenkreuz weg nach einer Feldscheune, in der wir mehrere Stunden blieben.
Gegen fünf Uhr nachmittags trafen zwei schwere Maschinengewehre bei uns ein. Wir nahmen auch unsere leichten Maschinengewehre vom Wagen und rückten an einem Bahndamm entlang vor. Es begann dunkel zu werden.
Düstere Häuser unter hohen Bäumen. Vielleicht zweihundert Meter vor uns krachten Granaten. Rasseln von Wagen. Zwei Geschütze jagten nach hinten an uns vorbei.
„Was bedeutet denn das, Herr Leutnant?" fragte ich.
„In dieser Nacht wird die Stellung hier geräumt. Wahrscheinlich gehen die Batterien schon jetzt zurück."
Wir legten uns in einen ziemlich verfallenen Stall, in dem einige Rinder standen.
Nach zwei oder drei Stunden wurde der Rückmarsch befohlen. Es war stockdunkel.
Sehr müde kamen wir nach Mitternacht in ein Dorf und nächtigten in einer Kirche auf Stroh.
Am nächsten Morgen rief Schubring uns Zugführer zu sich.
„Die Verpflegungsnachfuhr soll durch Meuterer unterbunden sein. Wir müssen daher Vieh requirieren. Wer von Ihnen versteht etwas davon?"
„Ich bin Fleischer", sagte Unteroffizier Höhle. „Ich habe schon ein paar gute Ochsen hier gesehen."
Vor dem Altar hatten sich etwa zehn Mann zum Schinkenklopfen aufgestellt. Einer musste sich in die Hände eines andern bücken. Er bekam eins hinten drauf, dass es knallte, und erhob sich. „Du, Albin!" Er zeigte auf einen.
„Falsch! Noch mal!"
Das spielten sie mehrere Stunden mit viel Geschrei. Es waren meist ganz junge Kerle in der Kompanie. Der Leutnant Hanfstängel stand dabei und lachte. Er hätte wahrscheinlich gern mitgemacht.

 

V.

