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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Bahnfahrt

Wir traten auf dem Kasernenhof an. Hinter uns wurden die Wagen bespannt. Der Leutnant Fabian kam vergnügt gegangen, einen kleinen schwarzlackierten Tornister wie einen
Schulranzen auf seinen breiten Schultern. Er trat vor uns hin und sagte: „Ich brauch euch keine Rede zu halten. Wir sind ja eine Familie! Und eine Perle haben wir, Gott sei Dank, auch in unsrer Familie!"
Wir lachten. Das war gut, dachte ich; jetzt wissen die Reservisten auch gleich, was unser Leutnant für einer ist. Denn fast alle liebten die Perle, wenn er auch als Idiot galt.
„Dritte Kompanie - stillgestanden! - Mit Gruppen rechts schwenkt - marsch! - Halt! - Kompanie - marsch!" Die Musik setzte ein. Die Pauke dröhnte von den Kasernenwänden. Ich marschierte in der vordersten Gruppe. Vor dem Kasernentor war eine Menschenmenge aufgestaut und machte uns Platz.
„Mach's gut, Emil!" rief jemand. „Hurra!" schrieen ein paar Jungen.
„Wie 1870!" hörte ich leise sagen und begegnete einem Altherrengesicht, aus dem mich zwei graue Augen freundlich ansahen. „So ging ich damals auch hinaus", sagte er zu mir, und ich war vorüber und sah andre Menschen.
Ein Nelkenstrauß flog mir an die Brust. Ich fing ihn gerade noch und sah mich um. Am Straßenrand stand eine und lachte mich unter einem tief sitzenden Hut an.
Helle Sonnenschirme waren aufgespannt, darunter Damen mit großen Hüten. Auf einmal sah ich rechts meinen Onkel aus der Menge ragen. Er schwenkte den Hut über seinem Kopf und lachte mich an. Ich wusste nicht, wie ich wiedergrüssen sollte, und war verlegen. Aber ich freute mich.
Wromm, wromm, wromm dröhnte die Pauke unter der Eisenbahnbrücke und wurde dahinter wieder Wumm, wumm, wumm.
Wir rückten auf den Güterbahnhof. Dort legten wir das Gepäck ab und warteten. Ein paar Damen gingen umher mit blumengeschmückten Körben und verteilten Brötchen und Schokolade.
Langsam rollte der Zug heran. Es waren Güterwagen, an deren Schiebetüren Birkenäste steckten. Für die Offiziere war ein Wagen dritter Klasse. An die Wagenwände waren mit Kreide Inschriften und Bilder gemalt, kleine Männer mit großen Köpfen und Franzosenkäppis darauf.
„Ungewöhnlich günstiges Angebot!!! Freie Fahrt! Einziges Risiko ein paar Schüsse! Dafür direkt nach Paris!"
Ein Signal wurde geblasen.
„Dritte Kompanie an die Gewehre! Gepäck und Gewehre in die Hand nehmen! Einsteigen!"
Sie drängten sich, zuerst hineinzukommen, wegen der günstigen Plätze. Bänke ohne Lehnen standen in den Wagen. Ich hatte gar keine Eile. Die Leutnants liefen am Zuge entlang. Irgend jemand rief etwas aus dem Wagen. Eine Lokomotive kam mit schwarzen Rauchballen, die sich drehten, langsam die Schienen her. Wieder rief einer etwas. Ich fuhr in die Höhe. Hatte nicht die Perle schon mehrmals nach mir gerufen?
Er reckte den Kopf aus dem Wagen. „Ich hab 'n Platz für dich!" Er fuhr zurück und hatte drin einen Streit mit einem. Sie schienen es darauf abgesehen zu haben, den Platz immer wieder zu besetzen, sobald er nach mir schrie.
„Na", rief der Leutnant, „wie lange soll denn das noch dauern!"
Die Perle hatte mir einen Platz an der linken Wand offen gehalten. Da konnte ich mich an die Wand lehnen, aber ich konnte nicht hinaussehen.
Draußen wurde verschiedenes gerufen. Die Lokomotive pfiff, und der Zug rollte langsam fort. Wohin ging es? -Nach Russland, sagte man. Wie sieht Russland aus? Hier scheint die Sonne. Russland konnte ich mir nur als graue Öde denken.
„'s geht nach dem Westen!" rief einer an der offenen Schiebetür. „Wir sind eben abgebogen. Es geht nach Paris!"
„Hurra! Hurraaa!" schrieen Kinderstimmen draußen.
An der Tür sangen sie „Deutschland, Deutschland über alles" ins Stoßen der Räder hinein. Der Gesang wurde allgemein. Im Nachbarwagen sangen sie schwermütig lang-
„Marie, Marie, das ist mein Nam', Den ich vom Regiment bekam. Ich tausch mit keiner Fürstin nich, Sie lebt nicht glücklicher als ich."
Wieder brüllten Kinder hurra, und wieder wurde mit einem Lied geantwortet. Der Sonnenschein wurde auf den Gesichtern der an der Tür Stehenden rot. Ziesche sah ich mit seinen weißen Zähnen lachen, aus lauter Freude, dass etwas geschah.
Dann wurde es schnell dunkel. Im Wagen war es heiß von der Sonne, die den Tag über auf dem Dach gebrütet hatte. Wir fuhren langsamer und hielten.
Ein Lichtschein fiel auf die rechte Wagenwand.
„Aussteigen zum Essenempfang!"
Man regte sich, wurde wach, stand auf. Im Dunkeln kramte man nach Kochgeschirr und Essbesteck. Elektrische Taschenlampen gaben grelle Blitze. Wir stiegen über die Bänke, traten draußen an und wurden in eine große Holzbude geführt. Karbidlampen standen auf Tischen von frischem Holz. Hinter einer Tafel gaben Damen Rindfleisch mit Nudeln aus. Ein uralter Mann in Oberstenuniform ging auf und ab. Unter der niedrigen Mütze hing sein weißes Haar bis auf die dicken Achselstücke.
