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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Märsche

Am nächsten Tage begannen die Märsche. Die Tage waren heiß, und wir waren nicht ans Gebirge gewöhnt. In den ersten Tagen blieben viele an der Strafte liegen, im Schatten einer Eberesche, mit aufgerissenem Rock und dem Taschentuch auf dem Kopf. Dann gewöhnten sie sich daran. Wir überschritten mehrere Höhenzüge und tauchten in ein tiefes Tal. Jenseits ging es in einem Birkengrund steil aufwärts. Schon von den Höhen, von denen wir kamen, hatten wir gesehen, dass das Dorf, nach dem wir sollten, auf der höchsten Kuppe lag. Die ersten Märsche waren kurz gewesen. Heute mutete man uns schon eine große Leistung zu.
Wir mussten mehrmals rasten. Die Sonne brannte in das Tälchen, in dem wir uns schon seit Stunden aufwärts schoben. Endlich wurde es flacher. Die Straße wandte sich rechts um. Da lag das Dörfchen gedrängt auf der Kuppe. Kanonen und Munitionswagen standen auf der Straße.
Wir bogen auf einen Acker und schlugen Zelte auf. Noch brannte die Sonne. Wir zogen uns ganz aus, hängten das durchschwitzte Zeug draußen auf und legten uns ins Zelt. Ich schlief nicht. Es war zu heiß dazu. Durch die Zeltbahn über mir drang ein braunes Licht. So lag ich wohl eine Stunde.
„Die Feldküche ist da!"
Wir zogen uns halb an und holten Essen und Kaffee.
Später saß ich mit Ziesche und der Perle am Hang, wo man weit über das Tal hin und die Bergzüge sah. Ich fühlte mich leicht und still. Schatten krochen die Berge hinauf. Es wurde immer dunkler um uns. Aber das Licht auf den Höhen blieb.
Da kam ein sonderbarer murrender Ton, wie ein leiser Trommelwirbel, und wurde immer stärker. Auf einmal hinein ein Bläserakkord! Von unsern Zelten liefen sie nach dem Dorf. Auch Ziesche lief hin. Wahrscheinlich spielte unsere Regimentsmusik.
Wir marschierten gegen die belgische Grenze. Ich hatte mich seit dem Ausmarsch nicht rasiert und hatte eine Krause ums Kinn, fast durchsichtig blond und ganz weich. Das kam mir ziemlich schlapp vor. Einige wollten sich nicht rasieren, bis der Krieg zu Ende wäre. Ich hätte es schon gern getan, aber ich dachte: Vielleicht kommt man dann längere Zeit nicht dazu und muss den Bart stehen lassen, und dann sind einem die andern mit dem Bart voraus.
Nach einem kurzen Marsch saßen eines Nachmittags die Offiziere unter einem breiten Baum an der Straße. Einige spielten Skat. Unser dünner Hauptmann, der allgemein verhasst war, saß im Grase, und der große, dicke Leutnant Fabian hatte eine Haarschneidemaschine in der Hand und hatte dem Hauptmann die eine Seite des Kopfes schon geschoren. Er machte alle möglichen Schwünge mit den Armen dazu und klapperte mit der Maschine in der Luft.
„Jetzt müssen mir Herr Hauptmann gehorsamst parieren!" rief er. „Sonst lasse ich Herrn Hauptmann gehorsamst so."
„Ich werd Ihnen schon helfen!"
„Ich schere Herrn Hauptmann nur weiter, wenn mir Herr Hauptmann gehorsamst einen Wunsch erfüllen!"
„Die Hälfte meines Königreichs können Sie gern kriegen!"
„Ich bitte Herrn Hauptmann gehorsamst, nicht zu spaßen!"
„Ja, was wollen Sie denn haben?"
„Das muss ich mir erst mal überlegen."
„Das wäre ja noch schöner! Wenn Ihnen nichts einfällt, dann darf ich wohl so bleiben?"
„Herr Hauptmann werden einem armen Leutnant doch etwas Bedenkzeit gewähren!"
Da fiepten auf einmal Querpfeifen, und Trommeln schlugen ganz in der Nähe. Der Leutnant sprang auf und rief: „Da kommt das zweite Bataillon!" und lief mit der Haarschneidemaschine davon. Der Hauptmann saß im Gras und schimpfte: „Spitzbube! Sie kriegen 'ne Flasche Sekt... Der Halunke hört nicht!"