Zwei Tage später rückten wir wieder ein Stück vor. Wir waren Reserve. Vor uns hatte das erste Bataillon eine Stellung längs eines Kanals besetzt.
Bei Sonnenschein rückten wir über eine Höhe. Die deutschen Batterien bellten uns gellend in die Ohren. Ab und zu barsten französische Granaten.
In einem Ort sollten wir bleiben. Dort bekamen wir ein kleines, verlassenes Haus zugewiesen, in dem es nichts mehr gab als Wände und teilweise auch Fensterscheiben. Die Offiziere wohnten im nächsten Haus.
Die jungen Kerle begannen gleich wieder vorm Haus im Sonnenschein mit Schinkenklopfen. Unteroffizier Höhle schlachtete hinter dem Hause ein Schwein, damit es der Kompanieführer nicht merkte. Den Leutnant Hanfstängel wollten seine Leute nachher vom Kompanieführer weglocken und ihm auch Wellfleisch geben. Ihn hatten die Leute, glaube ich, weniger deshalb gern, weil er auch vergnügt blieb, wenn es schoss, als weil er so fein und jung war.
Zu Mittag kam die Feldküche mit Rindfleisch. Eine Stunde später gab es hinter dem Hause Höhles Schwein. Wir waren dann kurzatmig vom vielen Essen und legten uns aufs Stroh.
Gegen Abend rief uns der Leutnant Schubring.
„Meine Herren, ich vermisse die nötige Zucht in der Kompanie. Wir müssen exerzieren. Am Tage kommen zuviel Flieger her, daher müssen wir es in der Morgendämmerung machen. Sie müssen durchgreifen und den Leuten diese Zuchtlosigkeit austreiben. Vor allem grüßen sie schlecht. Bestellen Sie Ihre Züge für morgen früh um sieben. Danke!"
Er grüßte, wir traten weg.
Am nächsten Morgen weckte ich meine Leute. „Hinaustreten zum Exerzieren! Der Kaffee wird nachher ausgegeben."
„In welchem Anzug, Herr Feldwebel?" fragte Mehling.
„Patronentaschen, Gewehr, Mütze."
Kraff! Eine Granate vors Haus.
„Hunde, verdächtige!" schimpfte einer.
Ich trat vors Haus.
Kramm! in den nächsten Hof.
Hanfstängel kam. „Lassen Sie trotzdem exerzieren?" „Kommt der Kompanieführer denn nicht?" „Doch, der kommt. Aber wir können doch nicht antreten lassen. Ich denke, wir bleiben vorläufig, wo wir sind." Ramms! Fünfzig Schritt weiter auf die Straße.
Wir ließen die Züge im Hause und warteten vor der Tür.
Nach etwa zehn Minuten kam Schubring.
Hanfstängel meldete: „Wir haben die Kompanie nicht antreten lassen, wegen des Beschusses."
„Wegen drei Granaten? - Da können Sie doch nicht einfach das von mir befohlene Exerzieren absagen! - Lassen Sie heraustreten!"
Ja, wenn man gewusst hätte, dass es bei drei Granaten bliebe!
„Was sollen wir exerzieren?" fragte Hanfstängel. „Ehrenbezeigungen sind das im Augenblick Notwendigste."
Ich ließ den Zug vorm Hause antreten.
„Stillgestanden! - Richten Sie sich besser auf! - Wenn wir überhaupt exerzieren, muss es stramm gemacht werden! Jedem ordentlichen Menschen macht es Spaß, sich einmal zusammenzunehmen."
Ich rückte ein Stück die Straße entlang und überlegte immer, wie ich ihnen sagen sollte, dass wir Ehrenbezeigungen machen müssten, ohne dass es wie ein Hohn herauskäme.
Ich sagte ihnen gar nichts, sondern machte ihnen ein strammes Grüßen vor und ließ sie anfangen. Sie gaben sich Mühe. Ich hatte fast nichts auszusetzen, und wir waren in fünf Minuten fertig. Sollte ich es wiederholen lassen? Sie hatten es ja gut gemacht.
Ich ließ die Gewehre in die Hand nehmen. Das übte ich ein paar Mal. Dann konnte ich das Gewehr übernehmen lassen und das mehrmals tun.
Schubring kam. „Weshalb machen Sie Gewehrgriffe?"
„Ich wollte Ehrenbezeigungen mit Gewehr machen lassen, Herr Leutnant. Aber sie nahmen das Gewehr so schlecht über, dass ich glaubte, das erst einmal ordentlich machen lassen zu müssen."
„Das ist ganz richtig. Fahren Sie nur fort."
So brachte ich drei Viertelstunden herum. Dann wusste ich nichts mehr. Ich ging zu Schubring und fragte, was ich jetzt tun sollte.
„Machen Sie noch irgend etwas! In einer Viertelstunde rücken wir sowieso ein."
Später erfuhr ich, dass Hanfstängel und Höhle die ganze
Stunde durch nur hatten grüßen lassen. Die Leute schimpften, aber nicht auf ihre Zugführer, sondern auf den Kompanieführer, weil der bei Beschuss exerzieren ließe und weil sie ihn auch sonst nicht leiden konnten.
„Bei den andern Zügen", erzählte mir Mehling, „haben sie sich verschworen, den Kompanieführer erst recht schlecht zu grüßen." Er lachte.
Ich war unruhig und ging hinaus, ob ich nicht einen Fleck fände, wo ich etwas für mich lesen könnte.
Auf der Straße kam mir der Kompaniefeldwebel entgegen.
„Guten Morgen!" sagte ich. „Die Leute schreien nach ihrer Löhnung. Hier gibt's soviel zu kaufen, und sie haben kein Geld mehr."
„Wie soll ich denn das machen?" rief er erregt.
„Wieso? Sie kriegen doch das Geld vom Zahlmeister?"
„Nein, keinen Pfennig! In der Etappe ist ja der Teufel los. Wir Feldwebel haben vor drei Tagen einen Boten zum Zahlmeister hintergeschickt, er ist noch nicht wieder da. -Die Leute in der Etappe taugten ja schon immer nichts, aber jetzt sind's die reinsten Räuberbanden geworden! Besonders in Brüssel! Natürlich lauter Drückeberger!"

 

VI.

