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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Die ideologische und organisatorische Zersplitterung in den Reihen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1908-1911)

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki vor der Revolution von 1905 waren sehr groß. Einige dieser Meinungsverschiedenheiten wurden durch die Oktoberereignisse selbst, durch die stürmische Entwicklung der Revolution des Jahres 1905, entschieden. Das war z. B. der Fall mit der Frage, ob die Sozialdemokraten sich an den Wahlen zur Bulyginschen Duma beteiligen oder ob sie — wie es die Bolschewiki forderten — diese Wahlen boykottieren sollten. Die Bulyginsche Duma, die nur ein beratendes Organ war, wurde durch die Entwicklung fortgefegt, und es erschien ein neues Gesetz über die Einberufung der Staatsduma. Aber die wesentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bolschewiki blieben bestehen und konnten weder durch den Einigungsparteitag in Stockholm noch durch den 5. Parteitag in London beseitigt werden. Das waren prinzipielle Meinungsverschiedenheiten über den Charakter der russischen Revolution, über die Rolle des Proletariats in der Revolution und über die daraus sich ergebende Einstellung der Sozialdemokratie, als der Avantgarde des Proletariats, zur liberalen Bourgeoisie. Ich erwähnte bereits früher, dass bei den Wahlen zur zweiten Duma die Bolschewiki mit allen damaligen revolutionären Parteien zusammengingen (mit den Sozialrevolutionären, den Volkssozialisten und dem Bauernbund), während die Menschewiki für ein Wahlbündnis mit der liberalen Bourgeoisie eintraten und dort, wo die Gefahr von seiten der Schwarzen Hundert groß war, einfach dazu aufforderten, für die Kadetten zu stimmen.
Nach dem Auseinanderjagen der zweiten Duma und der Konsolidierung des Stolypinschen Regimes vertieften sich die Meinungsverschiedenheiten noch mehr. Es handelte sich nun bereits um Schicksalsfragen unserer Partei. Plechanow erklärte vor aller Öffentlichkeit, man hätte nicht zu den Waffen greifen dürfen (gemeint war der bewaffnete Aufstand in Moskau im Dezember 1905 und in anderen Städten des damaligen Russland), und die Menschewiki begannen uns in der Presse vorzuwerfen, dass wir Bolschewiki die Kadetten durch Aufstellung sozialer Forderungen, wie Achtstundentag usw. abgeschreckt hätten. Das besagte also mit anderen Worten, dass die Bolschewiki die Niederlage der Revolution von 1905 verschuldet hatten. Diese menschewistischen Beschuldigungen wurden noch durch den Umstand verschärft, dass nach der Ansicht der Menschewiki keine neue revolutionäre Welle zu erwarten war und dass das Stolypinsche Regime sich ernst und für lange Zeit konsolidiert hatte. Von diesem Standpunkt aus schlugen die Menschewiki vor, sich dem Stolypinschen — dem zaristischen Regime also — anzupassen. Das aber bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass die Sozialdemokratie nur noch legal im Rahmen der zaristischen Gesetze arbeiten sollte. Wollte sie aber das tun, so musste sie erst das Programm und die Taktik der Partei über Bord werfen, das heißt, die Partei als eine revolutionäre sozialdemokratische Partei liquidieren. Eine ganz andere Auffassung vertraten die Bolschewiki. Sie behaupteten, dass die Grundfragen, die zur Revolution geführt hatten, noch lange nicht entschieden waren. Die Arbeiterklasse, sagten sie, sei noch lange nicht zufrieden gestellt, sie hätte weder die Vereinsfreiheit noch das Streikrecht erhalten, und es gäbe nach wie vor keine Versammlungs- und Redefreiheit. Der Arbeitstag, sagten die Bolschewiki, sei genau so lang wie vor der Revolution, und es bestehe nach wie vor keine Sozialversicherung während die Löhne noch niedriger geworden seien. Auch der Bauer hätte nichts erhalten: der Boden wäre im Besitz der Agrarier geblieben, die Steuern wären nicht geringer geworden; außerdem wäre der Bauer auch nach der Revolution genau so rechtlos wie vorher geblieben. Die Revolution wäre also nicht tot, denn die Widersprüche seien nicht aufgehoben worden. Die Revolution von 1905 — erklärten die Bolschewiki — hätte eine vorübergehende Niederlage erlitten, aber sie werde mit noch viel größerer Kraft von neuem aufflammen. Und auf Grund dieser revolutionären Perspektive forderten die Bolschewiki kategorisch die Aufrechterhaltung der illegalen sozialdemokratischen Organisationen und die Beibehaltung der revolutionären sozialdemokratischen Taktik und des Parteiprogramms.
