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Ludwig Renn - Krieg (1928)
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Die Märzoftensive 1918

I.

Gegen Abend hielten wir in einem Waldtal, stiegen aus und marschierten in das nächste Dorf. Dort blieben wir zwei Tage. Uns war gesagt worden, dass wir von hier ab nach dem Versammlungsraum unserer Offensivarmee in den Nächten marschieren würden, damit die feindlichen Flieger das Zusammenziehen so großer Truppenmassen nicht bemerkten.
Mich hatte das plötzliche Aufhören aller Zucht, als die Patrouillenleute ohne Ordnung anmarschiert kamen, nachdenklich gestimmt. Und wie frech Sänger dem Oberleutnant geantwortet hatte nach dem Misslingen des Unternehmens! Eine Meuterei hielt ich im deutschen Heer für unmöglich, aber so etwas wie damals, das grenzte doch an Meuterei. Die große Frühjahrsoffensive musste den Krieg beendigen. Sonst? - Der Krieg konnte doch nicht zum Dauerzustand werden. Irgendwann mussten sich doch die Völker wieder vertragen.
Wir marschierten Nacht für Nacht und lagen am Tage still. Da schlief man nicht viel. Und das Marschieren, ohne etwas zu sehen, in der engen Kolonne strengte sehr an.
Wir hatten in der Kompanie einen Erzgebirgler, einen schon älteren, hässlichen Menschen. Wenn die Kompanie müde war, fing er an zu singen. Lamm duldete es, dass er dazu aus der Kolonne trat und neben der Kompanie herlief.
Er erfand kleine Verse im Singen, und die Kompanie musste den Kehrreim singen:
„Und wenn der Kuckuck rufen tut. Wird alles wieder gut. Wird alles, alles, alles wieder gut."
Das sangen sie mit Begeisterung. Der Vorsänger hatte es dabei nicht leicht; denn wenn uns ein Fuhrwerk entgegenkam, musste er hinter der Kompanie verschwinden und dann wieder vorlaufen.
Es lag noch etwas Besonderes in seinen Versen: sie waren nie gemein, und dazu brachte er immer neue, und manche waren sonderbar auf unsere Gemütsstimmung gepasst. Ich hätte ihn gern näher kennen gelernt, aber er war nicht ein Mensch zum Kennen lernen. Sein Gesicht war immer gleichmäßig dunkel, weder ernst noch heiter, und er kümmerte sich um niemand als um die Leute seiner Gruppe, auf die er ja angewiesen war.

 

II.

Wir kamen in ein großes Dorf in der Picardie. Dort blieben und exerzierten wir.
Von meinen Leuten hatten zwei die Sohlen von den Schnürschuhen geschnitten und nach der Heimat geschickt, weil es ja dort kein Leder mehr gab. Ich meldete das Lamm. Er befahl eine Durchsicht des ganzen Schuhwerks. Bei den anderen Zügen, bei denen ältere Leute und mehr Familienväter waren als bei mir, fehlte noch viel mehr.
Einige Leute sagten ganz offen, sie würden sich nicht zu Krüppeln schießen lassen, sie würden sich rechtzeitig verdrücken.
Ich fand, dass der Unteroffizier Sänger, gegen den ich seit der Patrouille einiges Misstrauen hatte, ganz harmlos war, nur etwas unbeherrscht, wenn ihn etwas ärgerte.
Hartenstein hatte sich mit Besser, einem kleinen, beweglichen Mann von einigen dreißig Jahren, befreundet. Besser war Kellner und in allen Ländern Europas gewesen, außer in Russland, und das tat mir leid; denn ich hätte immer gern etwas von diesem Lande gehört, das mir sehr geheimnisvoll vorkam, besonders jetzt nach der Bolschewistenrevolution. Besser sprach auch immer von dem unsinnigen Krieg, und man müsste einfach streiken und nicht mitmachen.
Ich sagte einmal dem Hartenstein: „Weshalb verkehrst du nur mit dem?"
Hartenstein lachte. „Weil das der beste Mensch von der Welt ist. Der redet nur so, aber wenn's drauf ankommt, da sollst du mal sehen, wie der mitmacht!"
Aber auch mir wurde der Krieg immer verdächtiger.

 

III.