In der Nacht hatte eine Granate einen Mann und eine Frau des Dorfes erschlagen. Am Morgen rückten wir weiter vor.
Auf ein Straßenkreuz ging alle paar Minuten ein Schuss, aber so genau immer auf denselben Fleck, dass wir nur auf das Feld zu biegen brauchten und dann wieder auf die Straße.
Vorn war ununterbrochenes Rollen und hier und da Bersten. Mir war beklommen zumut. Ich hatte gedacht, wir würden nicht noch einmal ins Feuer kommen; der Waffenstillstand würde früher eintreten.
Wir sahen jetzt über eine flache Höhe die ganze Gegend vor uns. In der Ferne lag ein großes Dorf oder eine Stadt, mit einem kleinen dichten Wald rechts, aus dem große schwarze Granatwolken stiegen. Über dem Dorf lag eine Dunstwolke. Manchmal sah ich auch den Staub auffahren.
Halbwegs zu diesem Ort lag ein kleines Dorf, in das wir marschierten. Wir erhielten drei große Stuben in einem Haus zugewiesen. Die ganze Kompanie war nur fünfzig Mann stark. Die Feldküche fuhr auf den Hof und machte den Deckel auf, um das Mittagessen auszugeben.
Ramm! ramm! ramm! Wo die Schüsse saßen, war nicht zu sehen.
„Eine Granate ist ins Haus gegangen!" rief einer.
Die Feldküchenpferde bäumten sich - der Fahrer war hinten am Kessel beschäftigt - und rannten mit der Küche zum Hof hinaus, Köche und Fahrer schreiend hinterher.
Schwapp! ein Guss Essen auf die Straße.
Ramm! ramm!
„Mein Zug, Zeug in die Hand! Mir folgen!" befahl ich. Sie drängten mir nach hinaus. Nur ins Freie, wenn es schießt!
Ramm! ramm! ramm!
Ich bog scharf um das Haus. Auf dem Feld waren lauter neue Granattrichter dicht beisammen.
Ich ging etwa hundert Meter vom Hause fort und blieb stehen. Hier waren wir wahrscheinlich sicher. Meine Leute waren dicht hinter mir, Hanfstängel und Höhle mit ihren Leuten folgten.
„Verdammte Scheiße!" fluchte Höhle.
Das Feuer ließ nach einer halben Stunde überall nach. Nur in den Wald krachten noch boshaft die schweren Granaten, und links davon lag über dem Dorf die Dunstwolke.
Wir kehrten in unsern Hof zurück. Die Feldküche kam auch. Der Fahrer führte beide Pferde vorn am Maul und beruhigte sie. Sie wollten nicht gern wieder auf den Hof.
Gegen Abend kam ein Läufer. „Die Herren Zugführer möchten zu Herrn Leutnant kommen."
Er saß auf einem geflochtenen Stuhl und stand nicht auf, als wir uns meldeten.
„Die Franzosen haben vorn angegriffen. Sie scheinen einen Offizier und zwei Züge abgefangen zu haben, die vor einem Sumpf lagen. Genauere Nachrichten fehlen noch. Jedenfalls haben sie nur wenig Boden gewonnen. - Es ist möglich, dass wir heute Abend vorn ablösen müssen. Dann erwarte ich, dass der Geist der Unterordnung unter die
Fronterfahrung stärker sein wird als kleine Bedenken des Augenblicks!"
Er entließ uns durch Neigen des Kopfes. Wir gingen stumm hinaus. Schubring hatte also kein Vertrauen zu uns? Das brachte mich auf. Habe ich deshalb versucht, deine saudummen Befehle so gut wie nur irgend möglich auszuführen, dass du mich dann beschimpfst?

 

VII.

Am nächsten Tag rückten wir noch ein Stück vor. Die Franzosen sollten beim Regiment links von uns ziemlich weit vorgekommen sein. Deshalb legten wir uns nach schräg links in einem Felde bereit, um den Rücken unseres Regiments und die Artillerie dahinter zu sichern. Dort schanzten wir kleine Löcher. Ich setzte mich in einen Granattrichter. Die Sonne schien, aber es war immerhin November. Es wurde kühl, und ich bekam Hunger, hatte aber nichts mehr zu essen; denn die Feldküche hatte wegen der Unordnung in der Etappe heute kein Brot mitbringen können.
Da kamen zwei von meinen Leuten. „Herr Feldwebel, in dem verlassenen Haus dort gibt es Kartoffeln. Können wir dahin und für den Zug welche kochen?"
Der Kompanieführer war allein unterwegs, seine Läufer wussten nicht, wo. Ich besprach es mit Leutnant Hanfstängel und Unteroffizier Höhle, und wir beschlossen, gemeinsam Kartoffeln zu kochen.
„Sehen Sie mal dorthin!" sagte Hanfstängel. „Das sieht mir doch recht bedenklich aus."
„Ich beobachte auch schon seit einer Stunde, dass dort immer einzelne Leute zurückgehen."
„Ich werde mal hinübergehen, Herr Leutnant", sagte Höhle. „Ich habe ja der Bande dort drüben schon immer nicht getraut! Wie die Kerle nur so 'n Maschinengewehr tragen, da weiß man ja schon alles!"
Höhle kam zurück. „Die Leute sagen, morgen Mittag wäre Waffenstillstand, und heute um sechs würde die Stellung hier geräumt, da hätte's keinen Zweck, sich noch zum Krüppel schießen zu lassen! Ich hab die Bande gehörig angeniest.
Ich hab sie auch gefragt, ob sie nicht Offiziere hätten. Nee, sagten sie, der letzte wäre vorgestern Nacht in einem Haus erschlagen worden."
Ramm! fuhr es ein Stück vor uns in den Boden. Vorn schoss es wieder äußerst heftig.
„Was hat das nur für einen Sinn", sagte Hanfstängel, „jetzt noch so auf den Stellungen herumzutrommeln und gar noch anzugreifen? Macht es denn denen da drüben Spaß, nur ja noch einige totzumachen, solange es noch völkerrechtlich erlaubt ist?"
„Wahrscheinlich wollen sie ihre Munition verschießen", sagte Höhle.
„Es ist für mich kein Grund zum Schießen, wenn es mir Spaß macht", sagte Hanfstängel.
Die Leute hatten einen Berg Kartoffeln gekocht. Ein junger, ganz dünner Kerl holte sich seinen ganzen Stahlhelm voll. Ich blieb wie zufällig an seinem Loch stehen, um zu sehen, ob er den Haufen bewältigte und ob er sie mit der Schale äße. Er schälte sie, konnte sie aber doch nicht alle essen. Die vielen Kartoffeln machten uns - ich merkte es an mir selbst - zufrieden und träge. Wir saßen in unseren Löchern. Es schoss immerfort in unserer Nähe. Aber niemand störte das.
Es begann zu dämmern. Der Mond kam. Das Artilleriefeuer schwieg von deutscher Seite ganz. Wahrscheinlich waren unsere Batterien schon abgerückt, damit später die Straßen für die Infanterie frei wären. Die französische Artillerie schoss auch nicht mehr so heftig.
Um sechs Uhr rückten wir ab, ausgeschwärmt über das Feld. Freute ich mich? Ich fragte mich selbst danach. Ich fühlte mich befreit von der ständigen Furcht der letzten Jahre. Aber sonst? Ich wusste nicht, was der Waffenstillstand für Folgen haben würde, und war unruhig. Aber die Nacht war schön.