Jetzt wissen alle russischen Arbeiter, dass die Bolschewiki recht hatten und dass ihre mühselige Arbeit auf ideologischem und praktischem Gebiet nicht umsonst war; aber es hat mehr als 10 Jahre kolossaler Anstrengungen und Opfer bedurft, um die Partei vor ihren vermeintlichen Freunden von rechts (den „Liquidatoren") und von links (den „Otsowisten") zu retten.
Als ich im Herbst 1908 ins Ausland kam, hatten sich dort die zwei Hauptströmungen der Sozialdemokraten — die menschewistischen Liquidatoren und die Bolschewiki — sehr klar herausgebildet und gaben auch ihre eigenen Zeitungen heraus. Die Menschewiki hatten den „Golos Sozialdemokrata" und die Bolschewiki den „Proletari". Beide Richtungen standen in Verbindung mit den Ortsorganisationen der Partei in Russland. Außerdem erschien in Wien die interfraktionelle populäre Arbeiterzeitung „Prawda". Um diese Zeitung gruppierten sich jene Genossen im In- und Ausland, die sich weder den Menschewiki noch den Bolschewiki anschließen wollten. Aber diese Genossen standen doch den Liquidatoren näher als den Bolschewiki, da sie nach der im Januar 1912 von den Bolschewiki einberufenen Reichskonferenz der Partei in Prag sich dem „Augustblock" anschlossen, der eigentlich gegen die Bolschewiki gerichtet war. Diesem Augustblock gehörten außer der Gruppe der Wiener „Prawda", die Liquidatoren, die „Wperjod"-Leute, das Kaukasische Gebietskomitee, die Letten und der „Bund" an. Zu den Mitgliedern der Gruppe der Wiener „Prawda" zählten unter anderen die Genossen Trotzki, Uritzki und Semkowski. Auch die „Wperjod"-Gruppe bildete sich um diese Zeit. Sie wurde nach der Sitzung der erweiterten Redaktion des „Proletari" von verschiedenen Genossen gebildet. Einige von ihnen, wie Alexinski, waren überhaupt gegen jede Beteiligung der Sozialdemokratie an der Duma, andere waren mit dem Ausschuss der „Otsowisten" aus den Reihen der Bolschewiki unzufrieden. Der „Wperjod"gruppe schlossen sich überdies auch die Anhänger der Philosophie von Mach an, die mit der Lehre von Marx unvereinbar ist; dazu gehörten Bogdanow-Rjadowj und andere; ferner die „Gottsucher" (Anm.: In den Jahren 1908—1910 hatten die „Gottsucher" eine kleine Zahl von Anhängern unter den Bolschewiki. Sie vertraten den Standpunkt, dass es „noch andere Methoden zur Sammlung der Arbeitermassen unter dem Banner des wissenschaftlichen Marxismus gäbe als der ökonomische Prozess, der diese Massen proletarisiert und zum proletarischen Standpunkt bringt".