Wir marschierten in einer Nacht vor und kamen in einen Industrieort. Die Truppen vor uns verließen eben die Quartiere. Wir gingen hinein und schliefen.
Wir blieben den Tag und die Nacht da und erfuhren nichts weiter, als dass wir vorläufig Armeereserve wären.
Am folgenden Morgen, noch im Dunkeln, kam der Abmarschbefehl.
Wir traten auf der engen Straße an.
Lamm kam geritten.
„Der erste Stoß ist gelungen. Die erste und zweite englische Stellung sind in unserer Hand. Heute wird die dritte Stellung angegriffen. Die ist aber nach Fliegermeldungen nur knietief."
Wir marschierten ab. Es wurde wieder ein trüber Morgen.
Wir kamen dem Kanonendonner immer näher. Fern vor uns standen am Himmel drei Fesselballons. Sie bewegten sich bald aufeinander zu, bald auseinander, und wir kamen ihnen nicht näher. Das war ein Zeichen, dass sie marschierten.
Rechts und links der Straße auf den Äckern hielten Wagenkolonnen immer dichter.
Ein offenes Lastauto überholte uns. „Du, he, die Granaten!"
Es lagen vier Granaten auf dem Lastauto und ragten zu beiden Seiten hinaus.
Wir hielten. Links in einiger Entfernung wimmelte es schwarz von Menschen. Ab und zu krachte es dort. Das waren die Geschütze, aus denen die Riesengranaten geschossen wurden.
Wir blieben den Tag und die Nacht über hier und schlugen Zelte auf. Ich hatte eine Karte der französischen Front. Wir stießen von St. Quentin her vor. Wollten wir bis Amiens durchstoßen und die Franzosen von den Engländern trennen? Ob das den Krieg beendete? Er musste ja beendet werden.
Am nächsten Tag kamen wir in das Gebiet der geräumten Stellungen, eine weite, kahle Ebene mit Gräben.
Früher steckte man ganz in den Gräben, heute marschierten wir oben auf der Straße und sahen in die Gräben hinein.
Wir kreuzten die Drahthindernisse - hier waren die Löcher der Horchposten - und näherten uns der englischen Stellung. Es wurde an der Wiederherstellung der Straße gearbeitet. Wir marschierten langsam und mit Stockungen.
Die Sonne ging unter. Wir kamen in die englische Stellung. Zwei Tote langen in einem Graben.
Wir übernachteten in einem Grund mit einem Bach und Weiden. Wellblechplatten lagen umher, aus denen wir uns Hütten bauten. Nicht weit davon war ein englisches Lager mit hohen Spitzzelten. Die Gruppe Hähnel schleppte ein Zelt her und hatte auch neue Röcke, Schuhe und Rasierzeug gefunden. Sie wollten das Zelt behalten.
„Wenn ihr's tragen wollt", sagte ich, „ist mir's recht."
Sie hatten wohl gedacht, ich würde ihnen einen Platz dafür auf unserm Maschinengewehrwagen verschaffen. Am nächsten Morgen nahmen sie es nicht mit.
Wir gingen auf einer schmalen Notbrücke über einen kleinen Fluss. Das jenseitige Ufer stieg steil auf. Dort lagen tote Schotten in ihren kurzen Röckchen. Die Stiefel und Strümpfe waren ihnen ausgezogen. Mehrere meiner Leute trugen auch schon gute englische Schnürstiefel. Links der Straße stand eine verlassene Batterie mit einigen toten Franzosen.
Wir übernachteten wieder in einem Graben und spannten auf der Windseite die Zeltbahnen doppelt.
Dieses ganze Gebiet war von uns vor einem Jahre geräumt worden. Ich dachte, die Franzosen hätten wieder aufgebaut. Aber kein Mensch wohnte da, und die Felder waren nicht bestellt.
Wir kamen in das Gelände der Sommeschlacht. Die Gräben waren überwuchert, der Draht der Hindernisse verrostet. Nicht einmal die Straßen waren wiederhergestellt.
In den Trümmern eines Ortes blieben wir zwei Tage lang bei eisigem Winde. In ein bis zwei Kilometer Entfernung ragte der tote Wald von Bourraine, vor dem ich 1916 verwundet wurde.
Am Tage darauf marschierten wir quer durch das Grabengewirr der Sommeschlacht und schlugen Zelte auf. Ein gefallenes Pferd lag da. Alle stürzten sich darauf und schnitten mit dem Messer Stücke Fleisch heraus.
Es wurde dunkel und fing an zu regnen. Ich legte mich ins Zelt.
„Zelte abbrechen! Sofort auf der Straße antreten!"
Draußen war es stockdunkel. Es regnete in Strömen. Es wurde hin und her geschimpft. Wo waren meine Gruppen? Ich rief.
Schließlich kam einer. „Gruppe Hähnel steht auf der Straße!"
„Sind Sie endlich fertig?" schrie mich Trepte an. „Wen meinen Sie denn? Hier ist Renn." „Diese verfluchte Dunkelheit! Haben Sie jemand von meinen Leuten gesehen?"
„Nein, ich suche auch noch."
Nach drei Viertelstunden stand die Kompanie auf der Straße. Aber es fehlten drei Mann, darunter Leiser. Die hatten wohl die Verwirrung benutzt und waren ausgerissen.
Lamm war nicht zu finden. Auf uns goss der Regen nieder.
„Wo ist der Bataillonsstab?" fragten immer wieder Kompanieführer.
„So eine verdammte Scheiße!" schimpfte irgend jemand. „Da hat uns die Brigade mal wieder alarmiert, statt einen ruhigen Befehl auszugeben!"
„Nu, was tut denn das?"
„Was das tut? Jetzt können wir vier Stunden lang im Regen stehen, statt zu schlafen!"
„Nu, wir können doch wieder Zelte aufschlagen."
„Das wär ein hübscher Spaß bei der Dunkelheit, und sich dann unter ein Dach legen, und unten ist Schlamm!"
Wir standen und ließen es auf uns regnen. Lamm kam zurück und stand bei uns.
„Greifen wir morgen früh an?" „Ich weiß es nicht."
Wir waren wieder still. Der Regen tropfte.
Schließlich nach Mitternacht marschierten wir ab. Es hatte aufgehört zu regnen. Am Himmel trieben uns große, weiße Wolken entgegen und ließen manchmal den Mond durchblicken. Die Wolken kamen vom Meere her. Wir marschierten durch Dörfer. Manchmal lief ein Schein vom Mond über die Äcker. Ich träumte immerfort vom Meer, an das wir vielleicht kämen. Wie sieht das Meer aus?

