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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Die Aisne-Champagne-Schlacht 1917

I.

Wir fuhren mit einem großen Genesenentransport ins Feld. Wo kamen wir hin? Die Fahrt ging über Metz. Das Regiment musste also wieder am südlichen Teil der Front liegen. Wir stiegen aus, erstaunlich kurz hinter Metz, und marschierten in ein Waldtal ab. Der Tag war trüb und windig. Der Wald sah unwirtlich aus.
Nach etwa zwei Stunden Marsch lag vor uns ein runder Berg mit einem kleinen Waldschopf darauf. Wir bogen links ab. Da lag den Berghang hinauf ein Dorf.
Wir hielten vor einer Villa mit Garten. Einige Leute unseres Regiments kamen herbei und betrachteten uns von ferne.
Ich wurde mit Hänsel und einigen wieder zur dritten Kompanie bestimmt.
Um zu melden, ging ich ins Kompaniegeschäftszimmer. An einem kleinen Tisch, den Rücken zu mir, saß ein Leutnant.
„Unteroffizier Renn mit vierzehn Genesenen zur Stelle!"
Der Leutnant drehte sich um.
„Guten Tag!" Er gab mir die Hand. Ich ergriff sie zaghaft und sah ihn erstaunt an. War das wirklich der frühere Einjährige Lamm?
„Habe ich mich denn so verändert, dass du mich nicht wieder erkennst?"
„Doch, Herr Leutnant."
„Sind wir im Dienst, dass du mich Herr Leutnant nennst?" lachte er.
Ich war noch ganz verblüfft: was der Lamm jetzt für eine kräftige Sprache hatte! Und er war breit geworden und sah überhaupt ganz anders aus, so ruhig und sicher.
Wir gingen nach unserem Quartier den Berg hinauf.
Wir lagen weit hinter der Front in den Ardennen zum Exerzieren und zur Vorbereitung für die zu erwartende Frühjahrsoffensive der Franzosen.
Diesmal hatte die Heeresleitung eine ganze Armee zum Gegenstoß bereit, und dazu gehörten wir.
Die Kompanie hatte sich völlig verändert. Ich kannte nur zwei, drei, und auch unter denen keinen genauer. In meiner Gruppe waren einige blasse, dünne Jungen, die beim Exerzieren sehr ungeschickt waren, vor allem Brand, der einen immer hilflos ansah. Hänsel war der Kräftigste von allen. Er machte alles mit großer Ruhe und Sicherheit, aber auch nicht mehr, als verlangt wurde. Es schien ihm geradezu Freude zu machen, ja nichts weiter zu tun. Sonst war noch der Gefreite Hartenstein da, ein zäher, langer Mensch mit dunklem Gesicht, einsilbig und grob, aber tüchtig, und dann Weickert, der beste Schütze in der Kompanie, lebhaft und etwas geschwätzig.

 

II.

Es war schon April und noch recht kalt, als der Abmarschbefehl für uns kam. Die französische Offensive sollte begonnen haben.
Wir marschierten mehrere Tage durch waldiges Bergland. Dann kamen wir in eine kahle Ebene und zu Mittag in eine Stadt, so klein, wie bei uns selten ein Dorf ist. Unser Zug kam in das letzte Haus rechts am andern Ausgang. Die Sonne schien warm wie im Sommer. Unsere Gruppe lag oben in einer Kammer, die ein Fenster hatte mit so niedriger Bank wie ein Fußschemel. Dahin setzte ich mich mit Hänsel. Draußen dehnte sich eine Ebene mit einer krummen, sandigen Straße mit vorn drei gebückten, noch kahlen Obstbäumen. Weiterhin verlor sich die Straße in der Steppe ohne Baum und Strauch und Hügel.
Unser Zugführer sah über uns weg hinaus. „Hier müsste ein Dichter wohnen."
Ich sah ihn erstaunt an. Er war ein großer, starker Mensch, noch jung. Er sah heute fleckig rot und angestrengt aus und blickte sehnsüchtig in die Ferne. Die Luft zitterte über der Steppe.
„Mir ist gar nicht wohl!" sagte er.
„Was ist denn Herrn Feldwebel?"
„Ich vertrage das Marschieren nicht."
Er legte sich auf den Boden und sah gequält aus. Ich wunderte mich, dass er das Marschieren nicht vertrüge; denn er war ein guter Turner und Läufer und hatte große Kräfte.
Hänsel fasste mich am Ärmel und zog mich hinaus. Wir gingen ein Stück in die Ebene und setzten uns in die Sonne auf einen kleinen Wall.
„Wo steckt ihr denn?" rief Weickert und kam angelaufen. „Wir sind alarmiert worden. Eben sind welche von vorn gekommen und haben gesagt, dort stünde es schlecht. Die Franzosen wären tief in unsere Stellungen eingebrochen."

 

III.

Wir marschierten über die Ebene in ein dürres Waldgelände. Vor uns rollte ununterbrochen der Kanonendonner. Am Himmel jagten graue Wolken. Windstöße durchkälteten uns. Wir bogen von der Straße ab in dünnen Fichtenwald. Dort schlugen wir für die Nacht Zelte auf und legten uns hinein. Der Wind war noch heftiger geworden. Neben mir war eine Ritze, wo zwei Zeltbahnen zusammengeknöpft waren. Da durch pfiff der Wind und spritzte ab und zu Regentropfen herein, mit Schneeflocken gemischt. Wir hatten uns dicht zusammengelegt und froren doch noch. - Werden wir morgen vorn eingesetzt?
Am Morgen krochen wir verfroren aus den Zelten. Unsere Feldküche stand da und dampfte aus dem Kessel in den treibenden Nebel. Unsere Pferde waren an den Fichten angebunden und bewegten sich unlustig.
Der Kaffee machte uns nur mäßig wärmer. Vorn donnerten die Kanonen. Wir waren seltsam vergnügt und legten uns wieder ins Zelt, schwatzten, aber nicht lange. Dann wurden wir zu faul zum Mundaufmachen und schliefen.
„Zelte abbauen! Fertigmachen zum Abmarsch!"
Wir rissen die Zelte ein und schnallten die nassen Zeltbahnen auf die Tornister. Man stand herum, die Hände in den Hosentaschen und die Schultern hochgezogen. Es schneite mit dicken Flocken.
„Du, Albin, jetzt geht's los!" sagte einer.
Aber keiner lachte.
„Dir bläst's schon noch rechtzeitig durch ein Schussloch, wie durch 'ne Esse!"
Drei ließen sich mit den Rücken gegeneinander nieder und standen wieder so auf.
„Wie wär's mit 'm Spielchen, Max? 's schneit so schön."
Sie setzten sich auf einen Baumstamm und spielten mit zerlumpten Karten. Schneeflocken fielen ihnen darauf.
Drüben zündeten welche ein Reisigfeuer an. Der dichte weiße Qualm mischte sich mit dem Schneetreiben. Vor uns rollte und stampfte ununterbrochen der Kanonendonner. An einem der Feuer sangen sie.
Stunden vergingen. Es hörte auf zu schneien.
Gegen Abend marschierten wir ab. Wozu sie uns sechs Stunden vorher schon die Zelte hatten abbrechen lassen, verstand niemand.
Wir marschierten in ein Waldtal und an einem Bach hinunter. Das Tal wurde weit. Der Wald wich zurück. Rechts lag ein großes Dorf. Auf einer langen Holzbrücke gingen wir über den versumpften Bach.
S-ch! kam es gesaust und fuhr wack! neben der Brücke in den Sumpf.
Wahrscheinlich sollten wir diese Nacht vorn ablösen.
Vor uns lagen dichtbewaldete Berge. Wir hörten es schießen, sahen aber nichts. Wir kamen in einen hohen Eichenwald.
„Zelte aufschlagen!"
Es dämmerte schon. Wir scharrten mit den Füßen den matschigen Schnee von den gelben Blättern am Boden.
Meine Gruppe baute mit der zweiten Gruppe zusammen ein breites, flaches Zelt, um noch Zeltbahnen übrigzubehalten, uns daraufzulegen. Dann krochen wir hinein. Die Bäume bewegten sich ein wenig. Auf dem Zelt raschelten ganz leise die fallenden Schneeflocken. Wassertropfen fielen hier und dort von den Bäumen ins Laub. In der Ferne waren noch andere Geräusche: fahrende Wagen auf einer Straße und Granateinschläge, bald näher, bald ferner.
Ramm! krachte es ganz nah. Ramm! weiter rechts. Die Splitter zirpten draußen umher.
„Misthunde! Ich habe eins in den Rücken!" fluchte Weickert.
„Hat nicht einer 'n Hindenburgbrenner?"
Der dünne Brand hatte einen in der Tasche und zündete den Docht an. Weickert hatte einen Preller im Rücken, der kaum geblutet hatte und nicht einmal verbunden zu werden brauchte.
„Da ist's nichts mit dem Heimatschuss", sagte er. „Aber 'n Loch habe ich dafür im Rock." Er zog sich den Rock wieder an und legte sich schlafen. Wir löschten das Licht aus.
Ramm! Das musste vor uns gewesen sein.
Nach einer Zeit: Ramm! etwas seitwärts.
Meine Gedanken wanderten fort Ich hörte es noch ein paar Mal einschlagen.
Wramm! Bewegung im Zelt.
„Was ist denn?"
„Macht mal Licht!"
„Scheiße!" schimpfte einer und stöhnte.
Ein Streichholz flammte auf. Alle sahen ins Licht.
„Was ist denn mit dir. Albin?"
„Ich habe eins in den Fuß. Schneid mir doch den Stiefel auf!"
Einer lag und kümmerte sich nicht darum und zuckte nur mit dem rechten Bein. Er hatte einen Kopfschuss und wusste nichts mehr. Hänsel lief zu den Sanitätern.
Am Morgen blieben wir in den Zelten; denn draußen war es eisig kalt, und die Feldküche war nicht da. Das Artilleriefeuer rollte ununterbrochen. Heute geht's aber wirklich vor, dachte ich. Mir war bange.
Gegen Abend wurden einige vom vierten Zug verwundet. Als sie der Sanitätsunteroffizier verband, bekam er einen Splitter ins Bein. Er kam zu Lamm gehumpelt, der mit gekreuzten Armen ruhig dastand, und sagte, mit seinen gutmütigen Augen lächelnd: „Jetzt hab ich selbst eins ins Bein, Herr Leutnant!"
Unwillkürlich lächelte ich mit.
Gegen sechs Uhr abends kam unsere Feldküche mit vier Pferden ohne Vorderwagen mühsam die morastige Wiese herauf. Der Deckel wurde aufgemacht.
„Essen empfangen!"
In langer Reihe traten wir an.
Ich hatte schon Essen empfangen, da kam ein Läufer. „Befehl vom Bataillon: Die Kompanien marschieren sofort ab, in dieser Richtung!"
„Deckel zu!" befahl Lamm.
„Aber das Essen hält sich nicht bis morgen, Herr Leutnant!" sagte der eine Koch. „Wir müssen's wegschütten!"
„Schütten Sie's weg!" sagte Lamm kalt.
Ich versuchte einen Löffel aus meinem Kochgeschirr zu essen. Aber es war zu heiß. Da schüttete ich das Kochgeschirr auf die Wiese aus. In Eile packten wir unser Zeug zusammen und traten an.
„Hier durch das Erlengebüsch!" befahl Lamm ungeduldig. Wir drängten uns durch die dichten Äste. Drüben war ein faltiger Wiesenhang mit Wald rechts oben. Zwei Kompanien unseres Bataillons zogen sich schon wie Raupen vor uns über die Wiesenfalten. Weiter links fuhr eine Batterie im Galopp vor. Die berittenen Fahrer schlugen mit Knuten auf die Pferde.
Auf einer Höhe stand ein General mit ein paar Offizieren und sah durchs Fernglas nach vorn.
„Das ist doch mal was!" sagte ich zu unserm Zugführer, der neben mir ging. „Hier sind doch Truppen da zum Gegenstoß!"
Der Zugführer sah mich mit leeren Augen an.
„Werden wir zurückkommen?"
„Ja", sagte ich und sah nach vorn. Aber ich merkte, wie er an meinem Gesicht hing. Die Furcht muss jeder mit sich selber abmachen, dachte ich; ich kann dir nicht helfen. Ich kann mich doch nicht von dir zurückzerren lassen.
Wir kamen in eine Kiesgrube. Lamm rief die Zugführer zusammen. „Wir stürmen morgen früh in der Dämmerung. Dazu gehen wir bei Anbruch der Dunkelheit in eine Bereitschaftsstellung weiter vorn."
Die Zugführer gingen stumm auseinander.
Wir warteten, dass es dunkel würde. Hänsel lag neben mir am Rande der Kiesgrube auf dem Rücken. Die Sonne schien noch, aber wärmte nicht. Zwei deutsche Flugzeuge kamen hintereinander in mäßiger Höhe über uns weg. Man konnte deutlich die schwarzen Kreuze unter den gelben Flügeln sehen.
Schließlich verschwand die Sonne hinter den Kiefern, und es begann sehr langsam dunkel zu werden.
„Züge fertigmachen! Der erste Zug folgt mir!" sagte Lamm und ging langsam voraus. Gleich hinter der Kiesgrube wurde der Wald lichter. Da begann ein tiefer, breiter Graben. Wir stiegen hinein und schoben uns langsam vorwärts. Vor uns war die vierte Kompanie, und die schien durch irgendein Hindernis aufgehalten zu werden. An verschiedenen Stellen schoss es.
„Ich bin verwundet, Herr Leutnant!" sagte plötzlich unser Zugführer. Ich hatte es nicht hier schießen hören.
„Wo denn?" fragte Lamm.
„Am Bein." Er lehnte an der Grabenwand.
„Gute Besserung! Unteroffizier Sander übernimmt den ersten Zug!"
Auf einmal kam die Kompanie vor uns in Gang. Rasch ging es um eine Ecke. Der Graben führte steil abwärts in einen Grund. Unten schlug ein Schuss ein, und wieder einer, immer in regelmäßigen Zeitabständen. Plötzlich war der Graben mit zerschossenem Holz und Erde gesperrt. Lamm stieg nach rechts hinaus. Vielleicht dreihundert Meter vor uns brannte etwas mit roter Glut. Dorthin gingen die regelmäßigen Schüsse.
Wir liefen hinter dem Hindernis wieder in den Graben. Das Ende der vierten Kompanie war rennend vor uns verschwunden. Die Brandstelle war nur noch hundert Schritt entfernt. Lamm fing an zu rennen.
Die nächste Granate!
„Platz da!" schrie es. Eine Kette Leute kam auf uns zugerannt, vielleicht Essenholer, und drückte Lamm gegen die Wand. Ich bekam von einem Vorbeilaufenden in der Eile einen Schlag an die Brust. Es waren etwa zehn Mann. Wir rannten weiter.
Bramm! dicht vor uns.
Der Graben war hier flach. Die Glut machte die Umgebung schwarz. Ich trat unsicher. Es war ein Wagen, der brannte.
Daran vorbei!
Ein Schuss hinter uns!
Den anderen Hang hinauf!
„Hierher!" sagte die Stimme unseres Bataillonskommandeurs von außerhalb des Grabens. Wir kletterten hinaus.
„Richten Sie sich hier für die Nacht ein, so gut es geht!"
Es waren zwei Erdgruben da, nur knietief, aber breit genug, um je zwei Züge aufzunehmen.
„Hier hinein der erste und zweite Zug! Lassen Sie Platz für mich und meine Läufer und das Sanitätspersonal!" sagte Lamm.
Sander kam.
„Du führst den Zug", sagte ich.
„Wird gleich angegriffen?" fragte er erschreckt.
„Nein, erst morgen früh. Du musst jetzt hier die Plätze für die Gruppen bestimmen." Er sah mich hilflos an. Ich merkte, er konnte gar nicht mehr nachdenken vor Angst.
„Soll ich's mal machen?"
Er sah mich verständnislos an.
„Ich werde die Plätze verteilen", sagte ich.
Nach etwa einer halben Stunde lagen wir dicht gedrängt in Zeltbahnen, Mänteln und Decken in der offenen Grube. Der Himmel war schwarz. Ab und zu kam ein Stern hervor und verschwand wieder.
Die Luft war feucht und wie leer vor Kälte. Hänsel lag neben mir und atmete. Er schlief wohl noch nicht. Hatte er denn gar keine Angst? Er war ja ganz anders als ich und alle, die ich kannte. Und auch Lamm schien gar keine Angst zu haben! Sind das nur ganz andere Menschen, die das nicht kennen?
Ramm! schlug eine Granate in der Nähe ein.
Weiter den Hang hinauf noch eine!
Unter meinem Rücken lag ein Stein und drückte mich. Ich fror und war unruhig. Vielleicht, wenn man erst richtig durchgefroren ist, kommt die Ruhe, bei der man gleichgültig wird. Morgen früh - wenn man nur wüsste, wie die Gegend aussieht, in der wir stürmen sollen!
Bramm!

 

IV.