 

VIII.

Wir waren die ganze Nacht durch marschiert und kamen bei Morgengrauen in eine enggebaute, kleine Stadt mit düsteren Häusern. Mein Zug lag im Hintergarten einer
Villa, in dem nur noch einzelne Blumentöpfe mit spärlichen Gewächsen am Boden standen. Wir schliefen bis Mittag.
Am Nachmittag standen wir auf der Straße herum.
„Herr Feldwebel!" kam Mehling lachend. „Hier sind Strafgefangene gewesen, mehrere Kompanien. Die sind von ihren Bewachungsleuten freigelassen worden. Und die Strafgefangenen haben sich auf einen Verpflegungszug, der auf dem Bahnhof stand, gestürzt und haben die ganzen Vorräte an die Einwohner verkauft. Eine Kompanie unseres Regiments hat eingreifen müssen."
„Das ist gar nicht lächerlich!"
Ich fuhr herum. Es war der Kompaniefeldwebel, der Mehling mit wütenden Augen ansah.
„Die Verpflegungsvorräte, die sie verkauft haben, das waren nämlich unsere, von denen wir ein paar Wochen -oder wie lange - leben sollten!"
„Wie kommt es denn aber, dass der Zug noch hier steht, obwohl wir die letzten Truppen sind vor dem Feinde?" fragte ich.
„Die Meuterer haben unsere Feldbäckereikolonne aufgelöst und in die Heimat geschickt."
„Was? Woher kriegen wir denn da Brot?" fragte Höhle.
„Das müssen wir uns selbst backen. Und dazu hatte uns das Generalkommando den Zug mit Mehl und Zucker und anderen Vorräten hier stehen lassen."
„Wie sollen wir denn auf dem Marsch backen?"
„Da fragen Sie nur die Leute, die uns die Bäckereikolonne aufgelöst haben!" schimpfte der Feldwebel.
„Ich möchte ja so 'n Kerl da haben!" knurrte Höhle. „Früher haben sich die Etappenschweine hinten vollgefressen, und wir haben uns totschießen lassen, und jetzt fallen sie einem auch noch in den Rücken!"
Der Kompanieführer kam aus einem Haus. Wir standen stramm.
„Haben Sie Brot bekommen?" fragte er den Feldwebel. „Nein, Herr Leutnant. Wir müssen unterwegs backen." „Das geht doch gar nicht."
„Ich denke doch, es lässt sich machen, wenn mir Herr Leutnant alle Bäcker der Kompanie zur Verfügung stellen es sind fünf. Von denen müssen immer zwei die Nacht durch backen, und in der nächsten Nacht kommen die andern dran."
„Dass aber das Brot auch gut wird!" sagte Schubring und ging fort. Ich ärgerte mich. Konnte er nichts andres zu einem guten Vorschlag sagen?
„Woher haben Herr Feldwebel denn aber Mehl?" fragte Mehling.
„Ich habe mir rechtzeitig welches gesichert. - Nur mit dem Zucker wird es auch bei uns knapp."
Im Laufe des Nachmittags rückten alle übrigen Truppen aus der Stadt. Nur wir sollten als Nachhut bis zum Morgen dableiben.
Die Stimmung in der Kompanie wurde immer schärfer gegen die Banden hinter der Front, vor allem, als die Nachricht kam, dass in Brüssel die Drückeberger aus den Spelunken gekrochen wären, in denen sie sich bei den Einwohnern verborgen gehalten hätten. Und die hätten den Offizieren die Achselstücke von den Schultern gerissen. Der Anführer der Bande sollte ein jüdischer Arzt, Doktor Freund - oder so ähnlich -, sein. Darauf hätte sich die Bevölkerung von Brüssel erhoben. Die Truppenstäbe und die deutschen Behörden wären mit knapper Not entkommen.