 

IV.

Der Tag kam trüb herauf. Wir marschierten durch ein großes und, wie es schien, reiches Dorf. Jenseits bogen wir rechts auf einen Acker mit hellgrünem Winterkorn. Dort schanzten wir uns flache Löcher zum Hineinlegen und Schlafen.
„Heute greifen wir an", sagte Lamm. „Es soll eine Führerreserve ausgeschieden werden, damit nicht alle beim ersten Angriff weg sind, wie sonst. Ich habe von den Zugführern Trepte bestimmt. Von deinem Zug mag Hauffe hintergehen."
Hähnel kam. „Da haben dir meine Leute eine Flasche Rotwein mitgebracht."
„Sauft sie nur selbst!" sagte ich. Ich hatte gar keine Lust, vor dem Angriff und am frühen Morgen zu trinken.
„Nee, die haben selbst viel zuviel, und sie trinken nicht, wenn du nicht trinkst."
„Nu gut, ich danke euch", sagte ich und wollte sie mit Wolf und Funke teilen. Aber die hatten auch schon Flaschen. Ich goss also in meinen Feldbecher. Der Wein war sehr schwer, wie mir schien. Kleine französische Flieger kreisten vor uns und schossen von oben mit Maschinengewehren, manchmal auch nach uns. Das machte mir aber keinen gefährlichen Eindruck. Ich trank die Flasche leer, legte den Tornister unter meinen Kopf, deckte mich zu und schlief in meinem langen, schmalen Loch.
Ich wachte auf und hörte: „Was willst du denn mit dem Pferd hier?"
„Der Feldwebel hat mich vorgeschickt, weil es weitergeht."
„Ja, es geht weiter, aber indem wir stürmen", lachte Wolf.
„Ach so?" Er ging mit dem Kompanieführerpferd davon. Ich sah mich um. Sie packten ihre Tornister. „Herr Feldwebel, wir sollen in zehn Minuten stehen", sagte Funke.
Ich stand rasch auf, zog den Mantel aus und packte meinen Tornister.
Wir rückten zu den andern Kompanien des Bataillons. Mich drückte es heftig auf die Blase. Das kam von dem verfluchten Wein. Ich wollte aber nicht austreten vor dem ganzen Bataillon. Die hätten doch nur gesagt: Seht, dem kommt schon 's Schiffen vor Angst!
Ringsum stellten sich Truppen zum Angriff bereit, alle ohne die geringste Vorsicht, sich zu decken. Die Sonne schien.
Links an der Straße standen viele Geschütze in drei Reihen hintereinander, kurze dicke und lange dünne bis zu den schweren Mörsern. Eine dichte Menge müßiger Leute, hauptsächlich Trainsoldaten, sah unserer Bereitstellung zu.
Unsere Kompanie war ganz vorn, links von uns die erste Kompanie, rechts eine fremde Division.
Lamm rief uns Zugführer zusammen.
„In der Kompanie gliedern wir uns: rechts Renn, links Langenohl, dahinter ich mit Sandkorn. Den Anschluss hat Renn. - Sehen Sie dort vor! Hier kommen erst Felder mit Winterkorn und dann in etwa drei Kilometer Entfernung sind Wald. An dem sehen Sie in der Mitte einen Farbenwechsel: links ist der Wald mehr olivengrün und wird auf einmal kreidiggrün. Das ist unsere Richtung. - In wenigen Minuten geht es los!"
Ich nahm Brand mit seiner leichten Maschinengewehrgruppe vor, dahinter ich. Die übrigen Gruppen sollten rechts und links hinter mir folgen, in Schwänzen mit dem Führer vorn.
„Antreten!" rief Lamm.
„Marsch!"
Rechts und links setzten sie sich in Bewegung, rechts in breiten Schützenlinien, bei uns in kurzen Schwänzen, weiter links in unregelmäßigen Haufen. Links hinter mir folgte Lamm mit seinen Läufern, Krankenträgern und zwei Reservemaschinengewehren auf einer Karre, die der Waffenmeistergehilfe zog. Dahinter der Zug Sandkorn, dann die vierte Kompanie, schwere Maschinengewehre und Minenwerfer.