Deshalb glaubten sie, dass man, trotz der entgegengesetzten Ansicht der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, dem Sozialismus selbst eine für die halbproletarisierten Massen annehmbarere Form geben könne. Die „Gottsucher" kleideten denn auch dementsprechend die sozialistische Lehre in gottsucherische Formen, die den nichtproletarischen Schichten näher liegen sollten, und passten sie der religiösen Psyche dieser Schichten an. Auch gegen diese schädliche Abweichung führte der Grundkader der Bolschewiki einen zähen Kampf. (Die Zitate entnehmen wir dem Aufsatz des Genossen Kamenew in der Nr. 42 des „Proletari" vom 12. Februar 1909, der von den Genossen Lenin, Sinowjew und Kamenew redigiert wurde.)), (Lunatscharski und andere). Von diesen Richtungen rückten die Bolschewiki scharf ab. Die „Wperjod"-Gruppe hatte auf die Arbeitermassen Russlands gar keinen Einfluss. Sie bediente sich im Anfang ihrer alten bolschewistischen Beziehungen; sobald aber die Genossen erfuhren, dass die Anhänger des „Wperjod" nicht mit den Bolschewiki identisch waren, traten sie sofort zu den Bolschewiki über. Die „Wperjod"-Gruppe errichtete eine Parteischule auf der Insel Kapri. Man ließ aus Russland Arbeiter kommen, die Parteimitglieder waren. Nach der Absolvierung der Schule aber traten fast alle Schüler zu den Bolschewiki über. Zu der Gruppe „Wperjod" gehörten die Genossen Alexinski, Ljadow, Bogdanow, Lunatscharski und andere. Obwohl diese Gruppe sich für linker hielt, als die Bolschewiki, bildete sie doch einen Block mit den Liquidatoren, beteiligte sich an dem „Augustblock" und an der von diesem einberufenen Augustkonferenz.
In den folgenden Jahren (von 1910 bis zum Weltkrieg) bildeten sich innerhalb der russischen Sozialdemokratie noch zwei Auslandsgruppen heraus: die „Parteitreuen Menschewiki" oder „Plechanowzy" mit Plechanow an der Spitze, und die „Parteitreuen Bolschewiki". Plechanow und seine Anhänger blieben zwar Menschewiki, waren aber gegen die Liquidation der illegalen Partei, gegen die Anpassung an das Stolypinsche Regime und traten für eine Einheitsfront aller parteitreuen Elemente gegen das Liquidatorentum ein. Die „Parteitreuen Bolschewiki" erklärten, dass sie zwar Bolschewiki bleiben, aber mit der Spaltungstaktik des Genossen Lenin und seiner Anhänger nicht einverstanden seien und sie nicht billigten. Dieser Gruppe gehörten die Genossen Ljowa, Mark Ljubimow und andere an; sie hatte aber gar keinen Einfluss auf die Organisationen in Russland. Zur Parteikonferenz im Januar war kein einziger ihrer führenden Genossen delegiert worden. In den Jahren 1912 bis 1914 vereinigten sich diese beiden Gruppen (Anm.: Das Bündnis der beiden Gruppen ging bald nach der Kriegserklärung in die Brüche. Genosse Ljowa wurde zu einem entschiedenen Kriegsgegner, während Mark sich leider mit Plechanow verbündete und in den Sumpf der Vaterlandsverteidigung hineingeriet. Ich kann nicht ohne ein Gefühl des Bedauerns an Mark-Ljubimow zurückdenken. Er war ein ehrlicher, prächtiger Kamerad und ein energischer und tüchtiger Parteigenosse.) und begannen gemeinsam im Auslande die Zeitschrift „Für die Partei" und in Russland die Zeitschrift „Jedinstwo" (Einigkeit) herauszugeben.