 

IX.

Am folgenden Mittag marschierten wir als letzte Truppe aus der stillen Stadt ab und trafen nach etwa einer Stunde mit dem übrigen Regiment zusammen. Die fünfte Kompanie kam als neuer erster Zug unter Leutnant Ssymank zu unserer Kompanie. Die Züge Hanfstängel und Höhle wurden zu einem verschmolzen.
Die Offiziere hatten lange Besprechungen. Dann kam der Kompanieführer und rief die Kompanie um sich. „Ich habe Ihnen mitzuteilen, dass in Deutschland die Revolution ausgebrochen ist. Seine Majestät der Kaiser hat sich nach Holland begeben, ebenso der Kronprinz. - Die Division hat befohlen, dass in jeder Kompanie drei Vertrauensleute zu wählen sind. Die Züge teilen mir bis morgen je einen mit.
Ich bemerke noch, dass diese Vertrauensleute keine Soldatenräte sind wie in Russland, sondern dass sie lediglich das Vertrauen zwischen Offizier und Mann noch mehr festigen sollen."
Der Leutnant Ssymank stand vor seinem Zuge mit zusammengezogenen Brauen. Er hob seine Hand zum Stahlhelm, den er noch vom Marsch her aufhatte. „Wie meinen Sie, bitte: die Züge zeigen je einen Vertrauensmann an? Gilt meine Kompanie als drei Züge oder als ein Zug?"
„Wir können doch nicht für jedes kleine Privatinteresse einen Vertrauensmann wählen lassen!"
„Also einer", sagte Ssymank kalt und deutlich.
„Ich habe weiter nichts bekannt zu geben", sagte Schubring.
Wir traten weg.
Die Vertrauensleute wurden ohne jede Aufregung gewählt; bei mir Mehling, bei Hanfstängel Höhle und bei Ssymank der Gefreite Herrmann, ein etwa Vierzigjähriger mit einem mürrischen Gesicht.
„Das ist so 'n Organisierter!" sagte Höhle.

 

X.

Wir marschierten. Unsere Bäcker hatten in einer Nacht über die Hälfte des Mehlvorrats verbacken. Aber das Brot war so klitschig, dass man nur ganz wenig essen konnte. Schubring schimpfte auf die Bäcker und den Feldwebel.
„Herr Leutnant", sagte der Feldwebel, „das kann dem besten Bäcker passieren, wenn er in einem Ofen backen muss, den er nicht kennt."
„Aber nun haben wir kein Mehl mehr!"
„Ich werde sehen, dass ich neues bekomme, Herr Leutnant."
Am nächsten Tage erschien ein zweirädriger Ochsenkarren mit Mehlsäcken.
Schubring sah ihn sich an. „Ist das auch mit rechten Dingen beschafft?"
„Jawohl, Herr Leutnant. Der Verpflegungsoffizier hat einen Gutschein darüber ausgestellt"
Nach langem Marsch hatte ich in der Nacht an einer Kanalbrücke einen Doppelposten aufzustellen. Ich selbst lag mit meinem Zuge in einem Häuschen dicht am Kanal als Feldwache. Der Mond schien. Ich ging auf dem Damm nach links und fand in einiger Entfernung den nächsten Posten. Nach rechts hatte ich eine Patrouille geschickt. Die kam erst nach geraumer Zeit zurück. „Herr Feldwebel! Wir sind an der nächsten Brücke gewesen. Da war aber niemand. Deshalb sind wir noch zur übernächsten gegangen. Dort führt eine große Straße über den Kanal. Und dort war auch niemand."
Am Morgen schickte ich noch einmal eine Patrouille dorthin. Die kam schon nach zwanzig Minuten wieder. „Herr Feldwebel, jetzt stehen belgische Posten an der Brücke!"
Ich schrieb darüber sofort eine Meldung an den Kompanieführer, schickte sie ab und saß in Ungewissheit da. Aber ich erhielt keine Antwort.

 

XI.