Das ist ja ein ungeheurer Angriff! dachte ich. Und es sind mindestens drei Divisionen. Aber diese ungeheure Menschenanhäufung ängstigte mich etwas. Und weshalb schoss unsere Artillerie nicht?
Von drüben kamen einzelne Infanterieschüsse. Die sind nervös, dachte ich, dass sie auf solche Entfernung schon schießen.
Das Gelände senkte sich. Vor uns lief ein mäßig tiefer Grund quer. Im Grunde war ein flacher Graben geschanzt, aber leer.
Wir stiegen am andern Hang hinauf. Das Gewehrfeuer nahm plötzlich zu. Brand mit seinen Leuten und den Maschinengewehren rannte; sie verschwanden oben. Ich sah mich rasch um.
„Wir ziehen uns etwas nach rechts", sagte ich zu Funke und Wolf, „damit wir nicht zu unserm Maschinengewehr kommen und dort die Anhäufung noch größer machen."
Sie nickten.
Schüsse knallten um mich.
Ich sah schon den Waldrand auf vierhundert Meter oder weniger. Wir rannten.
Brands Maschinengewehr schoss links. Ich wollte darüber hinaus vorrennen. Es peitschte, rasselte und pfiff.
Ich warf mich hin. Ich hatte kein Gewehr, nur die Pistole, und die nützte hier nichts. Der Waldrand war gezackt. Gerade auf uns ragte ein Zipfel vor. Wenn man den hätte, hätte man bald die ganze Stellung.
Einer warf sich links vor mir hin. Es war der kleine, runde Quellmalz.
„Ich bin verwundet. Kann ich zurück?"
Das Blut lief ihm übers Gesicht.
„Geben Sie mir Ihr Gewehr und Patronen!"
Er warf Patronen vor mich hin.
Ich hatte bemerkt: einen halben Schritt vom linken Rand im Waldzipfel war manchmal wie ein dünner Dunst. Dort schoss also einer. Ich zielte genau. Es waren etwa dreihundert Meter. Der Mann schoss mindestens dreißig Zentimeter über dem Erdboden.
Rechts von mir kamen zwei vorgelaufen und warfen sich hin.
Brand mit seinem Maschinengewehr lag viel zu weit hinten.
„MG-Gruppe Brand vorgehen!" brüllte ich.
S! ein Schuss dicht an meinem Ohr vorbei.
Unsinn! fuhr es mir durch den Kopf. Denen sagen, sie sollen vorgehen? Nein, selber vorgehen!
Ich raffte mich empor und rannte. Recht weit! dachte ich. Im Rennen merkte ich nicht so, wie es schoss.
Einen kleinen Blick nach der Seite. Ich war schon halbwegs zwischen unserer Schützenlinie und dem Waldrand. Verflucht allein! dachte ich und warf mich hin.
Wie Vögel fuhren die Geschosse über mich weg und um mich. Ich wusste nicht, was deutsche und was feindliche wären. Wieder sah ich den leichten Dunst an der Waldspitze.
Ich zielte. Ich hatte eine wunderbare Ruhe dazu.
Ich lud wieder und zielte eine Handbreit weiter rechts. Es waren nur noch hundertfünfzig Meter Entfernung.
Knips! Ich riss die Kammer auf. Sie war leer. Ich griff in die Tasche. Ich hatte die Patronen einzustecken vergessen.
Ein Schuss einen halben Schritt vor mir in den Boden!
Ich ließ meinen Kopf nach unten fallen. Schießen konnte ich nicht, also mich tot stellen! Ich hatte den Kopf im Helm etwas schräg nach rechts auf den Boden gelegt und sah vor mir einige grüne Halme Winterkorn. Dahinter kam eine leichte Senkung, in die ich nicht sehen konnte. Entfernter lagen Deutsche, wohl über fünfhundert Meter vom Waldrand entfernt. Die kommen nicht heran. Ist es auch schon je gelungen, eine vollbesetzte Stellung ohne Artilleriehilfe und über die Ebene zu nehmen? - Wann wird es dunkel? In zwei Stunden. - Und wie entsetzlich das jetzt auf meine Blase drückt! Bis dahin kann ich es nicht halten. Ich hob mich etwas mit dem Gesäß und wollte es hinauslassen. Wieder ein Schuss dicht vor mich.