„Die Kompanien sollen sich fertigmachen, Herr Leutnant!"
Es war stockdunkel. Alle standen auf, ohne dass sie geweckt zu werden brauchten. Stumm schnallten wir die Zeltbahnen, Decken und Mäntel auf.
„Zweiter Zug fertig!" „Du musst melden!" sagte ich zu Sander. Wir standen. Der Bataillonskommandeur kam. „Ist die dritte Kompanie fertig?" „Jawohl, Herr Major!"
„Das zweite Bataillon greift an. Wir liegen dahinter bereit. - Es kann ein ziemlich peinlicher Tag werden."
Wir zogen ein Stück nach rechts an einen dunklen Steilhang.
„Hier einrichten! Wir müssen mit Artilleriefeuer rechnen."
Wir verteilten uns am Hang. Dort waren schon Löcher geschanzt, etwa dreißig Zentimeter tief.
„Du, Hansel, wir richten hier das Loch für uns zwei ein!"
Wir schnallten die Spaten ab und erweiterten das Loch. Vor dem Steilhang ging es eine Wiesenhöhe mit jungen Fichten hinauf. Hinter uns war es straßenbreit eben. Da wurden Maschinengewehre nach rechts getragen. Jenseits des ebenen Streifens schien es jäh nach dem Grunde abzufallen. Weiter war bei dem Dämmerlicht nichts zu sehen.
Rechts ein paar Infanterieschüsse! Ich sah durch die Bäume Leuchtkugeln wie Trauben niederfallen.
Maschinengewehre ratterten!
Prasselndes Gewehrfeuer!
Ramm! ramm! ramm! ramm! hinter uns in den Grund.
Bramm! rapp! rapp! bramms! kräck! ramm! Funkensprühen am Boden.
Ich ließ den Spaten fallen und sprang in das Loch. Hansel krümmte sich schon links zusammen. Es war eng für unsere Beine.
Drüben schrie einer.
Einer lief draußen vorbei.
Die Granaten entfernten sich die Höhe hinauf. Ich hob den Kopf.
Hinter den Bäumen wieder zerfallende Leuchtkugeln. Bramm! ganz dicht. Es sauste mir vom Krach in den Ohren.
Ich duckte den Kopf.
Eben war ein merkwürdiges Geräusch nebenan, nicht ganz wie ein Zerbrechen und nicht wie eine gewöhnliche Granatdetonation.
„Renn", sagte Hänsel. „Ja, was ist?"
„Ich wollte nur wissen, wie es dir geht." Ein toller Krach in der Nähe!
Ich sah eine schwarzbraune Wolke am Steilhang stehen und forttreiben. Das hatte gesessen! Leute rannten vorbei.
Die Granaten rückten wieder die Höhe hinauf und wurden seltener.
Jemand kam und guckte in unser Loch. Es war Lamm. „Ich wollte nur sehen, wie's euch geht." Er lächelte blass im Dämmerlicht.
Ich stieg hinaus und sah ins Nachbarloch, wo das merkwürdige Geräusch war. Eine dunkle Decke, unter der einer winselte.
„Was ist dir denn?"
Er antwortete nicht. Da sah ich erst: die Decke hatte ein großes, zackiges Loch. Ich hob die Decke etwas.
Ich sah Sanders Gesicht und zugleich rotes Fleisch, so unregelmäßig - und ich wollte es auch nicht wissen -, er lag im Sterben.
Ich musste mich um den Zug kümmern.
Weickert saß in seinem Loch und sah entsetzt aus.
„Warst du hier allein?"
„Nein, hier war noch Elsner."
„Und was ist mit dem?"
„'s hat ihm den Schädel aufgerissen. Da lag alles offen." „Aber er lebt noch?"
„Ich weiß nicht. Er ist ganz ruhig fortgegangen. Das war schrecklich!"
Weickert starrte mich noch immer mit aufgerissenen Augen an.
Ein Stück weiter wurde verbunden. Da war eine ganze Gruppe verwundet oder tot.
Ich sah mich um. Wieder fielen Leuchttrauben nieder.
„In die Löcher!" schrie ich und rannte nach unserem Loch. Dort war Hänsel nicht.
Leute kamen mir entgegengerannt.
Einer hielt eine rote Hand in die Luft wie einen Leuchter.
Bramm! krapp! ramms! pä-arr!
Zwei Offiziere kamen vorbei. Der eine war unser Oberst. Er ging aufrecht. Der andere sah sich scheu um.
Ramm! App! Ramms! Karr!
Der Angriff musste mißglückt sein!
Steinstückchen flogen umher.
Ich duckte mich tiefer ins Loch.
Was tut nur Hansel noch draußen?
Es krachte und krachte, bald näher, bald ferner.
Graue Wolken von Einschlägen trieben über uns weg.
Es roch immer stärker nach Pulver.
Ein Schlag an mein gekrümmtes linkes Knie! Etwas fiel herunter. Ich griff danach und zuckte zurück. Es war glühend heiß.
Einer lief schreiend vorbei. Hänsel war es nicht.
Dass mir der Splitter nichts tat, lag an den Tuchfalten am Knie, die nachgaben. Man müsste sich die Schlafdecke recht faltig überlegen.
Ich nahm Hänsels Decke und betrachtete den Granatsplitter von vorhin. Er war von der Größe einer Dolchklinge und mit zwei gezackten Schneiden.
Da hörte ich einen hölzernen Ton ankommen, immer schärfer: App!
Das war wohl ein schwerer Blindgänger.
Ra - um - pa - pa!
Die Erde schütterte.
Nein, das war eine ganz schwere Granate, die erst im Boden detoniert.
Schreien an mehreren Stellen.
Ein Schlag auf meine Decke!
Der Splitter war nur radiergummigroß.
Der Pulvergeruch wurde immer stärker.
Ich sah nach der Uhr. Sie schossen schon eine Stunde ununterbrochen. Soll das so den ganzen Tag fortgehen? Und wenn man dabei... Ja, man muss sich das schon mal ganz vorstellen.
Hö - ju! kam es an.
Erdbatzen fielen auf meine Decke.
Wenn man verwundet wird, da kann man von hier fort. Aber - das ist nicht richtig. Man muss durchhalten!
Wramms! Ich fuhr zusammen.
Weshalb erschrecke ich nur! Wenn ich - aber wo ist der Hänsel?
Es schien nachzulassen. Ich richtete mich auf.
Noch ein paar Granaten in den Grund. Es war sehr hell. Die Sonne wollte wohl durchkommen.
„Habt ihr Hänsel gesehen?" fragte ich Brand. „Nein."
Ich war lähmend erschrocken.
„Du, komm mal her!" rief Hartenstein. „Wir haben drüben ein Lebensmitteldepot gefunden mit Selterswasser und Feldzwieback, der ist allerdings ein bisschen muffig."
Er hielt mir ein Säckchen Feldzwieback hin.
„Hast du was von Hänsel gesehen?"
„Nee."
Ich nahm den Zwieback und eine Flasche Selterswasser.
Lamm kam gegangen. „Bei der vierten Kompanie sind üble Verluste. Unser Bataillonskommandeur und der Führer der zweiten Kompanie sind verwundet."
„Und wie ist es mit dem Sturm?"
„Der ist völlig missglückt, fast alle Führer tot. Sie sind in der Dunkelheit zu weit rechts gekommen und an den Franzosen fast entlanggelaufen. Aber genaue Nachrichten fehlen noch. Die Reste liegen in Granattrichtern dicht vor den Franzosen."
„Vorsicht!" schrie ich. „Es geht wieder los!" Ich sah wieder die Leuchtkugeln in Trauben fallen.
Wir sprangen in die Löcher.
Granaten summten, Splitter flatschten und zirpten über uns. Schwere Granaten kamen angeröhrt, erschütterten die Erde und warfen Dreck um sich. Ich hatte mich ins Loch ganz tief hineingelegt und knabberte Feldzwieback.
Ach, vielleicht wissen die Sanitäter, was mit Hänsel ist?
Das Feuer dünkte mich schwächer als das letzte Mal. Es dauerte bis zwölf Uhr zehn.
Ich stieg aus dem Loch gleichzeitig mit Lamm.
Der Vizefeldwebel Poehner vom zweiten Zug kam angeschlichen und sank vor Lamm auf die Knie. Er hielt die Hände auf seine Brust
„Herr Leutnant", stöhnte er - „ich ... eine Granate hat mich auf die Brust... ich ..."
„Sprechen Sie nicht", sagte Lamm. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. - Renn, führ mal Herrn Feldwebel zum Sanitätsunterstand!"
Ich nahm ihn am Arm und brachte ihn zum unteren Steilhang. Dort stieg ich immer ein Stück hinunter und half ihm dann. Er konnte kaum gehen.
Ich setzte Poehner an den Eingang. Da war er ziemlich geschützt.
„Habt ihr was von Hänsel gesehen?"
„Ja, hier ist er. Aber", flüsterte der Krankenträger, „sprich wenig mit ihm! Es hat ihm das halbe Gesäß herausgerissen."
„Ist das gefährlich?"
„Das Gelenk scheint in Ordnung zu sein, aber es ist eine schrecklich große Wunde."
Ich ging tiefer in den Stollen. Auf einer Holzpritsche lag er auf dem Bauch mit den Stiefeln nach mir.
„Hänsel!" rief ich leise.
Er wendete den Kopf und sah nach mir. „Es ist gut von dir, dass du kommst. Aber geh lieber. Du hast zu tun und kommst auch durch."
Ich konnte nicht antworten vor Beklemmung.
Draußen war es sehr hell. Einige noch kahle Birken standen am Hang.
Lamm rief mich. Es standen schon zwei bei ihm.
„Wir müssen die Kompanie neu formieren. Drei Zugführer und ein Drittel der Kompanie sind weg. Unteroffizier Renn übernimmt den ersten und zweiten Zug, die die stärksten Verluste gehabt haben, als neuen Zug Renn. Den dritten Zug behält Vizefeldwebel Trepte, den vierten übernimmt Unteroffizier Langenohl. Aber es ist noch eine Schwierigkeit: der Unteroffizier Busch ist dienstälter als Renn. Er ist aber erst eben ins Feld gekommen. Ich kann ihm in solcher Lage keinen Zug geben. Er tritt zum Zug Trepte. Ich werde es selbst mit ihm besprechen. Im übrigen soll sich jeder hüten, deshalb übel über Busch zu reden!"
Ich teilte meine Gruppen neu ein und nahm als Zugsläufer Israel und Wolf in das leergewordene Loch neben mir, um sie zu Meldungen zur Hand zu haben.
Wieder setzte das Artilleriefeuer ein.
Granatgestank, Krachen, herumfliegender Dreck!
Nach einer halben Stunde ließ es nach. Decken lagen umher, Schanzzeug, Stahlhelme, Gasmasken, Leibriemen, Gewehre, Handgranaten, Tornister und blutige Tuchfetzen. In einem Loch war einem ein Splitter in die Handgranate am Leibriemen gegangen, und die hatte ihm den Leib aufgerissen. Der andere, der im Loch gewesen war, lief schreiend umher und wusste nicht, was er wollte. Ich ließ ihn fortbringen, denn er konnte sinnlos irgendwohin laufen.
Wieder krachten und sausten die Granaten.
Jemand kam schreiend gerannt.
Ich sah hinaus. Es war der Leutnant Hornung.
„Ist hier noch Platz? Dort drüben ist's zu furchtbar!"
„Dort drüben, Herr Leutnant!" rief ich.
In meinem Loch war allerdings auch Platz, aber ich wollte ihn nicht dahaben.
Er saß drüben und schrie bei jedem Schuss auf.
Der Beschuss dauerte nur kurz.
„Du, Israel, hast du gehört", sagte Wolf mit seiner langsamen Sprache, „wie der Leutnant von der zweiten gebrüllt hat? So was macht doch selbst unsereins nicht, obwohl man keine Verantwortung weiter hat!"
„Ach, sei still!" sagte Israel.
Die Sonne ging gerade unter. Da sah ich schon wieder die Leuchttrauben. Ich rannte zurück. Es krachte, stampfte und schütterte. Ss! fuhr es dicht über meinen Kopf weg und in den Grund. Ramm! karr! wramms! Ich duckte mich tiefer. In den Ohren sauste es. Irgend etwas schlug an meinen Helm. Ich zog die Decke ganz über mich.
Pramm! harp! Kötsch! Rum-rumm-pa! ra! hrätsch! Parr! Mein Gott, das ist ja entsetzlich!
Ich krampfte mich zusammen. Und wenn es einen erwischt - nichts merkt man mehr, auch keinen Schmerz -einfach zu Ende. Was ist eigentlich daran so schlimm?
„Wer ist denn das, der hier schläft?"
„Unteroffizier Renn, Herr Leutnant! Der hat die ganze Zeit während des Feuers geschlafen", sagte Israel.
„Dabei hat er schlafen können?" sagte Lamm.
Ich konnte unter der Decke nichts sehen. Aber ich hörte noch andere flüstern, und alle wunderten sich.
Ich blieb so, bis sie weggegangen waren. Dann schlug ich die Decke zurück.
Es war Nacht. Über mir funkelten die Sterne. Es musste kalt sein. Aber ich fühlte mich warm und wohl.
Man trug Verwundete vorbei. Ich stand auf, noch ganz im Staunen darüber, dass ich eingeschlafen war.
Ich hörte Israel eifrig sprechen und ging zu ihm. „Ich habe angeordnet", sagte er, „dass die Gruppen die Tagesverluste melden, weil du schliefst." Und auf einmal fing er ein klein wenig zu lachen an. „Wie hast du nur bei dem Krach schlafen können? Wir haben alle vor deinem Loch gestanden, und die Kompanie sagt, du wärst unverwundbar."

 

V.