Die Fahrt ging weiter. Gleichmäßig schlugen die Räder. Von der Tür her wurde es kühl. Die Perle war ganz auf mich gesunken. Schließlich schlug sein Kopf auf meine Knie. Davon wachte er halb auf und begann wieder zu sinken. Ich schlief noch nicht. Ich dachte auch nicht. Aber ich war nicht ruhig.
Ich wachte von einer Unruhe auf. Jemand drängte sich von hinten an mich.
„Lass mich mal durch. Ich kann's Wasser nicht mehr halten."
Ich zog die Perle an mich heran. Er wachte nicht auf. Der andre musste einen nach dem andern wecken. Als er zurückkehrte, waren die meisten schon wieder eingeschlafen und mussten noch einmal geweckt werden. Es war dunkel und recht kalt. Rings war Unruhe.
Ich wachte wieder auf. Es war Dämmerung. Die Perle schlief noch. Er sah schmutzig und elend aus. Einige dehnten sich gähnend.
Es wurde noch kälter, obwohl die Sonne kam. Die Perle wachte auf und lachte mich verschlafen an.
„Ich hab Hunger", sagte er und öffnete den Tornister unter der Bank. Dabei stieß er mit dem Kopf an den vor ihm.
„Lass einen doch schlafen!" knurrte der, ermunterte sich und fing auch ah zu essen. Der Zug hielt.
„Aussteigen zum Kaffeeholen!"
„Dann kann man doch seine Knochen wieder sammeln!"
Wir stiegen aus, reckten uns und liefen umher. Auf einem offenen Wagen thronte unsere rauchende Feldküche. Die Köche in Mänteln gaben mit der Kelle den Kaffee in die Feldkessel.
Wir fuhren wieder. Manchmal sah ich etwas von vorbeilaufenden Bäumen oder Häusern. Ich versuchte aufzustehen. Aber das Gepäck lag überall am Boden umher und ließ einen nicht fest stehen.
Draußen schrieen Kinder hurra. Wir sangen. Ein paar spielten auf den Knien Skat.
Der Abend kam und die Nacht. Die Bänke wurden immer härter. Ich lehnte immer links an der Wand und fühlte mich schief gebogen.
„Da ist der Rhein!"
Man drängte sich nach der Tür. Ich gab es nach einem kurzen Versuch auf, dahin zu kommen. In andern Wagen sangen sie schon die „Wacht am Rhein". - Bin ich nicht glücklich daran, einen Krieg zu erleben? Es ist doch irgendeine Loslösung. Wie schlimm für die, deren Jugend ohne das vergeht!
Ich zündete mir eine Zigarette an. Die Nacht war endlos. Ich lag seitlich eingeknickt an der rüttelnden Wagenwand und versuchte, mich besser zu setzen. Aber die Perle rutschte bei meinem Versuch vornüber, und ich zog ihn mühsam wieder einigermaßen zurecht. Ich wachte mehrmals von dem Schmerz in der Seite auf. Mein Kopf schlug mit etwas zusammen. Das war der Kopf der Perle, der mir über den Knien hing.
Am nächsten Morgen tauschte ich meinen Platz mit der Perle, um einmal etwas anders zu sitzen. Draußen schien wieder die Sonne.
An der Tür sprachen sie davon, was sie sahen. Weinberge sollten da sein und Burgruinen. Ich schlief bald wieder ein und wachte erst zu Mittag völlig auf.
Was sahen alle schmutzig und unrasiert aus! Aber sie waren auf ihre Weise vergnügt...
Auf einer Station gab es Mittagessen. Dann fuhren wir weiter. An der Tür sagten sie, wir führen durch ein enges Waldtal.
Wir hielten.
„Aussteigen!"
Wir kletterten über die Bänke hinaus. Ein Stationsgebäude und mehrere kleine Häuser. Jenseits stieg ein Waldberg auf. Wir waren steif und setzten das Gepäck zusammen.
„Wo mögen wir sein?" fragte ich den Ziesche. Der lachte nur.
„Wir können gleich mal nachsehen", sagte ein älterer Unteroffizier sehr deutlich. Er war wohl Lehrer. „Da habe ich eine Karte. - Ich denke, wir müssen hier in dieser Gegend sein."
Seine Karte war augenscheinlich aus einem Schulatlas gerissen und war nicht sehr genau. Aber ich sah doch, dass wir noch weit von Frankreich entfernt waren.
Unterdessen wurden die Feldküchen und andere Wagen losgebunden und auf den Bahnsteig gezogen. Ohne darauf zu warten, bis sie fahrbereit wären, marschierten wir ab. Es ging an einem Bach entlang. Die Sonne schien noch heiß. Aber das Marschieren nach dem langen Sitzen belebte. Nach anderthalb Stunden kamen wir in ein Dorf. Am Eingang warteten die Quartiermacher auf uns.
„Erster Zug hier in die Scheune!"
„Hier ist aber wenig Stroh!"
„Sie sagen, sie hätten jetzt keins."
Wir legten das Gepäck ab und gingen wieder auf die Straße. Wir waren vergnügt und kauften uns Wein, der hier billig war. Ich setzte mich mit Ziesche damit auf den Bock eines Wagens, der hinter unserer Scheune stand. Der Mond schien schon. Eine feuchte, dünne Luft kam vom Bach herauf. Wir gingen noch ein Stück spazieren in der hellen Nacht. Als wir in die Scheune zurückkamen und tastend unsere Plätze suchten, schnarchten schon alle.



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