Nicht weniger Verwirrung herrschte auch unter den „Nationalen", die nach dem Stockholmer Parteitag offiziell der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beigetreten waren. Bei den Letten gab es zwei sich gegenseitig bekämpfende Hauptströmungen: Bolschewiki und Menschewiki. Im „Bund" herrschte die menschewistisch-liquidatorische Richtung vor, aber auch dort gab es eine Minderheit, die bolschewistische Grundsätze verteidigte. Was aber die „Sozialdemokratie Polens und Litauens" anbetrifft, so standen sie im allgemeinen den Bolschewiki sehr nahe, unterstützten aber nicht ihre Politik in Organisationsfragen. Auch bei ihnen gab es eine Opposition, die „Roslumowzy (Anm.: Die Opposition in der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens, die den Namen „Roslumowzy" erhielt, entstand im Jahre 1911 infolge des übermäßigen Zentralismus des Parteivorstandes (ZK) den Ortsgruppen gegenüber, der in einer ganzen Reihe von Maßnahmen zutage trat, unter anderem auch darin, dass der Parteivorstand die Ortsgruppen gar nicht über seine Stellungnahme zu den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei informierte. Der Parteivorstand hatte in der Frage der Wiederherstellung der zentralen Körperschaften der RSDAP von der zweiten Hälfte des Jahres 1911 an eine zweideutige Stellung eingenommen. Er hatte sich zwar dem antibolschewistischen „Augustblock" nicht angeschlossen, nahm aber eine feindliche Stellung gegenüber der bolschewistischen Januarkonferenz und den von dieser Konferenz gewählten zentralen Körperschaften ein.
An der Spitze der Opposition stand die Warschauer Organisation, die sich in einer Stadtkonferenz Ende 1911 gegen die Organisationsmethoden des Parteivorstandes (ZK) der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" aussprach. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Parteivorstand und der Warschauer Organisation spitzten sich derart zu, dass der Parteivorstand Parallelgruppen in Warschau und Lodz organisierte.
Die Opposition hatte ihre eigene illegale „Arbeiterzeitung" und ihr eigenes Zentralkomitee. Die „Roslumowzy" arbeiteten Hand in Hand mit den Bolschewiki. Sie vereinigten sich mit der Sozialdemokratie Polens und Litauens im Jahre 1917.), mit den Genossen Radek, Ganetzki, Unschlioht u. a. an der Spitze.
Das alles habe ich nur angeführt, damit es dem Leser klar werde, was damals in den Reihen der Russischen Sozialdemokratie vor sich ging. Zehn Jahre lang musste man immer wieder in die Gehirne einhämmern, was jetzt der Partei so klar ist. Ein Jahrzehnt lang verfochten die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze die Reinheit der marxistischen Losungen und schufen illegale Parteiorganisationen, deren Mitgliedschaft aus erprobten Genossen bestand und in denen eine straffe Disziplin herrschte.
Mitte 1909 berief mich Genosse Mark nach Paris. Als ich dort eintraf, fand ich bereits einige aus Russland gekommene Genossen vor, den Sekretär des russischen Kollegiums des ZK, Dawydow—Golubkow, das Mitglied des ZK Meschkowskis Goldenberg, Michail Tomski, Donat (Schuljatikow aus Moskau) und andere. In Paris befanden sich zu jener Zeit außerdem Genosse Lenin, Genossin Krupskaja, ferner die Genossen Sinowjew, Kamenew, Mark und Innokenti. Am Tage nach meiner Ankunft fand in der Wohnung des Genossen Lenin eine nichtoffizielle Sitzung der erweiterten Redaktion des „Proletari" statt, an der die genannten Genossen teilnahmen. Faktisch war das eine Sitzung der Bolschewistischen Zentrale zusammen mit Vertretern aus Petersburg und Moskau und einigen extra eingeladenen Genossen, zu denen auch ich gehörte. Diese nichtoffizielle Sitzung dauerte, glaube ich, zwei Tage. Es wurden Fragen behandelt, die im Zusammenhang standen mit der weiteren Arbeit in Russland und der Stellungnahme der Partei zu den Otsowisten-Ultimatisten und den „Gottsuchern". Die