Gegen Mitternacht ließ Lamm uns Zugführer rufen.
„Die weiter vorgeschobenen Teile des Regiments werden jetzt zurückgezogen. Dann sind wir hier vorderste Linie. Die Züge Trepte und Langenohl besetzen hier den Steilhang. Zug Renn setzt sich in die Lücke zwischen hier und der Nachbardivision. Hier ist ein Mann, der dich hinüberführt."
Wir rückten ab. Es war völlig dunkel. Erst ging es eben nach rechts. Dann bogen wir nach hinten in den Grund ohne Weg durch einen Wald oder ein hohes Gebüsch voll abgebrochener Äste und mit Granattrichtern im Boden. Ein schmaler Streifen mit Gras kam, dann halbhoher Fichtenwald. Ich hatte das Gefühl, dass wir immerfort die Richtung änderten. Wieder kam Wiese.
Unser Führer hielt und sah sich nach allen Seiten um. Einzelne dunkle Stellen konnte ich unterscheiden, aber nicht, was es war.
„Wir müssen suchen", sagte der Führer.
Wir gingen weiter in der Dunkelheit. Am Boden lag etwas Schwarzes. Der Führer bückte sich.
„Es ist ein toter Franzose, aber nicht der in der Nähe unserer Stellung."
Birken standen auf einmal dicht vor uns. Der Boden war völlig aufgeschossen und hell.
„Vorsicht! Hier liegt alles voller Granaten!"
Ein Geschütz mit Protze stand da, davor tote Pferde.
Wir bogen nach links in eine Grube.
„Hier ist der Unterstand."
Ich ging hinein. Darin saß ein Leutnant mit sieben Mann.
„Kommen Sie, meine Kompanie abzulösen? - Hoffentlich sind Sie stärker als ich. Das hier ist mein Rest. Alles, was ich Ihnen zu übergeben habe, sind fünf leichte Maschinengewehre."
„Wir haben fast keine am Maschinengewehr ausgebildeten Leute, Herr Leutnant!"
„Wir hatten überhaupt keine. - Noch eins: die Nachbardivision liegt mit einer Feldwache etwa hundertfünfzig Meter rechts rückwärts von uns in einem Graben. Da müssen Sie Verbindung aufnehmen." Er lachte dazu etwas seltsam. „Also, ich wünsche Ihnen mehr Glück, als wir hier hatten. - Ja, hören Sie, seien Sie etwas vorsichtig mit den Posten bei Tage, dass Sie keinen unnötigen Beschuss herkriegen!"
Er zog mit seinen sieben Mann ab.
Ich schickte Israel zu Lamm, die Ablösung zu melden. Dann stellte ich zwei Posten auf und zog die am Maschinengewehr ausgebildeten Leute heraus. Es waren nur vier Mann, und alle kannten nur das schwere, nicht aber das leichte Maschinengewehr. Ich bemannte drei Maschinengewehre mit je einem Führer und drei Mann.
Danach behielt ich noch drei Gruppen unter Hartenstein, Weickert und Sendig.
„Und wie wird die Unterbringung?" fragte Hartenstein.
Der Unterstand, in dem der Leutnant gewesen war, fasste nur zehn bis zwölf Mann. Da legte ich Hartensteins Gruppe hinein und sah mich weiter um. Die Grube, in der wir uns befanden, war ein großer Geschützeinschnitt. Ein schweres Geschütz mit einem gebrochenen Rad stand schief darin.
Wir fanden noch einen Eingang. Aber das Unterstandsdach war wie abgedeckt, und die Balken lagen zerfetzt umher.
„Hier ist noch ein Geschützeinschnitt", sagte Sendig.
Dort fanden wir noch zwei Unterstände. Ich ging mit Weickert in den einen. Jemand zündete Licht an. Vor uns in der Ecke lehnte einer. Weickert fuhr zurück. Am Boden lag auch einer ganz krumm. Weickert sah sie entsetzt an, und seine Leute standen starr.
»Seid nicht dumm!" sagte ich. „Wir schaffen sie hinaus."
Einer trat vor, um den am Boden anzufassen. Er lachte höhnisch. Ich wollte ihm helfen. Da sagte Weickert: „Aber der Leichengeruch bleibt doch drin!"
„Gut", sagte ich. „Dann sucht euch selbst eine Unterkunft!" Ich wollte hinausgehen.
„Wir haben heute noch nichts gegessen!" klagte einer.
„Ich werde Herrn Leutnant bitten, dass wir die zweite eiserne Ration essen dürfen!"
„Ich habe keine mehr."
„Da kann ich dir nicht helfen. Warum hast du sie vorher gegessen!"
„Man muss doch fressen, wenn man Hunger hat!" knurrte einer.
„Woher soll ich euch denn was geben?" Ich ging hinaus und zu Sendig. Der hatte sich schon in seinem Unterstand eingerichtet, mit den Maschinengewehrleuten zusammen.
Unterdessen waren etwa zwei Stunden seit der Ablösung vergangen. Ich fühlte mich unruhig wegen der Gruppe Weickert.
Wolf hatte mein Gepäck zu Hartenstein hingebracht und mir ein Lager bereitet. Mir war es noch ungewohnt, dass ich bedient wurde.
„Ist denn Israel noch nicht zurück?"
„Nein."
„Ich muss jetzt Verbindung nach rechts aufnehmen. Wolf kommt mit! Du, Hartenstein, übernimmst während der Zeit den Zug!"
Wir nahmen unsere Gewehre. Draußen traf ich Weickert „Ich habe noch einen Unterstand gefunden."
Ich ließ ihn mir zeigen. Er lag am weitesten links, etwas abseits.
„Du musst hier auch Posten aufstellen!"
„Es ist mir unheimlich hier", sagte er. „Kann ich nicht ein Maschinengewehr bekommen?"
„Wir müssen das erst mal bei Tage sehen. Ich kann die Leute nicht noch einmal umziehen lassen, bevor ich weiß, dass es nötig ist."
Ich ging mit Wolf nach rechts rückwärts. Aber war das auch die Richtung?
Wir kamen auf eine Wiese. Da lag wieder ein toter Franzose. Die Wiese stieg ziemlich steil an und wurde mit jedem Schritt zerschossener. Mein rechter Fuß verfing sich in Draht. Es schien ein zerschossenes Drahthindernis zu sein.
Vor uns zog sich quer ein weißer Wall.
„Halt! Wer da?"
„Verbindungspatrouille, dritte Kompanie."
Es war ein Posten unseres Regiments, der in einem tiefen Graben stand. Wir stiegen in den Graben. Da lagen welche drin. Einer richtete sich auf. „Woher kommen Sie?"
Nach der Art zu sprechen vermutete ich, dass es ein Offizier war. Er stellte eine Menge Fragen. Ich verstand nicht recht, was er wollte.
„Aber da müssen Sie ja vor uns liegen? Wir hatten immer angenommen, dass wir hier vorderste Linie sind." Er wies mich weiter nach rechts.
Hier schien es gar keine Unterstände zu geben. Der ganze Graben lag voller Schlafender. Deshalb stiegen wir nach hinten aus dem Graben in einen hohen Wald.
Ich stand auf einmal still. Rechts war ein dunkler Gegenstand. Ich sah ihn deutlich. Es war ein Wagen, aber ...
Ich ging darauf zu und konnte es nicht feststellen. Ich konnte ihn schon mit der Hand erreichen und wusste nicht... Ich trat noch näher. Es stank. Da sah ich: ein Pferd hing mit Vorderbeinen und Kopf aus dem Wagen. Rings lagen Bäume, Äste, Balken, Drahtrollen und eiserne Pfähle.
„Hier scheint ein Förderbahnhof gewesen zu sein", sagte Wolf. „Aber dort..."
Er deutete in einen Baum. Über einem starken Ast hing ein Pferd, sonderbar dünn, nur wie eine Haut. Was müssen das für Granaten gewesen sein, dass sie ein ganzes Pferd da hinaufgeworfen haben!
Sch-kremm! in die Trümmer. Wir gingen eilig weiter.
Die Feldwache der Nachbardivision fanden wir dreißig Schritt vor dem Hauptgraben in einem nach vorn führenden Graben. Mir schien da eine rechte Unordnung zu sein. Sie lagen schon drei Tage hier, und der Feldwachhabende wusste weder, wo wir lagen, noch, wo die Stellung seiner Division verlief.
Wir kehrten querfeldein zurück und sahen schon nach kurzer Zeit unseren Birkenwald.
Es begann zu dämmern. Vor Hartensteins Unterstand standen etwa zehn Mann mit zwei schweren Maschinengewehren.
Israel kam mir lebhaft entgegen.
„Herr Leutnant hat dir einen Zug schwere Maschinengewehre geschickt und lässt grüßen und sagen, es solle eine eiserne Ration gegessen werden."
„Ja, wo soll ich euch unterbringen? Wir haben nur noch einen Unterstand. Da sind aber zwei Tote drin."
„Ach, die schmeißen wir raus", sagte der Maschinengewehrführer - es war ein Sergeant.
„Herr Leutnant kommt!" rief Israel.
„Guten Morgen, Renn!" sagte Lamm und gab mir die Hand. „Ich muss dich gleich mal sprechen und Sergeant Schatz."
Er nahm uns vor und sah sich die Gegend an, die eben im Dämmerlicht auftauchte. Wir waren auf einer kleinen Erhöhung mitten im Grund. Rechts lag ein breiter Berg mit zwei flachen Höckern. Die glänzten sonderbar blauweiß.
„Das ist der weiße Berg, um den seit Tagen gekämpft wird. Dort und vorn liegt für hier die Gefahr. Der Aufstellungspunkt ist gut, aber er ist wie eine einsame Insel. Er ist der gefährdetste Punkt der ganzen Division. Fühlst du dich hier stark genug?"
„Ja, ich habe drei Gruppen, zwei schwere und fünf leichte Maschinengewehre. Von den leichten habe ich drei bemannt."
„Aber du hast doch gar nicht genug ausgebildete Leute." „Nein, nur vier. Aber vielleicht kann der Sergeant die übrigen über das Wichtigste unterrichten." Lamm sah mich überlegend an.
„Sergeant Schatz, Sie übernehmen auch unsere Maschinengewehre und stellen Ihre eigenen Posten! Aber ich muss Sie, obwohl Sie dienstälter sind, fürs Gefecht dem Unteroffizier Renn unterstellen."
Er ging mit seinem Läufer zurück.
Es war ganz hell geworden. Ich ging in den Unterstand. Israel hatte eine Rindfleischkonserve für sich und mich geöffnet und im Feldkessel über Hartspiritus gewärmt. Wir warfen Feldzwieback hinein, der aufweichte, und aßen es so.
Israel war Violinbauer und hatte blitzende, braune Augen. Wolf war Arbeiter, sehr bedächtig und schweigsam, mit etwas stumpfen blauen Kuhaugen, war aber gar nicht dumm. Er pflegte in einer Ecke zu sitzen und Israels lebhaften Reden zuzuhören und ab und zu etwas sehr deutlich zu sagen. Er war wohl kaum neunzehn Jahre, schlank, groß, und hielt viel auf seinen Anzug und seine Hände.
Wir legten uns und schliefen.

 

VI.

Ich wachte gegen Mittag auf und fühlte mich sehr hungrig. Übrigens war ja heute mein Geburtstag.
„Du", sagte ich zu Hartenstein, „könnten wir nicht eine Patrouille da hinüberschicken, wo ihr gestern den Feldzwieback gefunden habt?"
„Ja, Kettner kann das machen mit noch einem. Der ist sehr findig - besonders beim Läusefangen. Da greift er sich nur in den Rock und hat sie schon."
Kettner, der dabeisaß, lachte. „Ja, das ist was für mich! Aber ich gehe lieber alleine."
Ich ging hinaus und sah mich um. Der Unterstand mit abgedecktem Dach war wohl ein explodiertes Munitionsdepot. Die Granaten, die weit umhergestreut lagen, waren etwa fünfzig Zentimeter lang. Wenn ich nur wüsste, ob sie noch gefährlich waren! Vorn bei dem schiefstehenden Geschütz, wo jetzt Brand als Posten stand, lagen wenigstens keine.
„Weißt du, wo unsere Postierungen stehen?" fragte ich ihn. „Nein." Er sah mich ängstlich an. Er schien vom gestrigen Trommelfeuer noch ganz verstört zu sein.
„Siehst du dort links den Granateinschlag? Dort liegt der Kompanieführer mit den beiden anderen Zügen. Dann kommt die große Lücke bis zu uns, und dort rechts hinter uns liegt die nächste Feldwache der Nachbardivision."
Ich erschrak selbst, als ich das sagte. Wenn hier im weiten Umkreis vor uns die Franzosen angriffen, mussten wir sie allein abwehren. Dann konnte der einzelne Posten nicht zugleich schießen und alarmieren. Ich musste noch Alarmposten stellen.
Ich ging nach rechts weiter. Im nächsten Geschützeinschnitt stand nur ein schweres Maschinengewehr mit einem Posten daran. Dabei lagen hier fünfunddreißig Mann in zwei Unterständen. Ich ging in Sendigs Unterstand, wo auch die leichten Maschinengewehre lagen.
„Weshalb ist denn keins von euren Maschinengewehren draußen?"
„Es hat uns niemand was gesagt."
„War der Sergeant Schatz nicht hier und hat euch die Plätze gezeigt?"
Sie sahen mich dumm an. Ich ärgerte mich.
„Du musst einen Posten aufstellen, Sendig, gleich hier oben, zum Alarmieren der beiden Unterstände. Wir müssen auch sehen, dass wir uns, solange es ruhig ist, alle übers Maschinengewehr instruieren lassen. Wozu haben wir denn die Dinger?"
„Wie wird's denn heute mit der Verpflegung? Wir haben doch seit drei Tagen nichts Ordentliches gekriegt, und die eisernen Rationen sind aufgegessen."
„Ich habe schon einige abgeschickt. Ich sage es euch, wenn ich was kriege."
Draußen krachte eine Granate.
„Fängt der Mist wieder an!" schimpfte Sendig.
Ich ging hinaus. Es war dicht vor den Posten gegangen. Dort war noch der Granatrauch.
Was soll ich Schatz sagen? Ich muss es auf einen Streit ankommen lassen. Ich ging in den anderen Unterstand. Schatz spielte mit den beiden Gewehrführern Skat.
„Sie haben wohl meinen leichten Maschinengewehrleuten noch nicht gesagt, dass sie Ihnen unterstehen?"
Er sah mich halb hochmütig, halb feige von der Seite an.
„Wir müssen uns schon darüber einigen", sagte ich, „wie wir das machen wollen. Wo dachten Sie denn, dass die leichten Maschinengewehre bei einem Angriff hinkommen?"
„Gleich hier oben", sagte er gleichgültig und gab eine Karte.
„Was? Alle fünf Maschinengewehre auf kaum sechs Meter Breite?" Ich hatte das Gefühl, blass zu werden vor Wut.
„Nu, wenn Sie wollen, können Sie sie ja woanders hinstellen."
Ich wusste darauf nichts zu antworten. Sollte ich einfach hinaufgehen und befehlen, was ich wollte? Aber was würde Lamm dazu sagen?
„Können Sie mir nicht jemand zur Verfügung stellen, der meine Leute übers Maschinengewehr instruiert?"
„Ja. - Trumpf!" Er knallte eine Karte auf den Tisch.
„Wen?" fragte ich und fing an, in den Knien zu zittern vor Wut.
„Dort, den Gefreiten Janetzky." „Kann ich über ihn verfügen?" „Machen Sie, was Sie wollen."
„Ja, das werde ich!" brüllte ich ihn an und ging mit klopfendem Herzen hinaus. Sie lachten hinter mir her.
Ich holte meine Gruppenführer und die Bedienungsleute der leichten Maschinengewehre zusammen und suchte mit ihnen die Stellen aus, wo man sie bei einem Angriff hinstellen könnte.
„Wir stehen hier am gefährdetsten Punkt des ganzen Divisionsabschnitts. Leider haben die schweren Maschinengewehrleute dafür gar kein Verständnis."
„Der Schatz, das ist 'n ganz falscher Hund", sagte Hartenstein. „Ich habe schon erlebt, wie der von seinem Kompanieführer rausgefenstert wurde."
„Ich hatte ihn gebeten, dass er uns jemand zum Instruieren am Maschinengewehr gibt. Aber ich glaube, da können wir vergeblich warten. Wir müssen aber die Dinger bedienen können. Nehmt euch doch jeder ein leichtes Maschinengewehr in euren Unterstand und lasst euch von den Ausgebildeten die nötigsten Griffe zeigen!"
„Das wollte ich schon immer lernen", sagte Weickert. Die andern nickten.
Unterdessen wuchtete es von schweren Granaten rechts auf dem Weißen Berge. Der ganze rechte Hang lag in einer grauweißen Wolke. Auch an dem Graben hinter uns wuchsen Granatwolken seine ganze Breite entlang. Nach dem Steilhang links oben, wo wir gestern lagen, schoss es auch wieder heftig, nur sahen dort die Granatwolken dunkler aus, vielleicht vom Waldboden.
„Wir müssen gut aufpassen", sagte ich. „Wenn die Franzosen in den Wald vor uns kommen, dann können sie den andern Zügen in die Flanke und den Rücken kommen."
„Die Lücke ist lausig groß!" sagte Weickert und sah mit großen Augen hinüber.
„Wenn die Posten aufpassen, fürchte ich nichts", sagte ich.
Kettner kam gebeugt mit einer Wolldecke auf dem Rücken, in der es gläsern klapperte.
„Wir sollten uns nicht soviel hier zeigen", sagte Hartenstein. „Die Franzosen müssen uns vom Weißen Berg aus sehen können."
Kettner ließ die Decke nieder. „Ich habe Indianer spielen müssen. Wie ich ans Lebensmitteldepot kam, stand da ein Posten. Da dachte ich: Lieber nicht fragen, sondern abwarten! Indem fing's an zu schießen. Ich setze mich in 'nen Granattrichter und warte. Da höre ich, wie einer dem Posten sagt, bei Beschuss käme doch keiner klauen, und er solle jetzt weggehen. Da bin ich nachher angeschlichen und hab das mitgebracht."
Er hatte nicht nur Selterswasser und Zwieback, sondern auch Trockengemüse in Würfeln. Das war allerdings etwas feucht geworden.
Ich verteilte die Lebensmittel und schickte Israel an Lamm, ob heute Abend die Feldküche käme und wohin. Hier vor in den Grund konnte sie wegen der Gräben nicht kommen.
Unterdessen hatte sich Hartenstein ein leichtes Maschinengewehr in unseren Unterstand geholt und auf den Tisch
gestellt.
Brand, der am schweren Maschinengewehr ausgebildet war, fingerte verlegen daran herum und begann mit nach oben verdrehten Augen: „Das Maschinengewehr 08 ist eine Selbstladewaffe. Es besteht..."
„Lass doch den Kotz", sagte Hartenstein, „und zeig uns, wie man mit dem Ding schießt!"
Brand betrachtete es verlegen und wollte den Deckel aufmachen. Aber es ging nicht.
„Geh weg!" sagte Kettner, machte es auf und sah hinein. Alle redeten durcheinander. Es wurde an der Waffe herumgetastet und geschraubt. Der Lauf wurde herausgezogen.
„So können wir gar nicht damit schießen", sagte Brand.
„Warum denn nicht?"
„Weil kein Wasser im Mantel ist, und weil der Dampfablassschlauch fehlt."
„Da müssen wir Selterswasser hineingießen", meinte Kettner.
Jemand kam die Treppe heruntergepoltert.
„Warum passt hier niemand auf!" schrie Lamm. „Die Franzosen stellen sich am Weißen Berg zum Angriff bereit. Wo ist Sergeant Schatz?"
„Wolf alarmiert links, Israel rechts!" schrie ich.
„Hier bleiben!" schrie Lamm. „Wozu sollen sich alle zeigen? Nur die schweren Maschinengewehre!"
Er rannte hinaus, ich hinterher.
„Wo liegt Schatz?"
„Hier, Herr Leutnant!"
Er rannte hinein. Unten hörte ich schimpfen. Schatz mit seiner ganzen Bande und dem zweiten Maschinengewehr kam herausgerannt.
„Dort!" rief Lamm. „Sehen Sie denn nicht? Am linken Hang des Berges über dem rechten Zipfel!"
Sie sahen hinüber.
„Welches Visier?" schrie Lamm den Schatz an. Der sah aufgeregt hinüber.
„Vierhundert?" stotterte er.
„Neunhundert!" brüllte Lamm. „Maschinengewehre fertig?"
„MG eins fertig!"
„Kommandieren Sie!" schrie Lamm.
„Ein Strich Tiefenfeuer!" sagte Schatz.
Das rechte Maschinengewehr ratterte los. Lamm sah durchs Fernglas. Das linke Maschinengewehr musste sich erst eine Auflage schaffen.
„Stopfen!" brüllte Lamm. Das Rattern hörte auf. „Wohin schießen Sie denn, Mensch? Habt ihr denn alle keine Augen? Jetzt sind sie natürlich verschwunden!"
Er sah mich mit einem wütenden Blick an. „Kommen Sie mit mir, Unteroffizier Renn und Sergeant Schatz! Die unnötigen Leute sollen hier verschwinden!"
Er ging stumm aus dem Geschützeinschnitt und blieb bei der Haubitze mit dem toten Pferde stehen.
Wir standen stramm.
„Weshalb passt hier niemand auf?" Er machte eine Pause und sah uns an. „Weshalb haben Sie, Sergeant Schatz, keine Stellung für Ihr zweites Maschinengewehr vorbereitet? Haben Sie Entfernungen schätzen lassen? Woher weiß ich denn die Entfernung? - Sie werden sofort die Entfernungen schätzen! Ich werde morgen Ihre Posten abfragen, und außerdem werde ich Ihrer Kompanie mitteilen, dass Sie unbrauchbar sind. Sie können gehen!"
Schatz machte kehrt und ging weg. Lamm sah mich an, und ich merkte, dass ihm die Aussprache auch schrecklich war.
„Schatz ist ein erbärmlicher und verlogener Mensch! Ich kenne ihn schon vom Rekrutendepot. Aber mit dir, das verstehe ich nicht! Soll ich denn hier einen andern Zugführer herschicken? Du wirst alle Mühe haben, mich zufrieden zu stellen! Ich sage dir's offen, ich werde dich kontrollieren. Das hielt ich bisher für unnötig!"
Er atmete erregt und ging langsam fort.
„Halt!" sagte er plötzlich. „Die Küche kommt gegen Morgen. Die Essenholer sammeln sich an meinem Unterstand. Guten Tag!"
Er ging fort. Ich dachte: Du sollst mich kontrollieren, das ist mir lieb! Und weh mir, wenn du mich schlapp findest!
Ich war nicht traurig über den Vorfall. Nein, seine Vorwürfe taten mir wohl; denn er hatte recht. Ich hätte auch Entfernungen schätzen müssen.
Ich ging zu den Gruppen und gab meine Befehle über die Posten und für die Essenholer, sie sollten möglichst Wasser für die Maschinengewehre mitbringen und sehen, ob nicht irgendwo Dampfablassschläuche herumlägen.
Unterdessen hatte es angefangen, hierher zu schießen. Es waren schwere Granaten, die sehr schnell da waren und große, dolchförmige Splitter umherwarfen. Aber sie kamen wenigstens regelmäßig. Der Posten im linken Geschützeineinschnitt wurde leicht am Ohr verwundet.
Bis ich alles mit den Gruppen besprochen hatte, brauchte ich fast drei Stunden, und auch dann fiel mir immer noch Neues ein. Wussten sie, was das Sperrfeuerzeichen war, um Artilleriefeuer anzufordern? Waren genug Leuchtpistolen da und geeignete Munition?
Das Artilleriefeuer hörte auf. Es wurde dunkel. Ich hatte noch keine namentliche Liste meines Zuges.
Die Essenholer gingen fort. Ein Läufer kam von Lamm. „Herr Leutnant lässt fragen, ob das Gerät der leichten Maschinengewehre vollständig ist, und die Unterstände sollen abgeblendet werden, dass nachts kein Lichtschein zu sehen ist. - In der Morgendämmerung soll von vier bis sechs Uhr alles wachen und sich umgeschnallt bereit halten."
Ich ging wieder zu den Gruppen und gab alles bekannt. Dann ging ich zu den Posten und fragte sie aus, ob sie alle wichtigen Punkte im Gelände kannten.
Meine Leute hatten Interesse an der Handhabung der Maschinengewehre gefunden. Sie wollten überall hineinsehen können, wie die Sache zusammenhinge. Ich verwunderte mich über ihren Eifer.
Es war schon nach Mitternacht. Ich fühlte meinen Magen erbärmlich leer. Heute wieder nur Feldzwieback und dazu einen Gemüsewürfel in Selterswasser gekocht. Die Essenholer waren vor vier Stunden abgerückt.
Ich schweifte draußen umher und besah mir die Gegend und wie die Posten standen.
Um halb vier Uhr kamen endlich die Essenholer schwer bepackt. Einer trug einen Blechtornister mit Wasser. Ein anderer hatte einen schweren Sack mit Brot.
„Wo seid ihr denn so lange gewesen?"
„Erst haben wir uns verlaufen", lachte Israel. „Dann war die Küche nicht da, weil's auf die Straße schoss. Sie kommt überhaupt nicht vor Mitternacht, weil sie nicht über die Höhe hinten dürfen, bevor's dunkel ist. Und dann sind's anderthalb Stunden vom Küchenhalteplatz bis hierher. -Herr Feldwebel lässt sagen: Er möchte täglich mit der Küche
eine Stärkemeldung von den Zügen haben, weil er hinten nicht erfährt, wer wieder verwundet ist. Sie wussten überhaupt noch nicht, dass wir so viele verloren haben. Daher haben sie viel zuviel Brot vorgeschickt."
Das Essen war auf dem Wege kalt geworden. Wir mussten Hartspiritus sparen und aßen es so. Wir hatten auch nur noch zwei Hindenburgbrenner, und davon war der eine schon fast heruntergebrannt.
Unterdessen war es vier Uhr geworden. Ich ließ umschnallen und ging zu den andern Gruppen. Sie hatten es vergessen oder waren zu faul gewesen. Sollte ich auch zu Schatz gehen? Ja, vielleicht wusste er nicht von dem Befehl. Ich traf sie alle schlafend. Ich weckte Schatz und sagte es ihm. Er erhob sich widerwillig und setzte sich an den Tisch. Aber er weckte seine Leute nicht. Das geht mich nichts an, dachte ich und ging zu den Posten.
Es wurde langsam hell. Der Berg kam heraus mit seinen zwei Kuppen. Unsere Artillerie bellte von hinten vor. Die Geschosse rauschten vorüber und schlugen drüben fern ein. Die französische Artillerie schwieg.
Mir fiel eine kleine Erhöhung dreißig Schritt vor uns auf. Ob die sich nicht zum Aufstellen von Maschinengewehren eignete? Ich ging dahin und legte mich in mehrere Granattrichter, ob von da gutes Schussfeld wäre. Auf einmal hörte ich Schritte hinter mir.
„Guten Morgen, Renn!" sagte Lamm und hielt die Arme hinter seinem Rücken. „Ich komme eben aus deinen Unterständen und von den Posten. Es war alles in Ordnung. Aber den Schatz habe ich gehörig hochgenommen. Der Mensch ist zu schlapp, seine Leute zu wecken."
Ich wunderte mich: Lamm lächelte mich die ganze Zeit an und hielt die Arme immer hinter dem Rücken, was doch sonst nicht seine Gewohnheit war.
„Du", sagte er, „gestern war nicht die rechte Gelegenheit ...", er lachte geradeheraus und brachte auf einmal ein Paket in Zeitungspapier hervor, „du hattest doch gestern Geburtstag?"
Ich konnte zuerst gar nichts sagen. „Woher weißt du denn das?"
Er bewegte lächelnd den Kopf hin und her. „Rate nur nein, du kriegst's nicht heraus, weil's so einfach ist. Ich blätterte neulich in der Stammrolle, und da fand ich's und schrieb mir's auf. - Aber sieh nur nach, was es ist."
Ich schlug es auseinander. Oben lag eine Schachtel Zigaretten und darunter ein Buch: Simplicius Simplicissimus.
„Kennst du das?"
„Nein, ich habe nie davon gehört."
„Das ist was für dich. So bist du auch wie der da. - Aber jetzt ist die Zeit zu wachen vorbei. Ich bin müde."