Unser Bataillonskommandeur saß daneben, und es stieß ihn vor Lachen.
Wir kamen an die belgische Grenze. Da gab es einen Aufenthalt. Sie haben die Straße aufgerissen und Sperren gebaut, hieß es.
Wir marschierten weiter. Ein Zollhaus. Dann ein französisch beschriebener Wegweiser.
„Wo ist denn die Straße aufgerissen?" fragte ich ungeduldig.
„Nu, du latschst ja eben drüber!" lachte Ziesche.
Wie, das war alles? Ein paar Steine aus der Straßenpflasterung gerissen! An der Straßenseite standen die Stümpfe von Bäumen, in über ein Meter Höhe abgehackt, und die Bäume lagen auf der Wiese, Fichten, so gleichmäßig gewachsen und so hoch und gerade, wie ich noch nie welche gesehen hatte. Damit hatten sie die Straße gesperrt? Es tat mir um das schöne Holz leid.
Von den Telegrafenstangen hingen zerschnitten die Drähte, damit wir nicht telefonieren könnten. Rechts stand ein kleines Haus. Ein Mann lehnte an der Tür, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, und stierte uns an. Der Mann hasste uns.
Weshalb muss man sich hassen, wenn man gegeneinander Krieg führt?
Etwas entfernter von der Grenze wurden die Einwohner freundlicher. Aber immer blieben mir die Belgier unheimlich. Wir stellten in den Nächten sorgsam Wachen aus. Auch die Offiziere schliefen nie einzeln in Häusern; denn man erzählte sich von nächtlichen Morden und dass die Belgier schrecklich grausam wären.
Das Land wurde immer bergiger. Wir marschierten durch große Laubwälder. Dann kam ein Tal mit Landhäusern und eine Stadt. Und dahinter ging es steil auf einen Berg, weil wir abseits der Straße übernachten sollten.
Sonderbar war manchmal das Sonnenlicht zu Mittag auf den kahlen Bergrücken. Nackt waren die Rücken und das Licht darauf gelbbraun, aber nicht traurig, sondern mit einem Schimmer, der mich fremd stimmte.
Wir näherten uns der Maas. Dort gibt es eine Schlacht, sagte man. Eines Abends kamen wir in ein Dorf und wussten alle: das ist das letzte Quartier vor der großen Schlacht.
Auch am nächsten Tage blieben wir dort. Wir hatten uns gemeinsam von dem Bauern, bei dem wir lagen, ein Schwein gekauft und kochten es in kleinen Kochlöchern in seinem Obstgarten. Unteroffizier Zache setzte sich zu uns. Er war
schon in den letzten Tagen gedrückt gewesen. Jetzt saß er am Feuer und hing zwischen seinen Knien. „Ich komme nicht zurück", sagte er.
Was sollte ich dazu sagen? Dass Ziesche und die Perle nichts dazu sagten, war selbstverständlich. Er erwartete nur von mir etwas, oder erwartete er nichts?
Der Einjährige Lamm saß auch dabei. Der sah Zache mit großen, ruhigen Augen an. Lamm war mir vom ersten Tag an, wo ich ihn gesehen hatte, lieb gewesen. Aber ich hatte eine Scheu vor ihm. Und er hatte, wie es schien, eine Scheu vor allen Menschen, besonders aber vor Zache, den er, glaube ich, hasste. Und Zache behandelte ihn auch sehr schlecht. Lamm war nämlich sehr ungeschickt in allen körperlichen Dingen, dazu schwächlich. In seinen, übrigens sehr ausdrucksvollen Augen war fast immer eine Ängstlichkeit, die Zache zu ärgern schien, mir aber gefiel. Dass Lamm aber durchaus kein Kommando richtig abgeben konnte, das missfiel auch mir an ihm.
„Renn!" rief der Leutnant Fabian vom Hause her. „Machen Sie eine Patrouille mit?"
„Jawohl, Herr Leutnant!"
„Ich will auch mit!" sagte Ziesche ruhig.
Wir gingen zu Fabian.
„Gut!" sagte er. „Kommen Sie auch mit! Aber jetzt beeilt euch! In weniger als einer Stunde ist es schon dunkel. Und bis dahin müssen wir noch weit!"



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