Am nächsten Morgen marschierten wir ab. Es war kalt geworden. Aber die Sonne schien. Die breite Straße lief gerade durch eine flache Landschaft, die munter aussah. Am Nachmittag wurde sie unfreundlich. Die Bäume erschienen mir grau, und der Ort, in den wir marschierten, sah ungastlich aus. An der düstern Kirche lehnten Maschinengewehre. Geschütze aller Art standen auf dem Friedhof.
Eine unserer Maschinengewehrkompanien hielt davor und schaffte ihre Maschinengewehre hinein. Das waren Waffen, die nach dem Waffenstillstandsvertrag den Feinden auszuliefern waren. Die würden sie im Regen stehen lassen, und bald wäre alles altes Eisen.
Wir marschierten wohl zwei Wochen lang durch das flandrische Belgien und kamen dann in den französisch sprechenden Teil. Wir marschierten immer als ständige Nachhut einen Tagesmarsch vor den uns folgenden Feinden. Vor den Häusern standen Zivilisten, sahen voll Hass nach uns und schimpften.
Wieder sollten wir Mehl und Zucker empfangen, und wieder hatten die Truppen vor uns alles zu Spottpreisen an die Bevölkerung verkauft. Die Stimmung gegen die Revolutionäre wurde noch schärfer, vor allem durch Höhle und den Gefreiten Mann geschürt, während Herrmann, der Sozialdemokrat, versuchte, die Stimmung lau zu erhalten. Dieser Herrmann mit seinem immer mürrischen Gesicht war wie ein kleiner Beamter und gegen jede entschiedene Tat.

 

XII.

In der Nähe von Lüttich hatten wir einen Rasttag. Mehling ging mit mehreren nach Lüttich hinein. Ich ging nach einem nahen Fort und sah mir die tiefen Gräben und gesprengten Betonbauten an. Vor einem großen Gutshof stritten sich Leute unseres Regiments mit einem Belgier.
„Herr Feldwebel!" wendete sich einer an mich. „Wir haben einen Gutschein über Stroh vom Verpflegungsoffizier bekommen, aber der Mann hier will keins herausrücken."
„Weshalb denn nicht?"
„Er sagt, dann behielte er nicht genug. Aber er hat die ganze Scheune voll."
„Da müsst ihr euch an einen Offizier wenden. Wenn ich dem Gutsbesitzer was sage, das macht ihm doch keinen Eindruck."
Erst spät kam Mehling aus Lüttich zurück und erzählte, dass die ganze Stadt beflaggt wäre. Franzosen, Engländer und Belgier waren schon dort. In den Cafes saßen sie. Die Marseillaise wurde gespielt und hurra geschrieen. Mehling war noch voll Freude und Glanz davon. Aber ich war traurig. Das verfluchte Vaterland stand mir doch nah!

 

XIII.

Am nächsten Morgen ging es auf einer langen Brücke über die Maas, die hier ein recht stattlicher Fluss ist. Dann schlängelten wir uns am andern Ufer Stunde über Stunde die Höhen hinauf. Bei Dunkelwerden marschierten wir in ein Tal mit einem Kirchdorf drin. Es war kalt. An einer Brücke, unter der ein Bach brauste, hielten wir. Die Quartiermacher kamen.
„Wie ist's hier?"
„Gute Quartiere!" riefen sie.
Wir rückten auseinander. Ich merkte auf einmal einen Schmerz am rechten Fuß, wo meine Wunde gewesen war. Es war nicht der Schmerz wie von einer Blase, sondern ein dumpfer innerer Schmerz.
Wir gingen an einem steilen Grashang mit Obstbäumen entlang und kamen zu einem einzeln stehenden Fachwerkhaus. Die Holztreppe darin war wie poliert und der Flur im ersten Stock rings mit dunklem Holz ohne Verzierung verschalt. Ein paar Truhen, Brettstühle und eine hohe Uhr standen an den Wänden.
Aus einem Zimmer kam ein junger Mann mit seiner Frau und lud uns freundlich in eine große Stube, in der Matratzen und Decken am Boden lagen.
Ich zog mir sofort die Stiefel aus und betastete den Fuß. Die Narbe am Fußballen war empfindlich. Wir marschierten ja aber schon drei Wochen. Ich ging in die Küche und fragte nach warmem Wasser.
„Blessé?" fragte der Mann und deutete auf meinen Fuß.
„Oui, monsieur."
Er stand sofort auf. Seine Frau brachte einen Kübel und einen Stuhl, dass ich gleich bei ihnen den Fuß ins Wasser hängen könnte. Dann saß ich auf meinem Stuhl und sie am Herd. Draußen schien der Mond kalt auf den Wiesenhang. Es mochte schon wieder gefroren haben. Die beiden Leute sahen gesund aus. Sie waren schweigsam und zufrieden. Wozu soll man auch herausschwatzen, was der andere weiß?
Ich war glücklich in dem Haus.

 

XIV.