Ach, mag's in meine Hosen fließen! Und es floss und floss, die ganze Flasche Wein. Meine Beine wurden warm und kühl. So eine Kinderei!
Ich hörte Schritte links von mir.
Ich sah hoch. Es war Hartenstein. Einer warf sich neben mich. Das war Besser. „Geben Sie mir Patronen!" rief ich. Er warf mir welche hin. „Schießen", schrie ich, „dass der rankommt." Wir schossen.
Hartenstein war fünf Schritte vom Waldrand. Da fiel er mit einer Drehung nach uns hin und sah uns an.
Links kamen wieder welche vor.
Ich stand auf und ging mit ihnen.
Es schoss, aber immer schwächer.
In dem Waldzipfel sah ich einen ausreißen.
Ich riss das Gewehr hoch und schoss. Er fiel hin. Den habe ich umgebracht, dachte ich, aber es regte mich nicht auf.
Hartenstein hatte nur einen leichten Schuss.
In dem Waldzipfel war ein Graben wie eine Badewanne. Da lagen Tornister und Konserven.
Einige wollten sich Andenken holen.
„Hier bleiben!" sagte ich. „Wir haben die Stellung noch nicht. Scharf aufpassen! Gewehr vor! Und hier durchs Dickicht!"
Wir gingen vorsichtig weiter.
Halblinks war plötzlich ein Graben da. Die Franzosen hielten die Hände in die Höhe.
„Là bas!" sagte ich und winkte hinter.
Sie sprangen aus dem Graben und liefen nach der Seite, von der wir kamen.
Ein Gewehrschuss ganz nah.
Wir schlichen weiter. Besser war dicht neben mir, das Gewehr bereit.
Wir kamen an den jenseitigen Waldrand. Da lag eine Schlucht vor uns. Drüben stieg ein dünner Buchenwald an.
Jenseits auf der Wiesenhöhe verschwanden zurückgehende Franzosen.
In der Schlucht ließ ich halten. Es wäre sinnlos gewesen, mit meinen fünf Mann weiter vorzustoßen. Einige Leute der linken Nachbardivision kamen und eins unserer leichten Maschinengewehre mit zwei Mann. Sie trugen mühsam das viele Gerät.
„Wo sind die andern Maschinengewehre?"
„Alle weg. Lamm ist auch verwundet und Langenohl tot."
Ich teilte die Leute neu ein und ging weiter.
Ramm! Ramm! Ramm! in den Wald, in einer Linie, ganz dicht!
„Marsch, marsch!" brüllte ich. Eine Granate zwei Schritt rechts vor mich. Ich trat auf. Ein Stechen im Fuß. Ich sah: das Oberleder war aufgerissen, und Blut war daran. „Soll ich verbinden?" schrie Besser. „Nein, lauft weiter!"
Ich versuchte mit der Ferse aufzutreten. Das ging. Ich humpelte zurück in die Schlucht. Ein junger Kerl kam zu mir. „So trifft man sich wieder."
„Wer sind Sie denn?"
„Ich bin von der ersten Kompanie. Aber ich hab Herrn Feldwebel immer gesehen." Er hatte einen Wadenschuss. „Wie ist's bei der ersten?"
„Unser Kompanieführer ist tot. Der hatte sich zum Maschinengewehr auf die Straße gelegt. Die sind alle tot auf der Straße. Wer sonst noch da ist, weiß ich nicht - nicht
viel."
Wir humpelten zusammen.
Vier Franzosen hatten ein breites Brett auf ihre Schultern genommen, auf dem ein verwundeter Deutscher saß, und trugen ihn vergnügt hinter.
In einiger Entfernung rechts detonierten Granaten. Da war auch Infanteriefeuer.
Wir kamen an den Waldrand, von dem aus vorhin die Franzosen schossen. Vor uns lag das Feld mit Winterkorn und darauf wie die Brustscheiben die Toten. Hartenstein war nicht mehr da. Hähnel lag auf dem Rücken mit aufgerissenen Augen. Er machte Bewegungen mit den Armen. Ich kniete hin und fasste seine Hand. Er sah mich nicht an.