 

VII.

„Renn!" rief einer.
Ich wachte auf. Es war nur etwas Licht von der Treppe her im Unterstand. Einer bewegte sich auf mich zu. Draußen wuchtete es.
„Ist was passiert?"
„Wir haben schon drei Verwundete, und es schießt immer weiter zu uns."
Ich erhob mich rasch und lief die Treppe hinauf. Links in Weickerts Geschützeinschnitt sprangen krapp! krapp! große weiße Staubwolken hoch.
„Wo sind die drei verwundet worden?"
„Der erste als Posten am Unterstand, die anderen beiden als Posten vorn am leichten Maschinengewehr."
„Was stehen jetzt für Posten?"
„Nur einer vorn."
„Den soll Weickert einziehen, solange es so dahin schießt! Wir übernehmen hier die Beobachtung für euch mit."
Der Bote ging erst zögernd fort. Als er aber in die Höhe der Granaten kam, rannte er, dass die Birken vor ihm vorbeisausten.
Ich setzte mich oben in den Treppenhals. War das richtig, den Posten einzuziehen? Doch wohl. Aber ich musste es Lamm melden.
Ich ging hinunter, weckte Wolf und schickte ihn fort. Dann saß ich wieder oben. Ich fühlte mich müde und angegriffen. Dann juckte es mich am Halse. Ich zog den Rock aus und untersuchte den Kragen. Es war nichts daran zu finden. Aber in der Halsbinde saß eine ganze Brut junger
Läuse. Ich las sie ab und warf sie hinaus. Wenn nur das nicht noch dazukäme! Ich zog auch das Hemd aus. Das Bündchen war zerschlissen. In den Fäden saßen auch noch welche.
Draußen schien die Sonne. Aber auf der Treppe war es kalt. Ich zog mich wieder an. Es krachte und stampfte und warf Kalkstaub in die Höhe. Ich sah zu Boden.
Ramms!
Ich fuhr auf. Beinahe wäre ich ganz eingeschlafen. Jetzt schießen sie wohl auch hierher? Oben in der blauen Luft surrte es. Zwei kleine Flieger zogen da kleine Kreise. Beim Wenden blitzten sie silbern. Weiter nach den Franzosen zu zog ein großer Flieger weite Kreise mit breiten Flügeln und Schwanzflosse, aber ohne Leib. Das war ein Flieger, der das französische Feuer lenkte.
Tack - tack - tack! Maschinengewehrfeuer in der Luft. Zwei deutsche Flieger kamen schräg hintereinander gerade auf die kleinen Silberflieger zu. Die schwangen sich. Einer tauchte nieder und wurde abwärts verfolgt. Weiße Schrapnellwölkchen bliesen von den Franzosen her und blieben wie Schäfchenwolken in der Luft.
Auf einmal sah ich, wie der eine Silberflieger stürzte, immer schneller. Ein Flügel löste sich und schaukelte in der Luft wie ein Blatt. Der andere Flügel löste sich. Der Rumpf fuhr kerzengerade herunter, den Schwanz oben, über ihm eine Qualmschnur. Es brannte und fuhr irgendwo weit drüben in den Wald.
Kramms!
Ich bekam ein Kalkstückchen an den linken Ärmel. Weickert kam gerannt und fuhr zu mir in die Treppe. „Unser Unterstand ist eingeschossen!" schrie er. „Wo sind die andern?"
„Ich weiß nicht. Unser Maschinengewehr ist kaputt!"
Es kam wieder einer.
„Ist jemand verwundet?"
„Ja, der Stoll-August, aber nicht schlimm."
„Wo sind die andern?"
„Die laufen herum."
„Hol sie hierher!"
Er lief hinaus.
Die Leute kamen. Nur zwei hatten ihre Gewehre. Sie redeten aufgeregt durcheinander. „Der ganze Unterstand ist platt."
„Unsinn! Ich bin zuletzt raus. Es hingen nur 'n paar Balken runter."
„Nee, ich hab's doch gesehen, wie die ganze Decke runterkam!"
Was mache ich nur mit den Leuten? dachte ich. Wolf kam von Lamm zurück.
„Herr Leutnant lässt für die Meldung danken. Er beobachtet von oben, wie es hier steht. Von da oben sieht's wirklich so aus, als könnte hier niemand mehr leben."
Ich schickte Israel ab, das neue Unglück und den Fliegerkampf zu melden.
Ich konnte mit den aufgeregten Leuten nicht zusammenbleiben; denn ich musste überlegen, was ich nun tun wollte. Daher rannte ich hinüber zu Sendig. Dorthin waren bisher nur wenige Schüsse gegangen. Von seiner Treppe aus konnte man nach dem Weißen Berg hinübersehen, auf den es auch lebhaft schoss, aber von deutscher Artillerie. Gegen zwei Uhr nachmittags flaute dort das Feuer ab. Auch bei uns war es stiller geworden.
Ich ging in meinen Unterstand zurück und aß etwas. Dann legte ich mich, um zu schlafen. Weickerts Leute hatten ihre Ausrüstung von drüben geholt und schliefen.
„Renn!" sagte Israel. „Herr Leutnant lässt sagen, man erwartet für heute Abend einen französischen Angriff. Von fünf Uhr ab soll alles alarmbereit sein."
„Gut!" sagte ich und versuchte wieder zu schlafen. Aber musste ich nicht die Besetzung neu einteilen? Und dann musste Weickert ein neues Maschinengewehr bekommen. Aber er hatte ja nur noch sechs Mann.
Ich stand vor Unruhe auf und ging hinaus. Der Weiße Berg war in eine Staubwolke gehüllt, dass man nichts Genaues erkennen konnte. Beide Artillerien schossen heftig. Deutsche Flieger kamen ziemlich tief von hinten über den Grund weg. Auch zu Lamm schoss es wieder.
Ich ging zu dem eingeschossenen Unterstand und fand dort noch sieben Patronenkästen mit Maschinengewehrgurten. Ich nahm zwei mit und schickte hinüber, die übrigen zu holen. Ka-ramms!
„Das ist 'ne ganz schwere Marke", sagte Hartenstein. Weickerts Leute kamen mit den Patronenkästen atemlos zurück.
„Jetzt schießen sie hierher!" Ra-ramm!
„Verflucht! Das gilt uns!"
Wir saßen und warteten. Es war schon fünf Uhr. - Solange sie so schießen, kommen sie nicht.
Sendig ließ melden, dass sein Posten vorn tot wäre, er hätte den neuen Posten an einen geschützteren Fleck gestellt.
„Uns werden sie schon hier auch noch rausschießen!" sagte einer von Weickerts Leuten.
„Halt 's Maul!" sagte Hartenstein. „Mit dem Gequak machst du's nicht anders!"
Das Schießen ging fort. Einmal schwankte der Unterstand.
Nach anderthalb Stunden wurde es still. Ich ging hinaus. Nur noch irgendwo in der Ferne rumpelten die Kanonen.
Einer von Lamms Läufern kam.
„Mit Einbruch der Dämmerung sollt ihr umziehn, Herr Leutnant erwartet dich dann oben - dort über den schwarzen Fichten!"
„So weit vorn?"
„Er hat gesagt: je weiter vorn, desto weniger Artilleriefeuer."

 

VIII.