Beim Antreten am nächsten Morgen schimpften Ssymank und Hanfstängel auf die widerlichen Einwohner des Dorfes. Sie hatten beim Pfarrer gelegen, und der hatte ihnen Wasser zum Waschen, und was er nur konnte, verweigert. Als sie
ihn darüber zur Rede stellten, hatte er von Barbaren und Boches gesprochen, die man totschlagen müsste. Ssymank war so wütend geworden, dass er auf den Pfarrer losgehen wollte. Aber Hanfstängel hatte ihn zurückgehalten.
Darauf hatte sich Ssymank in seiner Wut an den Pfarrer gewendet: „Sie sind ein Schwein!" und war hinausmarschiert.
Wir marschierten flott in den trüben Tag hinein. Mein Fuß hatte sich gut erholt. Heute sollte es über die deutsche Grenze gehen.
Am frühen Nachmittag trat eine Marschstockung ein. Wir schoben uns aus einem Grunde immer ein paar Schritte gegen ein Dorf vor.
In der Kompanie waren sie guter Laune. „Noch einmal eine Wagenlänge, einen - Jupp!" riefen sie im Chor. Dann fingen welche an zu singen:
„Denn dieser Feldzug Ist ja kein Schnellzug. Wisch deine Tränen ab Mit Sandpapier."
Nach zwei bis drei Stunden erreichten wir das Dorf und eine Wegegabel. Dort kam von links die Marschkolonne einer fremden Division und aus dem Grunde unsere Kolonne auf dieselbe Straße. Unser Regimentskommandeur hielt da zu Pferde und versuchte sein Regiment vorwärts zu bringen. Von der fremden Division war ein General da. Er stand neben seinem Auto, das auf dem Platz vor einem Cafe hielt. Leute aller Truppengattungen standen dort, saßen auf Prellsteinen und Stühlen und bliesen über Kaffee, der in dem Metallbecher erst abkühlen musste, bis man die Lippen daranbringen konnte. Andere kippten einen Schnaps hinter. Mehling hatte sich schon durch die Menschen ins Cafe gedrängt. Ich wusste, wir hatten noch über zehn Kilometer bis zur Grenze und mussten auch dann noch sicher eine Strecke weit marschieren. Ich setzte mich an den Straßenrand, um meinen Fuß zu schonen.
Erst in der Abenddämmerung kam unsere Kolonne wieder in Gang. Wir waren müde vom vielen Warten. Als es nach anderthalb Stunden wieder zu stocken begann, schrieen sie wieder: „Noch einmal eine Wagenlänge, einen - Jupp!" Dann sangen sie:
„In Hamburg, da bin ich gewesen, In Samt und Seide gehüllt. Meinen Namen, den darf ich nicht nennen; Denn ich bin ja ein Mädchen für Geld."
Sie sangen es gedehnt und schwermütig in die Nacht. Einige hatten sich gesetzt. Ein Artillerieunteroffizier kam entlanggeritten. „Straße frei!"
Sie standen fluchend auf.
Ein Auto kam mit einem General.
„Der kann ooch loofen wie wir!"
Der Marsch kam wieder in Fluss.
Wieder überholte uns ein Auto. „Straße frei!" Darin lagen vier Fliegermannschaften mit schiefgesetzten Mützen.
„Was haben die zu fahren!"
„Fußlatscher!" rief einer höhnisch aus dem Auto.
„Reißt sie heraus, das sind Etappenschweine!"
Einige drangen nach dem Auto. Aber das sauste rücksichtslos in die Leute vor uns. Die sprangen beiseite. „Licht aus!" schrie einer, aber nicht mehr harmlos. Das Auto entschwand.
Stockend ging es weiter. Der Ruf: Licht aus! wurde immer häufiger.
Wir näherten uns einem Gedröhn fahrender Wagen. „Wir kommen an die Grenzstraße", sagte Hanfstängel. „Wie weit ist es noch, Herr Leutnant?" „Ich schätze: noch anderthalb Stunden, wenn wir frei marschieren."
„Da mach ich nicht mehr mit, Herr Leutnant", schimpfte ein Unteroffizier.
„Wir brauchen dich auch nicht", lachte Mehling. „Leg dich nur in den Straßengraben. Wir suchen uns unterdessen ein besseres Quartier."
Einer lachte. Der Unteroffizier murmelte etwas vor sich hin.
Das Dröhnen war schon nah. Jetzt erkannte ich die Straße, die quer zu uns verlief. Von rechts kamen in zwei Reihen nebeneinander schwere Geschütze.
Wir kamen ganz langsam an die Straße heran.
„Herr Leutnant!" rief jemand, der bei der Dunkelheit und dem Gewirr von Menschen, Pferden und Wagen nicht zu erkennen war. „Herr Major lässt sagen, die Kompanien sollen sich hier im Straßengraben vorschnüren."
Nun ging es, bald langsam, bald halb rennend, einer hinter dem andern auf dem unebenen Grund des Straßengrabens. Mein Fuß begann zu schmerzen. Ich versuchte ihn gleichmäßig und sicher aufzusetzen, aber das machte nur mein Fußgelenk müde.
Gegen elf Uhr, während rechts immer noch die Wagen und Geschütze auf der Straße dröhnten, stiegen links von der Straße düstere Fabriken auf. Wir hielten.
„Warum geht's nicht weiter? Wir wollen ins Quartier!"
Der Leutnant Schubring stand stocksteif da und sah auf die vorbeiratternden Wagen.
„Wir können auch ohne Führer auskommen!"
„Haltet doch euer Maul!" rief Höhle. „Herr Leutnant kann doch die Quartiermacher nicht herzaubern. Wisst ihr etwa, wohin wir müssen?"
Wir warteten. Sogar der beliebte Hanfstängel wurde von seinen Leuten angepöbelt.
Mehling sagte mir heimlich: „Wenn Herr Feldwebel mal mein Gewehr nehmen, geh ich nach den Quartiermachern suchen. Die stehen sicher hier wo an der Straße, und man braucht nur alle zwanzig Schritt zu brüllen."
Ich trat zu meinem Zug und sagte ihnen, dass Mehling suchte.
„So ein Kotz!"
„Das könntet ihr aber im Krieg gelernt haben, wo man Quartiermacher hinstellt!"
„Wann werden wir denn entlassen, Herr Feldwebel?" fragte eine dünne Stimme.
„Das weiß ich nicht", sagte ich.
„Du wirst überhaupt nicht entlassen! Der Kotz geht so weiter. Wir müssen eben selbst fortlaufen!" Es wurde recht kalt.
Endlich nach anderthalb Stunden hatte Schubring die Quartiermacher gefunden. Er war ihnen grob geworden, und sie hatten ihn angebrüllt: „Wenn Sie nur Ihren Dreck ordentlich machten!"
Mehling fehlte.
Wir marschierten bei Mondschein eine Straße seitlich ab, auf der wir allein waren. Die Felder rechts und links sahen schwarz aus. Wieder auf festem Straßengrund zu marschieren, tat wohl. Aber mein Fuß tat sehr weh.
Nach Mitternacht kamen wir in ein kleines Dorf. Da ragte ein mächtiges Gebäude. Die Tür öffnete sich. Ein rötliches Licht drang heraus. Ein Mann stand in der Tür.
„Wo kommen wir hin?" fragte einer grob.
Auf einmal erschien Mehling. „Benehmt euch mal! Der Herr Mühlenbesitzer hier hat Kaffee machen lassen, und wir haben einen geheizten Saal."
„Kommen Sie nur herein", sagte der Mann freundlich. „Da die Treppe hinauf! Ich kann nicht so schnell wie ihr."
Oben in dem Saal lagen Strohsäcke. Der Mühlenbesitzer ging unter uns umher und fragte, ob wir genug Wasser hätten, und: „Dort ist der Abort, gleich draußen rechts."
„Machen wir Schinkenklopfen?" fragte ein junger Kerl.
„Du bist wohl verrückt! Ich habe ganz genug von dem Marsch."