Konferenz rückte einmütig von allen Abweichungen des Marxismus und Bolschewismus ab. Nachdem alle Resolutionen durchberaten und gebilligt worden waren, wurde die offizielle Sitzung eröffnet, an der außer den erwähnten Genossen Bogdanow, Marat (Schanzer) und noch ein Genosse teilnahmen. An der offiziellen Sitzung der Redaktion des „Proletari" nahm ich nicht teil. Die Beschlüsse der erweiterten Redaktion des „Proletari" formulierten klar die Stellungnahme der Bolschewiki zu den Fragen der Taktik und der Organisation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, formulierten eine Linie, die man bis zur Januarkonferenz des Jahres 1912 durchführte, auf der viele von diesen Beschlüssen durch Resolutionen neu bestätigt wurden. Zu jener Zeit existierten noch in den großen Städten Russlands Organisationen der Partei, ferner funktionierte, wenn auch mit Unterbrechungen, das Russische Büro des ZK, das nur noch aus Bolschewiki bestand, da die Menschewiki an den Arbeiten nicht teilnahmen. In der Parteipresse im Ausland nahm der Kampf gegen das Liquidatorentum schärfere Formen an. Im Januar—Februar 1910 tagte das Plenum des ZK in Paris. Wer von den aus Russland gekommenen Bolschewiki an dieser Plenumtagung teilgenommen hat, weiß ich nicht, denn ich persönlich war auf diesem Plenum nicht anwesend und wurde über den Verlauf der Konferenz von dem Genossen Nogin informiert. Unter den Bolschewiki im ZK bestanden Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Zusammenfassung aller Strömungen in der Partei. Die Genossen Nogin und Innokenti, denen die Mehrheit der bolschewistischen Mitglieder des ZK zustimmte, setzten im Plenum den allgemeinen Zusammenschluss (in Worten!) aller Richtungen innerhalb der Russischen Sozialdemokratie durch, mit einem einzigen Zentralkomitee und Zentralorgan aus Vertretern der Bolschewiki, der Menschewiki und der „Nationalen". Auf Grund des Beschlusses des Plenums des ZK mussten die menschewistischen Liquidatoren die Herausgabe ihrer Zeitung im Ausland „Golos Sozialdemokrata" („Die Stimme der Sozialdemokratie") einstellen, ins russische ZK drei Vertreter entsenden und bei dem Wiederaufbau der illegalen Parteiorganisationen mitwirken; ferner mussten auch die Bolschewiki ihr Fraktionsorgan „Proletari" schließen, ihre Druckerei, ihren Transportapparat und alle Geldmittel dem ZK übergeben, das dann ein Auslandsbüro des ZK schuf, mit je einem Vertreter der Bolschewiki, der Menschewiki, des Bundes, der Sozialdemokratie Polens und Litauens und der lettischen Sozialdemokratie. Da das ZK des lettischen Gebietes in seiner Mehrheit zu jener Zeit aus Bolschewiki bestand, so war das Auslandsbüro damals in seiner Mehrheit ein bolschewistisches. Das Plenum des ZK ernannte auch die Redaktion des Zentralorgans „Der Sozialdemokrat", die aus fünf Mitgliedern bestehen sollte, aus zwei Bolschewiki (Lenin und Sinowjew) zwei Menschewiki (Martow und Dan) und einem Vertreter der Sozialdemokratie Polens und Litauens (Warski). Das Plenum beschloss, die Wiener „Prawda" finanziell zu unterstützen, da es eine populäre Arbeiterzeitung war, und entsandte in ihre Redaktion als Vertreter den Genossen Kamenew Der Genosse Nogin berichtete mir über die Beschlüsse des Plenums und äußerte seine Freude darüber, dass es endlich gelungen sei, die Bolschewiki und Menschewiki zur praktischen Arbeit in Russland zusammenzufassen (Das Plenum hatte sowohl die Liquidatoren als auch die Otsowisten-Ultimatisten aufs entschiedenste verurteilt) und auch die „Nationalen" zur Mitarbeit heranzuziehen. Nur eins beunruhigte ihn: Genosse Lenin war ein entschiedener Gegner aller dieser Beschlüsse des Plenums, obwohl er sich dem Beschluss der Mehrheit des ZK der Bolschewiki unterwarf. Genosse Nogin erzählte mir mit Bitterkeit, dass Lenin nicht begreife, wie notwendig die Einigkeit für die Arbeit in Russland sei.