Als es dunkel war, brachen wir auf, hinter uns in langer Reihe die Maschinengewehre. Wir zogen uns über die weißgeschossene Wiese und dann an einem Waldsaum aufwärts. Es wurde immer steiler. Auf einmal kamen wir in Draht, von dem im Walde und bei der Dunkelheit nichts zu sehen war. Ich dachte, es wären nur ein paar Drähte. Aber ich trat immer weiter in Draht, der überdies teils straff, teils in losen Schlingen gespannt war. Das Hindernis war etwa sieben Meter breit. Ich ließ die Leute hinter mir, die mit den
Maschinengewehren nur langsam vorwärts kamen, und lief mit Israel und Wolf voraus.
„Renn!" rief es leise von links. Das war Lamm. Er stand in einer verlassenen Batteriestellung.
„Ich habe heute von oben das Feuer bei euch gesehen", flüsterte er. „Mir war himmelangst. Ich habe mit Herrn Oberst, der heute da war, die Stellung hier besprochen. Der Punkt hier liegt freilich auf den ersten Blick einfach verrückt Aber wahrscheinlich wird es nicht herschießen. Die Franzosen dürfen aber nicht ahnen, dass wir hier liegen. -Die Nachbardivision ist gebeten worden, ihre Feldwache weiter vorzuschieben. Du musst mal feststellen, ob sie's getan hat. Ich traue in solchen Sachen niemand mehr."
Unterdessen bellten unsere Geschütze immer regelmäßig von hinten vor, und mit singendem Ton wölbten Geschosse über uns weg. Die Einschläge waren merkwürdig leise, obwohl nicht sehr weit von uns.
„Was sind das für Geschosse?" fragte ich.
„Ach so, das weißt du ja noch nicht. Das sind Grünkreuzgranaten, sehr üble Gasgranaten. Damit wird unsere Artillerie jetzt jeden Abend auf die vorderen französischen Gräben schießen."
Wir verteilten die Unterstände. Es waren vier ehemalige Artillerieunterstände da, recht eng und schlecht gebaut. Ich nahm den am weitesten rechts.
„Es kommen nicht alle unter!" sagte ich zu Lamm.
„Das dachte ich mir. Die übrigen müssen im Freien unterkommen."
„Wie meinst du das?"
„Komm mit! Der betreffende Gruppenführer und der Führer eines leichten Maschinengewehrs sollen auch mitgehen !"
Ich nahm Weickert und Brand mit. „Leise sein!" flüsterte Lamm.
Wir stiegen rechts hinunter. Auch hier war ein Drahthindernis in halber Höhe. Wir traten vorsichtig einer hinter dem andern hindurch. Unten war eine Schlucht mit ebener Sohle, die nach rechts vorn führte. Es war düster da. Einzelne Granattrichter zwischen ganz niedrigen Fichten am Boden.
„Hier kommt die Gruppe und das leichte Maschinengewehr her."
„Aber wenn wir einen Graben schanzen, dann wissen die Franzosen gleich, wo wir sind."
„Ja, ihr müsst euch eben so einrichten, dass es auf der Fliegerphotographie so aussieht wie Granattrichter."
„Herr Leutnant", sagte Weickert, »wir haben aber hier gar keinen Schutz nach rechts."
Ich sah den rechten Hang an, der steil emporstieg. Man konnte nicht zwanzig Schritte weit sehen.
„Aber verstehen Sie denn gar nicht?" flüsterte Lamm. „Von oben, wo Renn liegt, kann man nicht in den Grund hier sehen. Deshalb liegen Sie hier und schützen die rechte Flanke von Renn. Und Sie können wieder nicht nach rechts sehen, aber Renn von oben sieht alles rechts bis zum Weißen Berge. Der stellt oben ein Maschinengewehr auf, nur zu Ihrem Schutz. Das schießt quer über Sie weg. Und Zug Langenohl liegt links so, dass er mit seinen Maschinengewehren die ganze Wiese vor Renn bestreichen kann. Und bei mir liegt Zug Trepte mit zwei schweren Maschinengewehren bereit, dahin vorzugehen, wo Gefahr ist. Ihr müsst doch auch Vertrauen zu mir haben!"
Ich schämte mich, dass ich das nicht gleich gesehen hatte.
Ein großer Teil der Nacht ging mit Aufstellung der Posten und Maschinengewehre hin. Dann ging ich mit Israel nach der Nachbardivision. Ich fand die Feldwache nur zwanzig Meter weiter vorn als früher. Wir lagen jetzt fünf- bis sechshundert Meter vor ihnen. Als ich wieder vorkam, waren die Essenholer da. Israel erzählte, dass der Zug Langenohl zwei Verwundete hätte. Dann kam die Zeit, wo wir umgeschnallt wachen mussten. Es war noch dunkel. Ich ging in die Schlucht und suchte nach den bewohnten Trichtern.
„Vorsicht!" sagte auf einmal eine Stimme unter mir.
Ich sah einen runden Stahlhelm sich in einem Busch bewegen. Es war Brands Stimme. Ich beugte mich hinunter und sah, dass es kein Busch war, sondern Kiefernäste über einem Loch. Darunter war das Maschinengewehr versteckt.
„Wo sind die andern?" fragte ich.
„Hier unten. Wir haben das Loch unten eckig geschanzt und uns Sitze gemacht mit Holz aus der verlassenen Batterie oben."
Ich tappte weiter. Bei Weickert war das Loch oben etwas erweitert, aber unverdeckt. Unten hatten sie eine Zeltbahn gespannt, dass es bei Tage aussehen sollte, als wäre die dunkle Zeltbahn ein Schatten des Lochs.
Unterdessen wurde der Himmel blass. Ich stieg nach der Batterie hinauf, die von der Schlucht wie ein befestigter Berg aussah.
Unser Unterstand hatte zwei Ausgänge, einen nach dem Weißen Berg, in dem ich mich zu Israel und Hartenstein setzte. Beide waren mir recht lieb geworden, besonders der muntere Israel. Er aß Brot und schnitt mir auch etwas ab. Der Weiße Berg leuchtete bläulich wie von innen heraus. Die Waldstücke waren noch schwarz.
„Sieht nicht der Berg aus wie ein Kamel?" sagte Israel.
„Du meinst wohl ein Dromedar", meinte Hartenstein. »Er hat doch zwei Höcker."
„Hast du mal ein Dromedar gesehen?" fragte Israel nach einer Weile.
„Ja, in Hamburg."
„Du bist weit herumgekommen!"
Hartenstein machte eine Bewegung mit der Hand, zu schweigen. Ein Fink hatte angefangen zu singen. Er musste in der Birke sitzen, die fünf Schritte hinter dem Unterstand vor schwarzen Fichten stand.
Israel warf ein paar Brotkrumen unter den Baum.
Der Fink sang.
Hartenstein warf ein kleines Stück Konservenwurst hin. Ich betrachtete die Birke. Sie hatte an den Spitzen schon ein klein wenig Grün. - Aber konnten die Posten auch bei Tage abgelöst werden, ohne gesehen zu werden? Ich stieg in den Unterstand. Von dort führte ein schmaler Gang in den nächsten Raum, und von dort ging der zweite Ausgang nach hinten. Da stieg ich hinaus. Hier war ich gegen den Weißen Berg gedeckt. Die Geschützeinschnitte waren eng und dicht beisammen. Der Posten ragte nur mit dem Kopf heraus und konnte nach rechts und vorn sehen, wo ein dunkler Wald die ansteigende Wiese begrenzte. Aber der runde Stahlhelm hob sich deutlich ab. Vielleicht wäre es gut, ihn mit Kreide
zu beschmieren? Aber hinter uns der dunkle Wald. Dagegen müsste man ihn dann erst recht sehen. Ich nahm einen abgeschossenen Birkenzweig und wand ihn um seinen Helm. Der Posten lachte. Aber die auffallende, runde Form des Helms war ziemlich verdeckt.
Die Maschinengewehrposten im nächsten Einschnitt standen zu hoch. Ich stellte sie tiefer und ließ die Maschinengewehre mit Geäst bedecken, ohne erst Schatz zu fragen. An der Birke waren die hingeworfenen Brotkrumen verschwunden.
Wir legten uns schlafen. In mir war eine kleine Sehnsucht, aber eine ganz stille. Wenn die Franzosen erst angegriffen haben, dann werden wir wohl abgelöst.

 

IX.

Ich schlief noch nicht eine Stunde, als ich geweckt wurde. „Herr Major und Herr Leutnant sind draußen."
Der Major wollte nur die neue Aufstellung sehen und ordnete an, dass in der Nacht Horchposten vorgeschoben würden. Sie blieben nicht lange da.
Die Läuse juckten mich wieder. Ich lauste und legte mich dann. Gegen zehn Uhr weckte mich Israel. „Unten in der Schlucht scheint einer verwundet zu sein."
Ich ging nach dem rechten Ausgang und hörte einen winseln. Aber was sollte ich tun? Man durfte ja bei Tage nicht hinunter.
Auf dem Weißen Berg und an dem großen Graben hinter uns wuchsen wieder die Granatwolken wie die Bäume.
Ich ging zum nächsten Posten vor und sagte ihm, er sollte scharf nach dem linken Hang des Weißen Berges beobachten und sofort melden, wenn er etwas sähe.
„Kann ich nicht ein Fernglas bekommen?" fragte er.
„Ich werde um eins bitten."
Ich ging am Steilhang nach links.
S-krämm! fuhr es dicht über mich weg in den Grund. Hier war der Wald noch ziemlich erhalten.
Rechts war eine Latrine mit schiefgeschossenem Dach. Ich ging dahin und setzte mich. Ich hatte kein Papier mehr außer Briefbogen und sah mich um, ob nicht etwas Geeignetes herumläge. Da sah ich rechts einen nackten Fuß, der aus einem Schutthaufen ragte. Er sah gelblich aus. S-parr! Schr-kräpp!
Ich lief weiter. Der Wald wurde dünner. Hier waren rechts die Löcher im Steilhang mit Decken, Tornistern und Gasmasken. Links neben einem hohen Schutthaufen sah ich einen Kopf mit Stahlhelm. Der Posten sah mich erstaunt an.
„Wo liegt Herr Leutnant?"
„Hier!"
Ich sprang neben ihn in einen engen Gang. Da war eine Treppe. Ramms!
Unten flüsterte einer im Dunkeln: „Sei leise, Herr Leutnant schläft!"
Allmählich gewöhnte ich mich an das Dämmerlicht.
„Sag Herrn Leutnant, wenn er aufwacht, wir hätten gern ein Fernglas, und einer in der Schlucht scheint verwundet zu sein."
Draußen krachte es ununterbrochen. Ich setzte mich, um ein Nachlassen des Feuers abzuwarten. Aber ich hatte keine Ruhe. Ich hatte niemand gesagt, wo ich hingegangen war. Ich rannte hinaus, beim Posten aus dem Gang, und den Hang entlang. Hier war es stiller. Ich ging langsam weiter. An einer Stelle waren ein paar Drähte gespannt. Ich stieg vorsichtig durch und sah am Boden eine Hand liegen. Sie lag schwarz und wie aus Leder ausgestreckt am Boden. Kleine, tiefschwarze Käfer bewegten sich darauf. Ich beugte mich nieder: vielleicht kannte ich die Hand? Nein, sie war mir fremd.
Vor meinem Unterstand traf ich den einen Gewehrführer von Schatz. Er schien mich zu erwarten.
„Kannst du uns nicht die Lage hier mal sagen? Schatz sagt uns nichts. Und wem unterstehen wir hier eigentlich?"
„Wenn es darauf ankommt, mir!"
„Du, besprich doch alles mit uns! Der Schatz hat ja keine Ahnung vom Maschinengewehr. Er ist erst kürzlich aus der Etappe gekommen, und unser Kompanieführer scheint nicht zu wissen, was das für ein Kerl ist."
„Ich will euch gern über alles unterrichten. Aber dazu müsst ihr zu mir kommen. Ich kann euch nicht von Schatz holen, weil er dienstälter ist als ich."
„Ach, dienstälter! Er ist faul und feige. Wir wollen einen ordentlichen Führer haben, das sagen alle!"
Ich legte mich wieder schlafen. Aber bald kamen die beiden Gewehrführer. Ich stand wieder auf. Wenn nur die Franzosen bald angriffen, dass wir abgelöst würden! Das war doch auf die Dauer nicht auszuhalten.
In der Abenddämmerung begannen unsere Geschütze zu bellen. Ich ging mit den Horchposten vor auf die Wiese. Der Mond schien. Die Granattrichter hatten tiefe Schatten. In einem der Trichter lag einer mit Stahlhelm, das Gewehr im Anschlag nach vorn.
„Ist denn schon ein Horchposten vorgeschoben?" flüsterte ich.
„Nein."
Wir gingen nah hin. Der Mann war tot.
Ein Stück weiter saßen zwei in einem Trichter an die Wand gelehnt, auch tot.
Ich legte die Horchposten in Trichter und ging nach der Schlucht. Brand stand neben seinem Loch und zitterte leise am ganzen Körper.
„Was ist denn mit dir?"
„Ich weiß nicht. Es ist schon seit ein paar Tagen so."
„Ist hier jemand verwundet?"
„Im nächsten Loch, zwei. Die sind schon hinter."
Ich kam zu Weickert. Er saß in seinem Loch oben und sah mich mit entsetzten Augen an.
„Werden wir nicht bald abgelöst? Ich habe den ganzen Tag hier gesessen und nicht schlafen können."
„Willst du für den Tag was zu lesen haben?"
„Nein, ich habe die Psalmen. Etwas anderes kann ich nicht lesen."
Ich konnte nichts sagen. Wie hatte sich der verändert! Seine Augäpfel standen weiß im Gesicht.
„Wir müssen Horchposten aufstellen!" sagte ich.
Er stieg aus dem Loch und holte zwei Mann. Wir gingen vorsichtig in der Schlucht vor. Sie hob sich etwas und bog leicht nach rechts. Rechts lag ein unheimlich schwarzer
Wald. Ich legte die Posten in zwei Trichter dicht nebeneinander und ging mit Israel und Weickert noch weiter, um zu sehen, was vor uns war.
Mehrere Leichen lagen am Boden.
Die Schlucht wurde noch düsterer.
Hier lagen noch mehr Tote.
Links standen drei niedrige Holzbuden. Ich schickte Israel hinein und beobachtete nach vorn und den dunklen Wald, der nur wenige Schritte von uns entfernt stand. Es stank ringsum.
„Es sind lauter Leichen drin", flüsterte Israel. „Habt ihr Mut, noch weiter mitzugehen?" „Ja", flüsterte Israel.
Ganz langsam gingen wir, das Gewehr bereit. Vorn lichtete es sich. Rechts stieg es zu einer Kuppe an. Die war mir nicht recht geheuer. Ich sah mich nach Weickert um. Er hatte nur eine Leuchtpistole.
„Geh zurück!" flüsterte ich.
Wir beide zogen uns vorsichtig im linken Waldrand nach der Lichtung. Vor uns hob sich eine Wiese im Mondschein mit einigen weißen Trichtern.
„Dort!" flüsterte Israel und deutete vorsichtig.
Ich sah zwei weiße Streifen vielleicht vierhundert Meter vor uns, die sich rechts nach uns zu bogen. Das mussten die französischen Gräben sein.
„Wenn die so schräg zu uns liegen", sagte ich, „dann werden hier links oben keine Franzosen sein. Wir kehren jetzt in einem Bogen nach links zurück."
Wir stiegen links im Walde empor. Es war ein dichtes Astgewirr. Zweige knackten. Es ließ sich nicht vermeiden.
Wir kamen in Draht.
„Halt! Wer da?" schrie es von oben.
„Patrouille Renn!" schrie ich. Es war mir sehr unheimlich. Ich kannte die Stimme nicht. Aber ich ging ganz langsam weiter.
„Wer ist da?" schrie es von oben. „Renn", schrie ich, „von der dritten Kompanie!" „Dass die uns nur nicht Handgranaten auf den Kopf schmeißen!" flüsterte Israel. Wer ist nur hier so weit vorn? dachte ich. Ein Deutscher
muss es sein. Ich bog die Äste auseinander. Ein steiler Schuttkegel. Oben stand einer, die Handgranate- in der Hand.
„Immer herankommen lassen!" flüsterte eine andere Stimme.
„Herr Feldwebel Trepte!" sagte ich laut
Ein zweiter trat oben an den Rand.
„Ach, Renn? Kommen Sie nur herauf!"
Oben traf ich etwa zwölf Mann. Trepte gab mir die Hand. „Das hätte bald ein Unglück gegeben! Liegen Sie denn da unten?"
„Nein, in dieser Richtung. - Aber wie kommen Herr Feldwebel hierher?"
„Ich werde jetzt jede Nacht hier vorn in den Unterständen liegen als Falle für französische Patrouillen. Es sind nämlich Anzeichen da, dass die manchmal hier herkommen."
Ich sah mich um. Es war wieder eine ehemalige Batteriestellung. Die Geschütze waren noch da, lange und hohe Kanonen.
Wir wendeten uns zurück und traten aus dem hohen Walde auf eine fallende Wiese. Der Mond stand schon tief und machte noch schwärzere Schatten in den großen Trichter am Boden. Da lag wieder ein Toter und stank. Aber die Gegend kam mir merkwürdig unbekannt vor. Hier mussten unsere Horchposten liegen. Wir gingen langsam und sahen in jeden Trichter.
„Da liegt einer unserer Posten", flüsterte ich.
Wir gingen auf den Trichter zu, in dem er lag.
„Vor uns im Walde liegt der Zug Trepte", sagte ich dem Posten.
Er antwortete nicht. Ich beugte mich nieder. Er stank.
Wir fanden die Horchposten etwas weiter rechts.
Ich ging in den Unterstand und zeichnete eine Skizze mit den Ergebnissen unserer Erkundung. Die Schlucht rechts, in der Weickert lag, nannte ich die Leichenschlucht und die Buden weiter vorn die Leichenbuden. Da fiel mir ein, dass Weickerts Leute es vielleicht als eine Vorbedeutung ansehen würden, wenn sie in der Leichenschlucht lägen. Ich strich das Wort aus und nannte sie nach unserem Fink die Finkenschlucht
Weickert kam herein.
„Mir ist was passiert. Als ich von vorn zurückkam, nur mit der Leuchtpistole, und zu den Leichen komme, sehe ich auf einmal, wie sich einer dort erhebt. Ich bleibe stehen. Er schleicht vorsichtig nach dem Wald hinüber und verschwindet nach den Franzosen zu."
„War er bewaffnet?"
„Wie's schien, nicht"
„Weshalb hast du ihm nicht eine Leuchtkugel aufgebrannt?"
„Ich habe schon dran gedacht. Aber ich dachte, der wird nicht allein sein."

 

X.