„Hähnel", sagte ich, „du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich bin da." Er bewegte sich und starrte in die Luft. Er hatte einen Bauchschuss. - Ach, ich konnte nicht helfen! - Um den trauert niemand; er hat keine Angehörigen - und wenn er welche hätte, was nützte es ihm?
Ich ging weiter.
Jauer lag da. Sandkorn mit einem Loch vorn im Helm, sonst ordentlich auf beiden Ellbogen. Sänger lag halb auf der Seite, einen Arm unter dem Leib vorgestreckt. Von Funke und Wolf war nichts zu sehen.
Wir kamen gegen das Dorf hin. Regelmäßig kam eine Granate auf einen Acker.
Noch einer schloss sich uns an. Der hatte einen Unterarmschuss und fürchtete sich vor den Granaten.
Wir rannten, so gut es ging, und kamen an einen Friedhof. Dort verbanden zwei Ärzte, von Verwundeten umringt.
„Was haben Sie?" rief der Oberarzt, der damals meine Lunge untersucht hatte, über die Wartenden weg.
„Fußschuss, Herr Oberarzt."
„Gleich ins Feldlazarett!"
Die andern kamen mit mir.
Auf der Dorfstraße kam Hauffe gerannt.
„Du bist ja da? Alle haben gesagt, du wärst tot! - Ich zeige dir das Lazarett und brate dir ein Huhn; wir haben welche!"
„Weißt du was von Funke und Wolf?"
„Der gute Funke ist tot. Von Wolf weiß ich nichts."
Es begann dunkel zu werden.
„Hier ist das Lazarett. Ich hol dich dann wieder hier ab."
Ich kam in einen Raum, in dem etliche standen. Rechts um die Ecke schien bei einer Karbidlampe verbunden zu werden. Ich sah die Leute an. Da sah ich ein ganz zerfetztes Gesicht, Nase und Mund ein blutiger Klumpen - und das waren Wolfs Augen, die mich traurig ansahen. - Wie kann der nur überhaupt noch leben und aufrecht stehen? Ich sah ihn und wollte fragen. Aber er konnte ja nicht antworten. Ich setzte mich auf eine Kiste und betastete meinen Stiefel. Ich musste ihn aufschneiden. Beim Aufschneiden der Naht dachte ich mit Grauen an Wolf. - Der kann doch nichts essen. Geht er denn einfach zugrunde, in zwei, drei Tagen?
Als ich wieder aufsah, war er verschwunden, und ich kam bald an den Arzt.
„Stark splittriger Bruch. Der Granatsplitter scheint noch drin zu sitzen. Das können wir hier nicht operieren. Sie müssen selbst suchen, in ein größeres Lazarett zu kommen."
Sie verbanden mich und gaben mir eine Spritze ins Bein.
Hauffe kam bald wieder. Ich konnte mit der nackten Ferse besser auftreten als vorhin im Stiefel. Er führte mich in ein großes Haus. In einem niedrigen Raum brannte eine Petroleumlampe an der Decke. Es hingen allerhand Gerätschaften umher. Es war wohl eine Wollspinnerei.
Hauffe zog mich rasch vorwärts und ließ mich los. Da saß Lamm, den rechten Arm eingebunden, und stocherte mit der linken Hand in einem Tiegel herum an einem Hühnerbein. Er ließ die Gabel los und gab mir die linke Hand.
Hauffe brachte Rotwein. Trepte setzte sich dazu. Wir aßen. Das Huhn war stark gewürzt. Ich hatte großen Durst und trank Rotwein. Ich merkte jetzt auch: ich war sehr aufgeregt. In meinem Fuß begann es zu ziehen. Ich legte ihn auf einen Stuhl hoch. Aber der Schmerz wurde immer stärker.
Hauffe machte mir ein Lager auf einem Haufen Wolle, und ich legte mich.
Mitten in der Nacht wachte ich auf von so heftigen Schmerzen, dass ich an allen Gliedern zitterte.
Ich streckte das Bein in die Luft.
Ich stand auf und humpelte umher.
Ich legte mich wieder.
Schließlich setzte ich mich auf einen Stuhl und legte das Bein auf einen andern Stuhl. So erwartete ich in Verzweiflung den Morgen.