Die Bolschewiki führten den Beschluss des Plenums aus: sie stellten das Erscheinen ihres Organs ein, händigten eine größere Geldsumme Treuhändern (Kautsky, Mehring und Zetkin) aus und übergaben ihren ganzen technischen Apparat dem Auslandsbüro des ZK. Die Menschewiki aber stellten die Herausgabe ihrer eigenen Zeitung nicht ein, und niemand von ihnen trat in das russische Büro des ZK ein. Mehr noch: die Anhänger des „Golos Sozialdemokrata" in Russland traten offen gegen eine illegale Parteiorganisation, gegen das ZK und seine Organe auf. Die Zeitung selbst blieb auch nicht hinter ihren Parteifreunden in Russland zurück. Die Liquidatoren in Russland und im Ausland eröffneten nach der Plenumtagung des ZK einen wahren Kreuzzug gegen die illegale Parteiorganisation und insbesondere gegen die Bolschewiki. Es begann eine Hetze gegen die Anhänger einer illegalen Parteiorganisation in all den legalen Arbeiterorganisationen, an deren Spitze menschewistische Liquidatoren standen. Infolge der Versöhnungstaktik eines Teils der bolschewistischen Mitglieder des ZK wurde der Kampf gegen das Liquidatorentum sehr erschwert.
Dank der Versöhnungspolitik der bolschewistischen Mitglieder des ZK wurden die Bolschewiki nunmehr von dem Vertreter der Sozialdemokratie Polens und Litauens abhängig, der als fünfter der Redaktion des „Sozialdemokrat" angehörte; dank dieser Versöhnungspolitik wurden ferner die Bolschewiki sowohl in finanzieller als auch in technischer Hinsicht vom Auslandsbüro des ZK abhängig, und das abgelieferte Geld, das den Bolschewiki sehr gut hätte zunutze kommen können, war im Besitz der „Treuhänder". Ich habe bis 1917 den Genossen Nogin nicht wieder gesehen und habe daher nicht erfahren können, welchen Eindruck das Endergebnis der Beschlüsse des Plenums von 1910 auf ihn machte; die im Ausland lebenden, für die Versöhnungspolitik eintretenden Bolschewiki aber waren durch diesen Misserfolg keineswegs bestürzt.
Ende Dezember 1910 kam ich wieder nach Paris. Zur selben Zeit trafen dort aus Russland die Genossen Michail Mironowitsch (N. N. Mandelstamm) und A. I. Rykow ein. In einem russischen oder französischen Cafe kamen — ich weiß nicht mehr aus welchem Anlass — Mark, Ljowa, Rykow, ich, Michail Mironowitsch und Losowski zusammen. In dieser Zusammenkunft erklärte ich, dass es notwendig wäre, den wenigen in Russland bestehenden Parteiorganisationen zum 1. Mai, 22. Januar und bei ähnlichen Anlässen rechtzeitig Aufrufe und Flugblätter, gedruckt oder im Manuskript zuzusenden. Im letzten Falle würden die größeren Parteiorganisationen schon Mittel zur Vervielfältigung dieser Flugblätter finden. Ich erklärte, dass ich es übernehmen würde, die Flugblätter regelmäßig und rechtzeitig den russischen Parteiorganisationen zuzusenden.
Mein Vorschlag wurde angenommen, und die Pariser Genossen stellten zwecks Durchführung dieses Beschlusses eine Liste von Schriftstellern auf. In diese Liste nahmen die Genossen Mark, Ljowa und Losowski Schriftsteller aller Richtungen auf, darunter auch Martow. Lenin und Genosse Sinowjew aber wurden in diese Liste nicht aufgenommen. Das ist nun einmal immer das Geschick der Versöhnungsapostel: sie fangen damit an, das Unversöhnliche zu versöhnen und landen schließlich im Lager ihrer Feinde. Genau dasselbe geschah mit dem versöhnlichen ZK des Jahres 1904 und eben dasselbe passierte den versöhnlichen Bolschewiki in der von mir geschilderten Periode. Ich war durch die Nichtaufnahme bolschewistischer Schriftsteller in dieses Verzeichnis sehr empört und erzählte den Vorfall der Genossin Krupskaja und dem Genossen Lenin. Aus meinem Vorschlag wurde natürlich nichts. Nach der Rückkehr des Genossen Nogin nach Russland unternahm man wiederholt Versuche, ein Büro des ZK in Russland zu schaffen, aber alle Versuche endeten bis 1911 nur mit Verhaftungen.