Beim Morgengrauen begann es leise zu regnen. Wir warfen dem Finken Brotkrumen hin. Eine Amsel war auch gekommen. Ich war traurig. Meine armen Leute in den Löchern ohne Dach über sich! Dazu war es kalt.
Der Tag war bei uns ruhig. Nur auf dem Weißen Berge wuchtete es, der wurde täglich kahler. Das wenige Grün an den Hängen verschwand auch noch.
Ich schlief ein paar Stunden ungestört.
Am folgenden Tage regnete es wieder in der Dämmerung. Dann kam die Sonne, aber auch französische Artillerieflieger. Nach der Batterie im Grunde, in dem wir früher gelegen hatten, schoss es heftig, ebenso in den Grund hinter uns und auf den großen weißen Graben hinten bis zum Weißen Berg.
Ein Läufer kam. „Herr Leutnant lässt fragen, wie es hier steht. Auf dem linken Teil des Regimentsabschnitts liegt schwerer Beschuss. Bei der zehnten Kompanie sind zwei Offiziere verwundet."
„Hier ist es ruhig."
Mich plagten die Läuse. Ich wollte wachen und nahm den Simplicius Simplicissimus vor. Aber ich buchstabierte nur und verstand nichts. Ich dachte an die Leute unten in der Schlucht. In einem Loch waren nur noch zwei, und die mussten immer abwechselnd wachen, und während des Essenholens war gar nur einer da. Und sie klagten nicht einmal.
Das Buch quälte mich. Ich machte es zu und legte mich auf die Pritsche. Ich wollte nicht schlafen.
„Vor Zug Langenohl greifen sie an! Sie sind aber abgeschlagen. Herr Leutnant kommt mit Zug Trepte hierher."
Ich sprang auf.
„Alles fertigmachen und besetzen!" Ich ergriff Gewehr und Gasmaske und stürzte hinaus. Der Weiße Berg war eine Staubwolke. „Alles alarmieren und besetzen!" schrie ich in die Unterstände hinein.
Ich rannte zu den Maschinengewehren. Links aus dem Walde stiegen rote Leuchtkugeln. Vorn war nichts zu sehen. Unsere Artillerie bellte und grunzte hinter den Höhen vor. Wir gingen in die Unterstände. Alle schwatzten durcheinander.
Wieder kam ein Läufer. „Herr Leutnant lässt sagen, dass die Franzosen links in die Gräben eingedrungen, aber im Gegenstoß überall wieder hinausgeworfen sind. Von der Nachbardivision fehlt jede Nachricht. Es soll sofort nach Dunkelwerden Verbindung dahin aufgenommen werden!"
Am Abend machte ich mich mit Israel auf den Weg. Es war leicht neblig, dabei aber hell. Ich wollte den Graben, der von der Nachbarfeldwache nach vorn führte, in Höhe unserer Postierung erkunden. Wir gingen durch die Schlucht und drüben, wo es eben war, durch einen Streifen Birken.
„Von hier ab Vorsicht!" flüsterte ich Israel zu. „Es sollte mich doch wundern, wenn sich nicht die Franzosen heute beim Angriff in dem Graben so weit wie möglich vorgeschoben hätten!"
Wir schlichen Schritt für Schritt, die Augen vorn.
Der Graben lief nur zwanzig Schritt vom Birkenstreifen. Nichts regte sich.
Wir kamen an den Graben und sahen hinein.
An der Grabenwand lehnten Gewehre, deutsche Gewehre, an die zwanzig Stück. Ist eine Feldwache in der Nähe? Weshalb stellt sie dann ihre Gewehre hierher?
Ich zog Israel etwas abseits.
„Das ist mir verdächtig. - Ich kann allerdings nicht sagen, warum. - Geh du hier in den Birken entlang. Ich gehe am Graben."
„Ich gehe mit dir", flüsterte er. Ich fühlte mich unsicher werden.
„Nein", sagte ich aber, „du nützt mir hier nichts. Geh drüben!"
Er gehorchte.
Ich schlich am Graben entlang und wie vor dauerndem Schrecken. Wenn mich mein Gefühl warnt? Nein, das ist ja jämmerlich.
Es war zu neblig, um den weißen Graben hinten zu sehen. Der musste aber in unserer Hand sein; sonst hätte Lamm etwas erfahren und es mir mitgeteilt.
Der Birkenstreifen war zu Ende. Israel kam zu mir herüber. Er schien auch unruhig zu sein.
Wir näherten uns der Stelle, wo die Feldwache liegen musste. Dort war niemand. Nur ein Tornister lag im Graben und einige Handgranaten.
Wir kamen an die Stelle, wo die Feldwache vorher gelegen hatte. Dort war gar nichts.
Wir kamen an den weißen Graben.
„Wir gehen erst mal zum nächsten Posten unseres Regiments."
Der Posten dort sagte, die Nachbardivision läge nach wie vor in dem Graben. Nicht fünfzig Meter von hier würden wir den nächsten Zugführer treffen.
Wir gingen im Graben dahin.
Ein Vizefeldwebel mit zwei Mann begegnete uns.
„Als Verbindungspatrouille!" meldete ich. „Wissen Herr Feldwebel, wo die Feldwache jetzt steht, die hier links vorn lag?"
Er sah mich misstrauisch an. „Von wo kommen Sie?"
„Von dort, wo sie früher stand."
„Und ist sie nicht mehr da?" fragte er bestürzt.
„Nein, wir haben nur Gewehre gefunden."
„Haben Sie Zeit, mir das zu zeigen?"
„Jawohl, Herr Feldwebel."
Er ging hastig voraus. Wir kamen zu der Stelle, wo der Tornister und die Handgranaten lagen. Er sah stumm umher.
„Wo sind die Gewehre?" „Weiter vorn, Herr Feldwebel."
Er ging finster vorwärts. An den Gewehren blieb er stehen und wendete sich plötzlich an seine Leute: „Nehmen Sie soviel Gewehre, wie jeder tragen kann! Ich komme nach!"
Er betrachtete stumm, wie sie mit den Gewehren abzogen. „Wohin gehen Sie jetzt?" fragte er. „Dorthin." Ich zeigte nach links vorn. „Was wollen Sie denn dort?" „Dort liegt mein Zug."
„Ach, Sie sind Zugführer? - Dann kann man ja ein offenes Wort reden. - Ist der Mann sicher?" Er sah misstrauisch auf Israel.
„Unbedingt sicher, Herr Feldwebel." Ich verstand den Sinn der Frage nicht.
Er stieg aus dem Graben und kam ein Stück mit uns.
„Sie müssen mir mein Misstrauen entschuldigen. Ich bin Ostpreuße. Aber meine Leute sind meist Elsässer. Wissen Sie, was die Gewehre bedeuten? Die Hunde sind übergelaufen!" Er spuckte aus. „Das kann einer gar nicht verstehen, der's nicht kennt, wenn man seinen eigenen Leuten nicht trauen kann! Die beiden, die ich mit den Gewehren fortgeschickt habe, sind auch von der Bande! - Ich würde am liebsten auch überlaufen! - Aber nicht zu den Franzosen, sondern zu Ihnen. - Wenn ich jetzt zu meinem Kompanieführer komme, muss ich sagen: Mein Zug ist fort! - Wohin denn? Ach, Kotz!" Er spuckte wieder, hatte aber nichts mehr zum Spucken. „Gott erhalte Deutschland!" Er wandte sich um und ging mit großen Schritten zurück.
Seit der Dämmerung schoss unsere Artillerie lebhaft. Der Wind stand von vorn. Wir gingen diesmal von hinten in die Schlucht. Es roch immer stärker.
„Das muss doch unser eigenes Gas sein?" meinte Israel.
Weickert und seine Leute traf ich mit aufgesetzten Gasmasken, wie die Affen anzusehen.
Oben in der Batterie roch es nur wenig.
Lamm wartete schon auf mich. Meine Meldung von den Überläufern schien ihn zu beunruhigen.
„Ich habe dir auch eine unangenehme Mitteilung zu machen. Gegen Morgen soll Ersatz hier vorn eintreffen."
„Weshalb ist das unangenehm?"
„Nu, erstens ist es recht misslich, in einer Trichterstellung Ersatz einzureihen. Denke dir nur, die Leute kommen heraus, hören in der Dunkelheit nur ein paar Stimmen und werden in ein Loch gestopft. Und ich gar - sehe sie nicht und höre sie nicht. Da ist doch gar kein Verhältnis da. -Und zweitens: wenn wir in absehbarer Zeit abgelöst würden, würde man mit der Einreihung warten, bis wir hinter kommen. Verstehst du's nun?"
Ich sagte niemand davon, auch nicht den Gruppenführern.
Unsere Artillerie hatte aufgehört zu schießen. Trotzdem war der Gasgeruch noch recht stark.
Der Zug Trepte schickte einen Mann: vor einer halben Stunde hätte eine französische Patrouille Handgranaten in die Batterie vor uns geworfen.
Die Essenholer kamen ohne Wolf. Der war unterwegs leicht verwundet worden.
„Wer wird denn jetzt zweiter Läufer?" fragte Israel.
„Ich will mir's überlegen."
Ich wollte vielleicht einen vom Ersatz nehmen.
Es wurde allmählich hell.
Ein Läufer kam. „Du möchtest mal zu Herrn Leutnant kommen."
Unterwegs sagte er mir: „Der Ersatz ist da. Das ist aber 'ne Bande! Ein Drittel scheint sich unterwegs verdrückt zu haben. Und die übrigen!"
Ich traf Lamm vor seinem Unterstand mit einem ältlichen Vizefeldwebel, der die Lippen hängen ließ, und etwa zwanzig Mann.
„Der Ersatz ist jetzt erst gekommen", sagte Lamm übellaunig. „Jetzt kann ich niemand mehr vor in die Löcher schicken. Diese hier habe ich nicht in den Unterständen hier unterbringen können. Wie viel haben bei dir noch Platz?"
Jetzt übernimmt der Vizefeldwebel meinen Zug, dachte ich. Und der Mensch kann doch nichts. Das sieht man ja.
„Sie müssen eben bei mir unterkommen." Ich hatte keine Kraft mehr zu fragen, wie die neue Zugeinteilung würde.
Lamm ermunterte sich. „Dann bekommst du auch alle zu deinem Zuge. Der Vizefeldwebel Sandkorn wird dir nur zur Verpflegung und Unterbringung zugeteilt. Ich nehme in
Aussicht, ihn später an anderer Stelle zu verwenden, wenn er einmal die Verhältnisse kennen gelernt hat, vielleicht als Grabenfeldwebel."
Ich sah Lamm an und fühlte mich klein.
„Darf ich gleich hier einteilen?" lachte ich. „Bei mir geht's nicht gut."
„Mach's, wie du denkst", lächelte Lamm. Er hatte wohl gemerkt, was in mir vorgegangen war.
„Ist hier jemand am leichten oder schweren Maschinengewehr ausgebildet?"
Drei traten vor.
„War jemand sonst noch in einer besonderen Stellung?"
Da trat ein Mensch vor, klein und übermäßig breit, und sagte mit ganz langsamer, weinerlicher Stimme: „Gefreiter Funke, ich war zwei Jahre Ordonnanz beim Kompanieführer." Dazu strahlte er mich aus einem breiten, schmutzigen Gesicht an, und ein Tropfen hing ihm von der Nase. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg. Ich wollte nicht, aber ich musste lachen, und alle lachten ringsum. Er lächelte noch mehr. Er schien unser Lachen nur als Freundlichkeit zu empfinden. Ich überlegte: Er ist mindestens vierzig Jahre und muss doch auch tüchtig sein, dass er so lange beim Kompanieführer war.
„Sie werden Läufer bei mir."

 

XI.

Nachmittags saß ich mit Israel und Hartenstein im Ausgang nach dem Weißen Berg. Nur in der Ferne schoss es irgendwo. Vielleicht waren das die letzten Kämpfe dieser Offensive gewesen?
Wir warfen unsern Vögeln Brocken hin. Es war trocken und staubig. Die jungen Birkenblättchen sahen grau aus. Über den Weißen Berg kam eine große Wolke gesegelt wie ein grauer Sonnenschirm und ließ dicke Tropfen in den Staub fallen.
Hartenstein beobachtete das alles schweigend mit ein paar dunklen Falten über der Nase. Israel zog die Stirn quer in Falten. „Die neuen Leute haben dich gern, Renn."
„Sie kennen mich noch gar nicht."
„Doch, weil du den Vater Funke zu deinem Läufer gemacht hast." Jemand kam die Treppe herauf.
„Guten Tag, Renn." Lamm setzte sich zu uns. Er sah blass, aber munter aus.
„Du musst mir mal genau zeigen, wie es auf dem Weißen Berg steht. Ich hatte nämlich gemeldet, die Franzosen säßen oben. Diese Meldung ist an die Division dort gegangen, und die schreibt, meine Meldung stimme nicht; sie hätten den Berg ganz."
„Das ist nicht wahr! Siehst du den Graben zwischen den beiden Kuppen? - Es ist nur eine flache Rinne. - Das ist der vorderste französische Graben."
„Ja, so hab ich's auch beobachtet."
„Wie können sie denn da sagen, sie hätten den Berg ganz? Das ist doch einfach gelogen. Unsere Artillerie schießt doch auch immer auf die linke Kuppe."
Lamm sah nachdenklich hinüber.
„Du hast wohl nie darüber nachgedacht, wie so eine Meldung zustande kommt? Hinten bei den höheren Stäben wissen sie doch nicht, wie's vorn steht."
„Schicken sie denn niemand vor?"
„Hast du schon jemand bei uns gesehen? - Und was würde es ihnen auch nützen? Denke dir doch, hier käme einer her. Es wären für ihn alles nur Waldstücke und Gründe. Und wenn wir ihm etwas nicht zeigen wollten, dann würden wir sagen: Dort ist's gefährlich, oder: Dort kann man bei Tage nicht hin."
„Aber die Truppen müssen doch richtig melden, wie's vorn steht!"
„Das tun sie aber nicht."
„Das versteh ich nicht."
„Denke dir doch mal, die Truppen dort oben hätten gemeldet, sie hätten nur die eine Kuppe. Sofort würde von hinten befohlen, die andere auch zu nehmen. Das wäre aber Wahnsinn; weil sich dort niemand halten kann, weil die französische Artillerie in die Gräben hineinschießen kann wie in die Fleischmulden."
„Das will ich nicht verstehen!"
„Es wird dir nichts nützen. Es ist doch so." „War das 1914 auch schon so?"
„Sicher nicht. Damals war noch keine Feindschaft zwischen Front und hinten."
„Aber wer ist schuld an der Feindschaft?"
„Beide. Die hinten verstanden die Truppe nicht mehr, als es zum Stellungskrieg kam, und die Truppe glaubte alles besser zu wissen und wollte nicht mehr gehorchen, weil sie es ist, die die Opfer bringt."
Er ging fort.
Diesen Tag und den folgenden war ich düsterer Stimmung. Ich wollte nicht sehen, was er gesagt hatte. Ich fürchtete mich, einzugestehen, dass das Auflösungszeichen waren.

 

XII.