 

V.

Am nächsten Tage begann meine Wanderung mit Lamm durch das verödete Land. Der junge Kerl mit dem Wadenschuss hatte sich auch wieder herzugefunden. Er humpelte links, ich rechts. Meine Ferse war natürlich nicht an das
Nacktauftreten gewöhnt. Ich fühlte auf die Dauer selbst die Steine dieser Kalkstraße.
Es begann ein wenig zu schneien. Gefangene Franzosen gingen ohne Begleitung denselben Weg. Was sollten sie auch tun? Vorn war die Front; das Land ringsum war wüst, kein Mensch darin und nichts zu essen.
In einem Lazarett bekamen wir ein wenig Suppe und wurden weitergeschickt. Der mit dem Wadenschuss klagte über Hunger. Ich aß wenig und hatte nur Durst.
Wir wanderten auf einer breiten, gepflasterten Straße. Die Steine waren sehr hart und etwas höckrig.
Wir kamen in eine kleine Stadt. Ab und zu kam es angerauscht und schlug irgendwo ein. Wir fragten nach einem Lazarett. Als wir dahin kamen, sagte uns ein Krankenwärter: „Wir können niemand aufnehmen. Es ist Befehl gekommen, das Lazarett zu räumen, weil es immer herschießt."
„Wohin müssen wir denn gehen?"
„Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass diese Straße hinterführt."
Wir wanderten weiter. Lamm begann es zu schwindeln, und mich strengte das Anziehen der Fußspitze immer mehr an, und ich fühlte das Blut an der Fußsohle klopfen.
Wir mussten uns öfter setzen. Meine Hosen waren noch immer nicht ganz trocken.
Gegen Abend erreichten wir ein Dorf. Lamm und ich waren so willenlos, dass wir uns von dem jungen Kerl zu beiden Seiten eines Tores auf Steine setzen ließen. Ich merkte wohl, dass das komisch aussehen musste, aber ich konnte nicht lachen.
Ich kann mich an Einzelheiten dieser Nacht nicht mehr erinnern.
Jedenfalls habe ich die Nacht durch phantasiert.
Als das Morgenlicht kam, wurde mir wohler. Ich trank Kaffee und brach mit den andern auf. Ich hatte keine Fiebervorstellungen mehr, sondern ich sah die kahle Landschaft schrecklich nüchtern und fühlte mich schwach zum Gehen.
Einige Lastautos überholten uns. Lamm rief eins an. Die Kraftfahrer schimpften nur und fuhren weiter.
Lamm rief wieder eins an. Die antworteten gar nicht. Ich sah, wie es Lamm um die Lippen zuckte. Er war nahe am Weinen vor Angegriffenheit und sah schrecklich blass aus. Der mit dem Wadenschuss war sehr munter und humpelte schon fast gar nicht mehr. Ich sprach leise mit ihm, er sollte es doch noch mal versuchen.
„Ich werd's schon machen", flüsterte er. „Setzen Sie sich nur da an den Straßenrand!"
Als wieder ein Auto kam, stellte er sich auf die Straße und machte die Arme breit. Die Kraftfahrer hielten.
„Was gibt's denn?"
„Nehmt mal die beiden dort mit!"
„Du kannst uns doch nicht einfach anhalten!" schimpften
sie.
„Mit euch kann man ja nicht anders verkehren!" lachte
er.
Sie schimpften, halfen uns aber in den Laderaum. Dann fuhr der Wagen klappernd und schnurrend an. Mein Fuß lag auf den zitternden Brettern. Ich zog ihn an und legte ihn über mein linkes Knie. Aber die Stellung war zu unsicher. Ich nahm den Fuß in die Hände. Das war noch viel schlimmer.
„Warten Sie", sagte der junge Kerl, setzte sich an die Seitenwand und nahm den Fuß in beide Hände auf seinen Schoß. Das war wirklich wohltuend, vielleicht mehr wegen seiner Gutherzigkeit als wegen der guten Lage.
So kamen wir nach St. Quentin und fuhren von dort mit einem Leichtverwundetenzug weiter. Ich kam in verschiedene Lazarette. Überall röntgten sie meinen Fuß.
„Schwierige Operation! Sehen Sie zu, dass Sie zu einem Spezialisten kommen!"
So kam ich in wenigen Tagen in die Garnison. Ich wurde wieder geröntgt.
„In den Operationssaal!"
Der Wärter brachte mich hin. Ich wurde gewaschen und bekam eine Betäubungsspritze in den Fuß. Das tat sehr weh. Die nächste war schon weniger schmerzhaft.
Eine Schwester hielt mir ein Tuch vor, dass ich nichts sehen konnte. Ich merkte, der Arzt schnitt.
„Noch offen halten, Schwester! Alles mögliche haben Sie da drin, einen ganz gehörigen Granatsplitter, Knochensplitter, ein Stück Leder und Wolle oder so etwas, vom Strumpf."