Der bolschewistische Teil der Auslands-Zentrale traf alle Maßnahmen, um ein Büro des ZK in Russland zu schaffen. Einmal sandte ich einen Genossen zu dem polnischen Mitglied des russischen Büros des ZK, dem Genossen Ganetzki, nach Krakau. Dieser Genosse sollte den Genossen Ganetzki nach Moskau begleiten und ihn mit den Mitgliedern des russischen Büros des ZK in Verbindung bringen. Als er aber mit seinem Begleiter nach Moskau kam, waren die Mitglieder des ZK, mit denen er sich in Verbindung setzen sollte, bereits verhaftet. Die Bolschewiki machten damals ungeheure Anstrengungen in Russland und im Ausland und brachten geradezu kolossale Opfer, um nach den vielen Verhaftungen die lokalen Parteiorganisationen wieder auf die Beine zu bringen und das Büro des ZK in Russland wiederherzustellen. Sie führten in der Presse und in den Parteiversammlungen aufs entschiedenste den Kampf gegen das die Partei zersetzende Liquidatorentum. Diese Bemühungen der Bolschewiki wurden letzten Endes von Erfolg gekrönt.
Vor meiner Rückkehr nach Leipzig besuchte ich Genossen Lenin. In einem Gespräch über die Parteiverhältnisse in Russland und im Ausland kam auch die Rede darauf, dass es uns in Russland an einem autoritativen Parteiorgan fehle, das imstande wäre, alle vorhandenen Parteiorganisationen zusammenzufassen und die im Ausland lebenden Bolschewiki um sich zu gruppieren. Ich schlug den bolschewistischen Mitgliedern der Redaktion des Zentralorgans vor, die Organisation einer solchen Zentrale zu übernehmen. Genosse Lenin lächelte und sagte zu der gerade ins Zimmer tretenden Genossin Krupskaja: „Pjatnitza schlägt die Organisation eines Zentrums vor zur Wiederherstellung der zentralen Körperschaften der Partei". Es stellte sich heraus, dass Genosse Lenin und die mit ihm damals zusammenarbeitenden Genossen bereits einen Plan über die Einberufung einer Parteikonferenz ausgearbeitet hatten, von dem ich erst später erfuhr.
Während meines Aufenthalts im Auslande, als ich beim Literaturtransport war und die Verbindung mit dem Auslande und Russland bearbeitete, wurde ich oft von Berlin nach Genf und von Leipzig nach Paris gerufen. Pas war meistens der Fall in den Zeiten scharfer Meinungsverschiedenheiten in der Partei. Ich pflegte dann immer den Genossen Lenin zu besuchen. Wenn ich dann fragte: „Weshalb hat man mich hierherbestellt?" erhielt ich stets dieselbe Antwort: „Sehen Sie sich zuerst ein wenig um, treffen Sie sich mit den Genossen, und dann wollen wir das Weitere besprechen." Wenn ich dann — vor der Abreise — wieder zu ihm kam, fragte er mich: „Wie steht es? Wofür haben Sie sich entschieden?" Und erst nachdem ich ihm meine Ansicht über die Lage der Dinge mitgeteilt hatte, fing er an, mir seine Auffassung und seine Vorschläge auseinanderzusetzen. Vor dem Krieg hatte ich einen intensiven Briefwechsel mit der Genossin Krupskaja und dem Genossen Lenin geführt, leider habe ich aber die Briefe nicht behalten. Vor meiner im Sommer 1905 erfolgten Abreise nach Russland ließ ich mein Archiv, in dem auch die Briefe von Lenin und der Genossin Krupskaja enthalten waren, beim Genossen Ljadow in Genf (sowohl das Archiv des Genossen Ljadow als auch das meine ist verlorengegangen). Und als ich 1913 wieder nach Russland reiste, vernichtete ich meine ganze Korrespondenz.

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