Es schoss wenig. Aber ich hatte wieder Verluste unten in der Schlucht. Das leichte Maschinengewehr dort bekam einen Splitter in den Mantel, so dass das Wasser ausfloss. Es musste zur Reparatur hintergeschickt werden. Weickert war abgemagert und sah aus wie ein Schwindsüchtiger. Brand zitterte immerfort und hatte ganz helle Augen bekommen, aber er sagte nichts. Ich hatte den Jungen sehr lieb gewonnen.
Eines Nachts kam Lamm und fragte schroff: „Wo liegt Brand?"
„Unten in der Schlucht." „Führe mich hin!"
Der Mond schien hell. Ich ging voraus. Was hatte er nur mit Brand? Was sollte ich Lamm sagen, wenn er etwas gegen ihn hätte? Lamm schien wütend zu sein.
„Hier!" flüsterte ich.
Man sah nur einen Stahlhelm im Astgewirr. „Sind Sie Brand?"
„Nein, Herr Leutnant. - Emil, komm mal rauf! Herr Leutnant will dich sprechen."
Ein Rumoren unten. Ein bloßer Kopf tauchte aus den Ästen auf und band sich hastig die Halsbinde um.
„Im Namen Seiner Majestät des Kaisers hat Ihnen der
Kommandierende General das Eiserne Kreuz verliehen. Sie haben es redlich verdient."
Lamm reichte seine Hand hinunter. Brand ergriff sie zaghaft und ließ sie wieder los.
„Nehmen Sie nur auch das Eiserne Kreuz", lachte Lamm. Brand griff danach.
Die andern im Loch wünschten ihm ungestüm Glück.
„Ruhe! Ruhe!" lachte Lamm. „Ihr weckt ja die Franzosen drüben!"
Lamm nahm mich beiseite. „Jetzt zum nächsten. - Wie ich mit meinem Spruch anfing, mitten in die Halsbinde hinein, da dachte ich, ich hätte was sehr Dummes gemacht."
„Das vergessen dir die Leute nie, dass du ihnen das Eiserne Kreuz hier ins Loch gebracht hast!"
Am Morgen war es neblig. Ich ging am Hang entlang.
In meiner Batterie sah ich Sendig auf seiner Treppe sitzen und einen Brief schreiben.
„Du!" sagte ich und setzte mich auf die oberste Stufe. „Du musst heute Abend den ..."
Kramm!
Es gellte mir in den Ohren. Holzsplitter flogen umher. Die Granate war dicht über meinem Kopf detoniert. Sendig polterte hinunter. Ich rutschte ihm nach. Er sah nach mir herauf.
„Du musst heute Abend ..."
„Höre mal", unterbrach mich Sendig, „weißt du eigentlich, dass du für unverwundbar giltst? Jetzt glaub ich's wirklich auch. Hat es dir wirklich nichts getan?"
„Nein", ich sah an mir hinunter. „Doch, den Schaft meines Gewehres hat es aufgeschlitzt."
Sendig schüttelte den Kopf. „Das ist unerhört! Das ist unerhört!"
„Jetzt lass mich mal endlich weiterreden! Also, du löst heute Abend den Weickert und sein Maschinengewehr ab. Du hast's besser, als er's gehabt hat, denn jetzt ist einigermaßen warmes Wetter, und die Trichter sind eingerichtet."
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich mach's gern."
In meinem Unterstand legte ich mich aufs Lager. Von der Granatdetonation sauste der Unterstand um mich wie eine Muschel. Ich gähnte, und dabei sauste es noch mehr. Ich lag und wollte schlafen. Die Läuse plagten mich. Ich empfand es stärker als sonst. Jetzt geht es auch mit meiner Kraft zu Ende. Drei Wochen hier vorn, in der Nacht umhergelaufen und am Morgen stündlich aufgestört.
Ich lag überwach. Zu Mittag stand ich auf, um etwas zu essen. Aber ich hatte keinen Hunger.
„Was ist denn mit deinem Gewehr?" fragte Israel. „Ach nichts! Wir müssen ein neues suchen. Draußen liegen noch welche herum."
„Aber wie ist denn das gekommen?" „Ach, lass mich doch!" Ich legte mich wieder auf das Lager. Funke hatte sich eine Zigarre angebrannt - er pflegte sie am Mundstück zu zerkauen - und erzählte: „Mein Kompanieführer damals sagte immer: Man soll sich nicht unnötig in Gefahr begeben. Aber wenn's drauf ankam, da war er da, und da konnt's schießen, wie's wollte. Das war eben ein feiner Mann. Und wie er mit unsereinem umgehen konnte! Nu, ich bin doch Tischler, und das war 'n vornehmer Mann - allerdings nicht von Adel -, aber 'n vornehmer Mann ..."
Ich hörte das alles, und das langweilte mich quälend, und doch musste ich ihn gern haben wegen seiner Herzensgüte. Schließlich schlief ich halb ein.
Von oben schrie es: „Die Franzosen stellen sich am Weißen Berg bereit!"
Ich fuhr in die Höhe und hatte einen heftigen Schmerz auf der Brust.
„Alles bereitmachen, aber unten bleiben! Israel, zu Herrn Leutnant, melden!"
Ich hängte mir die Gasmaske um und stolperte die Treppe hinauf, die zum Weißen Berg führte. Es schmerzte mich zu atmen.
Ich sah nichts am Weißen Berg als Dunst, durch den die Sonne blendete.
S-kramm! S-kramm! fuhr es über uns hinweg in den Grund. Einzelne Gewehrschüsse drüben. Maschinengewehre setzten ein und ratterten. Mir schien es, als ob sie hierher schössen. Auf dem deutschen Abhang des Berges stiegen ununterbrochen Granatwolken hoch. Es peitschte so von den
Maschinengewehren, dass man außer ihnen nichts mehr hören konnte.
Ich musste mir bei dem Schrecken des Alarms etwas an der Brust gedehnt haben. Jemand kam gerannt. Israel reichte mir das Kompaniebefehlsbuch.
„Komm herein!" schrie ich. „Was läufst du jetzt mit dem Befehlsbuch herum!"
„Ach, das bisschen Schießen!" lachte er.
Ramm! Ramm! in die Schlucht.
Zwei kamen gerannt. Lamm mit einem Läufer fuhr in unsere Treppe.
„Was gibt's hier?" schrie er mir ins Ohr.
„Nichts bei uns!" brüllte ich zurück.
Das Maschinengewehrfeuer ließ allmählich nach. Schwere Geschosse rauschten über uns weg nach dem weißen Graben hinter uns und der Höhe darüber. Unsere Artillerie bellte und spuckte.
Dann ließ auch das nach, und es wurde sehr still. Gegen Abend kam Sendig.
„Können nicht die andern Gruppen heute für uns das Essen holen, damit wir gleich mit allen Leuten in der Schlucht ablösen können?"
Ich bestimmte, dass Hartenstein mehr Leute hinterschickte, und ließ auch Funke und Israel hinuntergehen.
Ich ging, sobald es dunkel war, hinaus und in die Schlucht. Weickert kam mir aufgeregt entgegen.
„Ich habe wieder drei Mann verloren, darunter zwei tot! Ich kann nicht mehr alle Löcher besetzen!"
„Sendig löst dich ab. Da kommen schon die ersten Leute."
Vom jenseitigen Schluchthang kam jemand herunter. Wer war das? Ich ging ihm entgegen. Es war ein Leutnant.
Ich meldete. Er grüßte höflich.
„Ich bin der Führer der Kompanie, die rechts an Sie anschließt. Wir haben gestern die Stellung bezogen. Ihre Kompanie hat gemeldet, dass wir zu weit hinten lägen. Deshalb werden wir uns hier vorn neben Ihnen eingraben. Ich hoffe auf gute Nachbarschaft und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zeigten, wie wir's am besten machen; denn Sie kennen die Verhältnisse besser."
Wir stiegen den jenseitigen Hang hinauf. Oben lagen seine Leute wie auf dem Exerzierplatz ausgeschwärmt, das Gewehr im Anschlag. Um Gottes willen! dachte ich. Die sind wohl noch nie im Krieg gewesen!
Ich zeigte ihm, wie wir die Trichter einrichten, nicht in gerader Linie, sondern möglichst unregelmäßig.
„Das darf ich nicht", sagte er. „Mein Bataillonskommandeur hat mir strengste Anweisung gegeben, wie ich es machen soll."
Ich war damit auch zufrieden; denn in diesem Regiment schienen energische Führer zu sein. Man ließ mir vielleicht etwas zu viel Freiheit.
Lamm kam gegangen und begrüßte den Leutnant. „Es ist das erste Mal, dass die Nachbardivision Verbindung mit uns aufnimmt!"
„Wie ist das möglich?" fragte der Leutnant.
„Es ist so."
„Sie sollen über uns nicht zu klagen haben." Wir gingen zurück.
„Ich habe dir etwas mitzuteilen", sagte Lamm ernst. Habe ich wieder etwas versäumt? dachte ich. Er blieb stehen. Es war dunkel.
„Du bist wegen Auszeichnung vorm Feinde zum Vizefeldwebel befördert. - Hier habe ich dir mein Portepee mitgebracht und ein paar Knöpfe - es sind freilich nur Gefreitenknöpfe."
Ich wollte ihm danken - aber war denn das nicht zuviel? Ich hatte doch die Stellung hier, die wichtigste in der ganzen Division!
„Freust du dich denn nicht?"
„Doch, doch, aber - ihr macht mich nur eingebildet."
Er lachte und wollte etwas sagen. Aber er lachte immer mehr und gab mir nur das Portepee in die Hand und ging voraus.
An meinem Unterstand trafen wir Hartenstein.
„Hier, gratulieren Sie dem Renn zum Vizefeldwebel! Hat er's verdient?"
„Jawohl, Herr Leutnant, er hat's verdient", sagte er gerade,
Mich peinigte das. Aber es war auch eine Freude dabei, dass er nicht neidisch war; denn ich hielt Hartenstein für tüchtiger als mich.

 

XIII.

Funke kam mit Feldkesseln. „Es hat Verluste gegeben, vier Mann vom Zuge. Israel kommt gleich, der kann's besser erzählen."
Israel kam aufgeregt herunter und setzte den Wassertornister und einen Sack ab. Seine Rockschöße und Taschen waren voll Blut.
„Dass die so wenig Kameradschaft haben! - Wie wir bei den Küchen standen, da kam eine Gruppe Granaten in die Leute der vierten Kompanie. Die fuhren mitten hinein. Da kommen wieder Granaten, und eine geht in den Küchenkessel der Vierten und spritzt die Verwundeten mit heißem Essen voll. Die schreien. Da reißt die ganze Bande aus, statt zu helfen! Ich habe nach ihnen gerufen, sie sollten mir helfen, aber niemand kam!"
„Ja", sagte Funke, „Israel war der einzige, der sich um die Verwundeten gekümmert hat."
„Einem hatte es beide Beine abgeschossen, und es hatte ihn dazu über und über mit Suppe beschüttet. Den hab ich allein auf einen Wagen laden müssen, und ich wusste nicht, wie ich ihn anpacken sollte, überall tat's ihm weh."
Sie redeten durcheinander. Funke sagte immer wieder: „Ja, Israel ist der einzige, der weiß, was Kameradschaft ist."
Nachdem wir gegessen hatten, sprachen die andern wieder ruhig. Nur Israel war von einer unerklärlichen Aufregung und Unruhe.
„Wenn mir mal was geschieht - mir hilft niemand!" sagte er.
„Ich helfe dir", sagte Funke.
„Du kannst mir nicht helfen! Das war mein letzter Abend! Mir hilft niemand mehr!"
„Du lebst noch lange", sagte Funke. „Der liebe Gott vergisst die guten Menschen nicht."
„Ach! Ich weiß es doch: das war mein letzter Abend! -Und ich möchte noch nicht sterben!"
Wenn sie nur nicht jetzt merken, dass ich Vizefeldwebel geworden bin! Ich wusste nicht, warum mir der Gedanke so schrecklich war. Ich zog Hartenstein am Ärmel nach der Treppe.
Es war hell draußen. Die Amsel sang in der Birke und der Fink nicht weit davon. Hartenstein warf Brotkrumen hinaus. „Sage ihnen nicht, dass ich Vizefeldwebel geworden bin!" „Weshalb denn nicht?"
„Bitte sag's ihnen nicht! Ich hab so ein Gefühl."
Nach einer Weile sagte er: „Das muss aber schrecklich gewesen sein beim Essenholen! Der Israel erschrickt doch nicht so leicht - und er ist ganz außer sich."
Ich sah hinüber nach dem Weißen Berg, der sonderbar still dalag. Es war sehr schön.
„Irgendwo muss etwas blühen", sagte Hartenstein. „Es ist so ein Duft da."
Vor uns lagen nackte Kreidesteine, und die Birke war zerzaust. Sie hatte noch einmal ausgeschlagen, dann musste sie eingehen. - Aber ein Duft war da von irgendwelchen Blüten.
Wir legten uns schlafen. Israel schlief schon. Nur Funke saß da, in sich versunken, und rauchte eine Zigarre.
„Befehl vom Bataillon! Alles soll die Stellung besetzen! Die Franzosen stellen sich zum Angriff bereit!" schrie es von oben.
Wir ergriffen Gasmasken, Gewehre, Helme und stürzten hinaus. Im Nu waren die Geschützstände dicht besetzt. Die Maschinengewehre waren bereit.
Die Sonne schien. Es war still. Nur ganz in der Ferne war ein leises Wummern. Nirgends war auch nur eine Bewegung zu sehen. Ich schickte Funke zu Lamm, ihm zu melden, wir hätten besetzt, aber es wäre ganz still, auch kein Anzeichen eines Angriffes. Unterdessen ordnete ich an, die Leute sollten niederknien, damit man nicht vom Weißen Berg aus die vielen Menschen sähe und wir Artilleriefeuer herbekämen.
Es blieb still. Da kam Funke gerannt, so schnell, wie ihn seine kurzen Beine trugen. „Israel ist tot!"
„Wo? - Hat es denn geschossen?"
„Am Steilhang im Walde liegt er."
„Und was hat der Herr Leutnant gesagt?"
„Wir sollten wieder in die Unterstände gehen."
Ich ließ meine Leute wegtreten und lief am Steilhang entlang. Von weitem sah ich ihn liegen, ausgestreckt auf dem Rücken, unter einer Fichte. Ich kniete neben ihm nieder. Er hatte das Kompaniebefehlsbuch in der Hand, das hatte er zu Lamm zurückbringen wollen. Ich hatte es ihm nicht gesagt. Vorn auf der Stirn hatte er ein wenig Blut, und etwas Hirn war ihm auf den Rock gespritzt.
Ich nahm das Befehlsbuch und trug es zu Lamm.
„Dieser Alarm war doch unglaublich!" schimpfte er. „Ich habe dem Bataillon eine gesalzene Meldung geschrieben, wir wüssten hier vorn besser, ob ein Angriff bevorsteht, als sie hinten! - Wir werden gegen Morgen durch die sechste Kompanie abgelöst. Die Küche wird uns halbwegs zum Lager treffen."
Ich ging zurück, wieder an Israel vorbei, und in den Unterstand. Funke kaute an einem Zigarrenstummel und klagte um Israel: „Das war der beste Mensch, den ich gesehen habe. Und wie er gewusst hat, dass er sterben müsste! Das ist auch nur bei guten Menschen so."
Hartenstein saß vornübergebeugt und zeichnete mit dem Finger auf dem Boden, wo nichts zu zeichnen war. Ich legte mich auf mein Lager und weinte bitterlich.

 

XIV.

Gegen Abend begruben wir den Israel am Steilhang, wo er gefallen war; denn dort war es schön. Wir wollten hinten ein Kreuz für ihn machen mit seinem Namen und seinem Todestag.
Gegen Morgen kam die sechste Kompanie.
Ich schickte meine Leute sofort weg, damit sie noch vor Hellwerden aus dem gefährlichsten Bereich kämen, und blieb noch mit Funke da.
Mich löste ein energischer Vizefeldwebel ab. Ich sagte ihm, er sollte recht vorsichtig sein, dass er kein Artilleriefeuer herlenkte.
„Ach was!" rief er. „Wir haben keine Angst!"
Als wir aufbrachen, dämmerte es schon ein wenig. Wir gingen am Steilhang entlang und kamen dann in einen Graben, der durch Wald führte und vor einer großen Wiese aufhörte. Die war ganz grün. Das war sehr merkwürdig, dass sie nur grün war und gar nicht weiß.
Es hatte stark getaut. Wir kamen in die Trümmer eines Ortes. Wir waren durstig geworden und traten in ein zerfallenes Gehöft, dessen Wände innen rosa angemalt waren. Flieder blühte am Brunnen. Die Sonne blitzte mit den ersten Strahlen über den Horizont weg. Das klare Wasser glitzerte im Becher. Ich glaubte nie dergleichen gesehen zu haben.
Dann wanderten wir weiter. Funke erzählte von seinen Kindern. Ich hörte es, aber nur den Ton seiner Rede. Ich war merkwürdig leicht.
Nach einer Zeit trafen wir die Kompanie am Straßenrande sitzen. Wie wenig das waren! Sie waren schmutzig und unrasiert, aber sie waren heiter.
An der Straße lagen tote Pferde und zerschossene Wagen. Ein wenig abseits wurde etwas gebaut.
Hinter einer Höhe hielt unsere Feldküche. Wir empfingen Essen, legten uns auf den Bauch an die Erde, aßen und ließen uns von der Sonne bescheinen.
Lamm verkündete, das wäre erst das gestrige Mittagessen, heute gegen Abend würde noch mal Essen ausgegeben werden.
Sie grunzten vor Freude.
Wir marschierten durch einen großen Wald und kamen nach einigen Stunden recht müde ins Lager.
Zwischen Fichten wuchsen weiches Gras und wilde Rosen. Wir schlugen Zelte auf und schliefen bis in den Nachmittag. Da war das zweite Mittagessen fertig. Dann spielte die Regimentsmusik nicht weit davon, und wir liefen hinüber. Aber als die Sonne unterging, legten wir uns wieder in die Zelte und schliefen bis zum Morgen. Der war heiter. Wir holten uns Wasser und wuschen und rasierten uns. Lamm war am Morgen ausgeritten und kam mit einem Zweig Kirschblüten auf dem Pferde zurück und reichte mir den Zweig.
„Was soll ich denn damit?" fragte ich.
„Ich habe doch den ganzen Baum gesehen, an dem er war", lachte er.
Ich war verlegen, ja ablehnend gegen seine Vergnügtheit. Weickert war auch schon wieder munter. Ich nahm meine Decke und ging weit abseits an einen Hang, zog mich aus und legte mich in die Sonne. Ich wollte niemand sehen.

 

XV.