 

VI.

Die Heilung war langwierig. Ein Knochensplitter nach dem andern eiterte heraus. Der Arzt fischte jeden Tag mit der Pinzette mehrere Stückchen aus der Wunde. Dann stopfte er Watte hinein, damit sie nicht vorzeitig zuheilte. Ich erhielt eine Holzschiene. Damit konnte ich nur wenig und recht mühsam gehen.
„Drüben in der Offiziersstation liegt seit gestern ein Leutnant Lamm", sagte der Wärter. „Der fragt nach Ihnen."
Ich humpelte hinüber.
Lamm lag blass im Bett. Es hatte sich herausgestellt, dass in seinem Arm ein Nerv zerschossen war und dass es nötig wäre, die Nervenenden zusammenzunähen. Er wurde operiert. Danach hatte er arge Schmerzen.
Ich bekam Fieber. In den nächsten Tagen lag ich immer im Bett. Beim Verbinden sagte der Arzt auf einmal: „Jetzt haben wir den Störenfried! Ein Splitter ist gewandert und will hier heraus."
Er tupfte mit der Pinzette auf eine Stelle. Es tat weh.
„Wärter, in den Operationssaal! Wir machen einen kleinen Hautschnitt. Dann sind Sie gleich Splitter und Fieber los."

 

VII.

Die Wundbehandlung war schmerzhaft. Ich hatte oft Fieber und lag meistens im Bett. Es hatte sich eine Knochenfistel gebildet, die immer eiterte, und zudem kamen noch immer Knochensplitter heraus.
Da, eines Nachmittags, kam Hänsel. Er setzte sich auf mein Bett.
„Ich dachte, du wärst im Felde?" sagte ich.
„Ich bin auf Urlaub." Er sah mich erschreckend starr an, und sein Blick ging wie durch mich durch. „Siehst du die Zeichen?"
„Was für Zeichen?"
„Die alte Ordnung löst sich."
Die Schwester brachte mir ein Päckchen. Was war das? Von meinem Regiment! - Ich wollte es beiseite legen, aber Hänsel sagte: „Mach's nur auf!"
Es war ein flaches Kästchen mit einem silbernen Kreuz auf dem Deckel. Ich drückte es auf. Da lag mit glänzendem Silberrand das Eiserne Kreuz erster Klasse. Ein Papier war dabei mit einem kurzen Glückwunsch vom Oberst.
„Darüber freu ich mich!" sagte Hänsel und sah auf einmal wieder kindlich gut drein.
Nach zwei Tagen kam Hänsel wieder. Ich war aufgestanden; denn es war bei der großen Hitze nicht gut, im Bett zu liegen. Wir gingen in den Garten. Ich legte mein Bein auf einer Bank lang. Er setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber. Er schien noch kräftiger geworden zu sein.
„Ich muss in zwei Tagen wieder hinaus", sagte er düster. - „Weißt du, um mein Leben handelt es sich nicht - obwohl ich es natürlich liebe -, sondern dass man überhaupt in den Krieg muss."
Er beugte sich zu mir vor: „Bei der ersten Gelegenheit laufe ich über!"
Mir ging es nicht sonderlich gut. Ich hatte fast dauernd Schmerzen, und die Wunde eiterte.
Wenn sich die Wunde nur einmal schlösse! dachte ich. Ich muss doch dann erst wieder richtig gehen lernen. Meine Zehen sind ganz steif geworden.
Noch einige Knochensplitter wurden mir aus dem Fuß gezogen. Dann heilte die Wunde rasch.
Anfang Oktober war ich wieder felddienstfähig und bekam einen kurzen Urlaub in meine Heimat.
Von Hänsel hatte ich seit seinem Besuch keine Nachricht. War er übergelaufen? Er schrieb auch sonst keine Briefe. Aber ich war doch unruhig. Wenn man den Krieg nicht will, nützt das Überlaufen vielleicht etwas. Aber in Gefangenschaft gehen! Sich hinter Drahtzäunen bewachen lassen!



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