 

XV.

Unsere Feldküche und die andern Wagen trafen erst gegen Mittag ein. Sie machten gleich den Küchendeckel auf und gaben Kaffee aus.
„Immer auf dem Damm?" fragte Höhle.
„Wir gehören doch nicht zu dem Gesindel wie bei den andern Wagen, das nie an der Front war und nun sein Maul aufreißt!"
„Machen die sich mausig?"
„Aber lausig!" sagte der andere Koch. „Und dabei haben sie gar nicht mitzusprechen, lauter halbe Leute, halb blind oder halb taub oder mit Herzfehler! Und ich glaube nicht mal an die Fehler! Die haben nur nicht vorgewollt!"
„Das sind alles Scheißer!" sagte der Küchenfahrer und führte seine schweren Pferde in den Stall.
„Wenn die zu frech werden", sagte Höhle, „dann sagt's nur. Denen wollen wir schon was vorgeigen!"
„Das brauchst du nicht", lachte der schwächere von den
beiden Köchen. „Die Bande nehm ich schon allein auf. Und der Max, der ist doch im Athletenklub in Dessau gewesen, und die haben gestaunt!"
Am Nachmittag marschierten wir ab und kamen bei Anbruch der Dunkelheit nach Aachen. Alle Häuser waren beflaggt. Unsere Musik spielte ein Stück vor uns, und die Trommel schlug sich an den Häusern, aus denen Menschen sahen. Menschen begleiteten unseren Marsch.
Wir waren die letzten deutschen Truppen vor den einrückenden Belgiern und Franzosen.
Am Tage darauf rückten wir auf den Bahnhof und warteten da bei strömendem Regen auf den Zug. Es war längst Nacht geworden, als er eintraf. Es waren alles Viehwagen mit Schiebetüren. Wohin wir fuhren, wussten wir nicht, nur, dass es noch nicht gleich nach Hause ging.

 



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