Am nächsten Tage ging es wieder vor. Als ich in meine Batterie kam, war ich erstaunt, wie schrecklich öde es da aussah. Was wir Wiese nannten, war ein Trichtersieb mit einzelnen Grasbüscheln. Und es roch sehr nach Granaten.
Der erste Tag verging ruhig.
Aber ich merkte jetzt, wie angegriffen wir waren. Gestern hatte Weickert so frisch ausgesehen, heute war er wieder grau und verfallen. Am Abend hatten zwei auf einmal hohes Fieber und mussten sofort hintergeschickt werden.
In der Nacht lief ich umher. Meine Leute waren unaufmerksam. Die drei Tage Ruhe schienen sie zerstreut zu haben, und sie wussten wieder, dass es ein anderes Leben auch für sie gab, als Posten im Trichter zu sein.
Um Mitternacht plagte mich der Hunger. Ich hatte aber nichts mehr zu essen und schweifte draußen umher, nur weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Der Mond ging auf. Hinten im Grund hing Nebel. Der Weiße Berg drang mit der Glatze mystisch durch die Finsternis. Alle Dinge waren seltsam klar. Ich ging zu Israels Grab, auf dem jetzt das Holzkreuz stand. Die Morgenkälte fasste mich und machte mich schauern.
Als das Essen kam, widerstand es mir. Ich aß nur mit Ekel einen Löffel. Und jetzt musste man noch zwei Stunden wachen!
Ich zündete mir eine Zigarette an. Ich konnte nicht rauchen. - Vielleicht hatte ich nur einen verstimmten Magen. Wir hatten Schnaps bekommen. Ich goss etwas in meinen Feldbecher und trank. Aber es stieg mir hoch, und ich lief eilends hinaus, in der Meinung, ich würde mich übergeben.
„Der Fink ist heute nicht gekommen", sagte Hartenstein. „Nur die Amsel."
Schließlich legte ich mich schlafen. Ich schlief aber nicht richtig; ich hörte alles, und ich verflocht es gequält in andere Vorstellungen.
Am Nachmittag schrie es herunter: „Die Franzosen greifen auf dem Weißen Berg an!"
Ich stürzte hinauf. Am französischen Hang sah ich welche hinaufklimmen und in Vertiefungen verschwinden. - Man konnte dort nicht mehr zwischen Gräben und Trichtern unterscheiden. - Auf dem deutschen Hang wuchsen die Granatwolken wie Gebüsche. Rote Leuchtkugeln platzten in der Luft. Unsere Artillerie begann zu bellen und weit hinten dumpfe Abschüsse. Das deutsche Sperrfeuer war ungewöhnlich heftig. Auf den Kuppen tauchten für Augenblicke Gestalten auf und verschwanden wieder - man wusste nicht, ob Deutsche oder Franzosen.
Da kamen rechts Infanteriekolonnen im Laufschritt den Berg hinan. Ich sah sie dunkel gegen den hellen Himmel. Ein einzelner Mann schien Anweisungen zu geben. Er war größer und stärker als die andern. Die Kolonnen zerteilten sich. Ich sah nur noch den Offizier stehen. Auf einmal tauchte auf der rechten Kuppe von rechts her ein Mann auf und einer von links, beide, wie es schien, mit gefälltem Gewehr. Und beide gingen nach der deutschen Seite weg.
„Hast du das gesehen?" fragte Hartenstein.
„Ja, das war ein Nahkampf. Den hätte ich mir allerdings auch anders vorgestellt. Er sah recht mager aus."
Einzelne rannten von rechts über die erste Kuppe weg. Der Zustand der letzten Zeit war wiederhergestellt. - Weshalb bewegte man nur immer wieder die Waage? Nur zum Zermürben?
In dieser Nacht lief ich wieder umher. Ein Läufer kam, ich sollte zu Lamm kommen.
Er saß bei einer Kerze vor einem schmalen Wandtisch und schrieb.
„Setz dich mal hier neben mich auf die Bank. Ich möchte mit dir durchsprechen, wer zur Eingabe zu Auszeichnungen in Frage kommt. Ich bin in der Kompanie so fremd geworden, dass ich kaum einen mehr kenne. Jetzt, wo es etwas stiller ist, hat sich das Meldungschreiben wieder so vermehrt, dass ich in der letzten Nacht nur gerade einmal zu Langenohl vorgekommen bin. Ich muss einfach meinen Zugführern vertrauen, dass sie ihre Pflicht tun."
Er sprach müde.
Gegen Morgen, als das Essen kam, war mir sehr übel. Ich zwang mich, wenigstens etwas zu essen. Um drei Uhr morgens zu Mittag zu essen, wenn man ein Frühfieber hat! Noch zwei Stunden zu wachen, schien mir unmöglich.
Ich setzte mich zu Hartenstein auf die Treppe. Wir saßen stumm nebeneinander. Er warf keine Krumen hinaus; es war kein Vogel da und sang.
Er atmete nur. Sonst regte sich nichts an ihm. Wir schwiegen, und das Schweigen dehnte sich und wurde eine entsetzliche Leere. Was sollte man nur sagen? Ich hatte nichts mehr.
Hartenstein stand auf. „Jetzt ist es aus", und ging hinunter. Aber das war es nicht gewesen. Er hatte etwas gesagt, und das war gut von ihm. Ich sah nach der Uhr. Wir mussten noch eine Stunde wachen. Aber ich stand auf und legte mich schlafen. Und doch war ich Führer und hätte ein Beispiel geben müssen.
Ich schlief nicht ruhig. Draußen begann es zu schießen, ganz in die Nähe. Ich hörte es und ließ es geschehen. Der Unterstand schwankte einmal. Sand rieselte durch die Decke. Funke sprach mit einem, der meldete, dass der Posten links verwundet wäre.
Nach einer Weile kam Hartenstein. „Jetzt schießt es zu Lamm. Ein französischer Aufklärungsflieger ist oben."
Ru-rumm! kam wieder ein Schuss.
Kra-ramm!
Ich rollte mich nach vorn.
Etwas streifte mich.
Ich fuhr nach dem Ausgang.
Hinter mir war ein menschliches Geräusch.
Hartenstein sah mich entsetzt an. Das war schon draußen.
Einer rannte nach der Schlucht hinunter.
Funke lief ihm nach und kehrte zurück.
„Der ist verrückt geworden", sagte Hartenstein und lief nach links fort.
Ich ging wieder in den Unterstand. Ich weiß nicht, warum; ich ging ganz langsam, nahm meine Gasmaske, das Gewehr und den Helm. Die Decke war hinten eingedrückt. Ein Kopf sah mich hintenüber aus dem Schutt an. Der war tot. Ein Feldkessel lag umgefallen auf einer Schlafdecke, mit Essen darübergeschüttet.
Ich ging hinauf.
Ra-ramm! links.
Hartenstein und Funke waren nicht mehr hier. Kramm!
Ich bekam Dreck ins Gesicht und fing an zu rennen am Steilhang entlang.
Israels Grab war ein Trichter geworden, an dessen Rand Stücke des Holzkreuzes halb verschüttet lagen.
Meine Hast wurde immer größer. Ich hatte etwas versäumt und konnte mich nicht erinnern, was.
Ich rannte bei Lamm die Treppe hinunter. Ich sah nur seine Stiefel auf der Pritsche und eine Wolldecke darüber.
„Was gibt's?" fragte er.
Ich setzte mich auf die Holzbank.
„Herr Leutnant!" sagte ich. „Wir sind verschüttet."
„Bist du verwundet?"
Das hatte ich mir noch nicht überlegt
„Nein."
Er erhob sich. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Er stand vor mir.
„Wie viel Verluste habt ihr?" „Ich weiß nicht."
„Du weißt nicht?" sagte er scharf.
Ich wusste doch selbst, dass ich meine Pflicht nicht getan hatte!
„Wir können das nicht so lassen", sagte er ruhig. „Ich komme mit hinüber."
Wir gingen zusammen hinaus. Er blieb stehen. „Sieh mich mal an."
Ich hatte das Gefühl, die Augen ringsum zu drehen, um seinen Blick zu vermeiden.
„Komm mal mit", sagte er ganz ruhig. „Wir werden zusammen das Nötige anordnen. - Hast du denn keine Ahnung, wer fort ist?"
„Doch, Bilmofsky ist fortgelaufen, er war so schon ein Tor und scheint den Rest zu haben."
Lamm fragte mich aus. Das Schießen hatte aufgehört. Allmählich wurde wieder alles klarer.
„So, jetzt gib deine Anordnungen!" sagte Lamm fröhlich. „Ich bleibe bei dir."
Ich war verzweifelt, ordnete aber an und stellte die Verluste fest. Zwei lagen unten verschüttet, einer war verwundet, Bilmofsky war sinnlos fortgerannt, und fünf waren nicht zu brauchen. Sie saßen stumpf aufgeregt in den Unterständen.
„Ich gehe jetzt zurück", sagte Lamm. „Ich werde dafür sorgen, dass ihr abgelöst werdet."
Ich war in einem seltsamen Zustand. Es war, als verlöre ich immer wieder das Denken und müsste es neu lernen. Mich quälte das Gefühl der Schlappheit, versäumter Pflicht. Dabei fühlte ich mich elend und wie in ständiger Sehnsucht. Wenn ich den Wald ansah, sehnte ich mich nach ihm. Und wenn ich an die Kameraden dachte, sehnte ich mich nach ihnen. Am Abend kam ein Läufer. „Herr Leutnant lässt sagen, dass die ganze Kompanie gegen Morgen abgelöst wird und hinter ins Lager rückt."

 

XVI.

Am Tage nach der Ablösung kam Lamm am Abend zu mir.
„Gehst du ein Stück mit spazieren?" Wir gingen an einem Fichtenwäldchen entlang. „Du", sagte ich, „ich hab ein schrecklich schlechtes Gewissen." „Weshalb denn?"
„Als unser Unterstand eingeschossen wurde - da habe ich mich nicht zusammengenommen. Ich kam mir sehr unehrlich vor; denn vorher hatte ich mich hingelegt, obwohl ich nicht durfte."
Er sah schweigend zu Boden. „Konntest du dich denn zusammennehmen?" „Ich hätte es tun müssen." „Aber ich frage dich, ob du es auch konntest?" „Ich weiß nicht - aber ich glaube doch." „Hast du dir schon einmal überlegt, was ein Nervenschock eigentlich ist?" „Nu, eine Erschütterung."
„Damit kommst du nicht weiter. Bei jedem Schreck wird irgendein Eindruck vors Bewusstsein gebannt. Man starrt den Eindruck an. Aber der ist gerade unwesentlich. Wer die
Geisteskraft hätte, sich bei einem unerwarteten Ereignis frei umzusehen, könnte nicht erschrecken. Du quälst dich mit irgendeiner Vorstellung. Aber die ist ganz gleichgültig. Weshalb du dich höchstens schämen könntest, das ist, dass du dich nicht umsehen willst. Und sieh mal dort den blühenden Kirschbaum - deswegen hab ich dich nämlich hergeführt -, sieh ihn dir mal an. Siehst du was dran?" Er lachte.
„Nu, er blüht." Ich konnte sonst nichts daran sehen. Er lachte immer mehr. Ich wurde ganz verlegen, weil ich so gar nichts sah.
„Es ist auch nichts weiter dran", lachte er.
Ich verstand gar nicht, was er wollte.
„Sage mal, wo war denn eben dein Nervenschock mit allen seinen Vorstellungen ?"
„Fort." Auf einmal wurde es mir klar. „Aber du! Es ist doch was an dem Kirschbaum. Er ist nämlich wirklich schön", lachte ich.
„Bravo! Bravo!" rief er und wurde auf einmal ernst. „Aber weißt du was? Du bist furchtbar angegriffen. Du hast hier hinten gar keine Pflichten, und wenn wir wieder vorkommen, will uns der Major an eine ganz ruhige Stelle tun. Er hat sehr nett mit mir gesprochen und mir gesagt, das könnte ja auch gar niemand auf die Dauer aushalten."
„Ich habe mich schon immer gewundert, dass es die Leute in den Löchern so lange ausgehalten haben", sagte ich.
„Und ich habe mich gewundert, dass niemand einen Ton gesagt hat. Weißt du, dazu gehört schon eine furchtbare Gutmütigkeit - oder ein entsetzlicher Stumpfsinn."
XVII
Wir marschierten wieder vor und lösten an einer ruhigen Stelle im Walde ab. Die Züge Trepte und Langenohl kamen vor. Mein Zug lag mit Lamm zusammen vierhundert Meter dahinter in einem Stollen mit neun Eingängen. Endlose Treppen führten hinunter. Unten war ein pechfinsterer, langer Gang, von dem kleine Wohnstollen abgingen. Dort roch es nach nasser Kreide, eingeweichtem Holz und Moder.
Als Tisch benutzten wir Minierholzstapel und auch als Lager; denn auf dem bloßen Boden war es zu feucht. Der Stollen war seit Monaten unbewohnt gewesen.
Als ich hinunterkam, schauerte mich. Wir zündeten einen Hindenburgbrenner an. Er brannte trüb. Funke rauchte wie immer eine Zigarre. Aber sie schmeckte ihm nicht. Auch die anderen rauchten; ich konnte es noch nicht wieder. Binnen kurzem war eine schreckliche Luft, als ob sie Pilze geraucht hätten. Wir legten uns schlafen. Ab und zu fiel in einem der leeren Gänge ein Wassertropfen von der Decke. Wie schrecklich leer es hier war! Im übernächsten Stollen lag Lamm mit seinen Leuten, sonst war alles rechts und links leer. Eigentlich war es ja gleichgültig, ob noch jemand im Stollen lag, aber - ich wusste nicht, warum - es war ängstigend.
Als wir eine Zeit, nicht sehr lange, geschlafen hatten, wollten alle hinaus.
„Das dürfen wir nicht", sagte ich. „Es sind schon einmal alle neun Gänge des Stollens eingeschossen gewesen - drei sind ja noch zu. Und deshalb soll sich kein Mensch zeigen."
„Aber wir können uns doch wenigstens auf die Treppe setzen?"
Die Treppe ging nach Norden. Kein Strahl Sonne drang hinein. Wir sahen nur blendend weiß vor uns eine sonnenbeschienene Kreidewand.
Ich hatte im Stollen so gut wie nichts zu tun, hatte aber keine Ruhe zum Lesen. Das Licht war auch zu schlecht dazu. Ich lag die meiste Zeit in einem Halbschlaf. Am zweiten Tage wurde mir klar, ich hatte Fieber, besonders gegen Morgen, immer wenn das Feldküchenessen kam. Ich glaubte, dass die Ruhe hier das beste wäre, und sagte niemand etwas. Aber in der nächsten Nacht, als das Essen kam, fühlte ich mich so schwindlig und es war mir so übel, dass ich beschloss, es Lamm zu sagen. Lamm war gerade mit dem Major vorn in der Stellung. Ich legte mich hin und deckte mich zu. Trotzdem schlotterte ich vor Frost. Nach einer Weile wurde es besser. Ich unterließ die Meldung. Es kam mir unglaublich kläglich vor, sich vorn in Stellung und als Zugführer krank zu melden.
Zu Mittag hatte ich kräftigen Hunger und aß tüchtig. Ich glaubte, es würde schon wieder besser. Aber gegen den nächsten Morgen war mein Zustand ganz schrecklich. Funke wollte mich zwingen, etwas zu essen. Ich konnte aber wirklich nicht. Dazu hatte ich große Angst, und der Frost schüttelte mich. Aber ich wollte doch noch einen Tag warten.
Am nächsten Morgen ging ich zu Lamm. Er ging mit mir zum Sanitätsunterstand und sprach heimlich mit dem Arzt
Der Oberarzt ließ mich das Hemd herunterstreifen und klopfte und horchte lange an meiner Brust.
„Der Mann muss hinter. Aber Sie können ihn bei der Kompanie behalten. Das lässt sich machen. - Nutzen Sie das schöne Wetter und die gute Luft im Waldlager aus - das ist ja das reinste Sanatorium -, und wenn ich hinterkomme, stellen Sie sich mir wieder vor! - Was kommt denn da noch für einer?"
Einer unserer Sanitäter führte den Brand. Der sah schrecklich aus, mit tiefen Ringen unter den Augen, die den Arzt verängstigt ansahen.
„Die Sache kenne ich schon", sagte der Arzt und untersuchte ihn kurz. „Die Lunge ist in Ordnung. Der Vizefeldwebel kann Sie mit hinternehmen. Legen Sie sich auch viel in die Sonne. Das ist nicht so gefährlich, wie es aussieht. -Wir haben jetzt recht viel Fälle der Art", wendete er sich an Lamm, „besonders bei Ihrer Kompanie."
„Können die allein hintergehen?" fragte Lamm.
„Ja, getrost."
Lamm begleitete uns hinaus und gab mir sehr herzlich die Hand. „Erhol dich erst einmal hinten eine Zeit. Das übrige sehen wir dann. Die Tornister schicke ich euch mit dem Packwagen diese Nacht."
Die Sonne war eben aufgegangen. Das Gehen war mir angenehm.
Ich wollte Brand am Arm nehmen, aber er sagte: „Ich kann allein."
So gingen wir still durch die Gräben, über die grüne Wiese und kamen auf die Straße.
Wir wurden bald müde und setzten uns in den Straßengraben. Ich hätte jetzt gern etwas zu essen und zu trinken gehabt. Aber mein Tornister war ja noch vorn.
Wir gingen weiter. An einem Bach stand eine verfallene Mühle, von blühendem Flieder umgeben. Unten im Wasser bewegten sich grüne Pflanzen wie Schlangen. Dann kamen wir in einen Wald und gingen an einer Förderbahn entlang, an deren Böschungen rote Erdbeeren zwischen grünen Blättern wuchsen. Wir setzten uns, müde, aber glücklich. Wir gingen wieder und setzten uns wieder und kamen erst zu Mittag ins Waldlager, wie Kinder auf einem Ausflug.



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