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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Samara (1914)

In Samara traf ich am 16. April 1914 ein und machte mich noch am selben Tage an die Arbeit in den städtischen Elektrizitätswerken, wo die Maschinen für die Straßenbahn montiert wurden. Diese Arbeit war sehr interessant, aber ich hatte es nicht leicht, da ich alle Schlosser- und Bohrarbeiten selbst machen musste. Die Hilfsarbeiter wurden hier nämlich nicht von dem Besteller, sondern von Siemens und Schuckert selbst bezahlt; deshalb wurden zu wenig Hilfsarbeiter angestellt. Diese Arbeit war außerdem etwas ganz Neues für mich. Ich hatte hier mit einemmal mit Maschinen zu tun, die Wechselstrom in den für Straßenbahnen notwendigen Gleichstrom verwandelten, ferner mit Transformatoren und Apparaten von ganz verzwickter Konstruktion, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und obwohl ich nur 10 Stunden täglich arbeitete, wurde ich doch sehr müde, da ich abends noch für die Partei tätig war. Ich kam spät ins Bett und musste früh zur Arbeit, deshalb lehnte ich es ab, Überstunden zu machen, trotzdem es sich um eilige Arbeit handelte. Es gelang mir, den Genossen Wawilkin(Anm.: Den Genossen Wawilkin traf ich Ende 1917 und Anfang 1918 auf den Eisenbahnerverbandstagen, an denen er als Vertreter der Eisenbahner Samaras teilnahm. Während der Herrschaft der konstituierenden Versammlung in Samara begab er sich nach dem Ural und nach Sibirien, wo er anscheinend von den Satrapen Koltschaks umgebracht worden ist.) und andere, die als Aufwiegler von der Rohrefabrik gemaßregelt worden waren, bei uns unterzubringen. Leider konnte ich infolge meiner später erfolgten plötzlichen Verhaftung nicht bis zum Abschluss der Montagearbeit dableiben. Ich hätte dabei viel lernen und mir die Methoden der deutschen Monteure zu eigen machen können, die eingetroffen waren, um die Maschinen aufzustellen (Anm.: Die Arbeiten auf dem Gebiete der Elektrizität interessierten mich außerordentlich, so dass ich selbst in der Verbannung, soweit als das möglich war, die elektrotechnische Literatur verfolgte. Aus diesem Grunde besuchte ich auch, als ich im März 1917 aus der Verbannung nach Moskau zurückkehrte, die Versammlung der Moskauer Elektromonteure in der Brotbörse, wo darüber beraten wurde, ob ein besonderer Berufsverband der Elektromonteure gegründet werden oder ob man sich einfach dem Metallarbeiterverband anschließen sollte. Ich hatte die Absicht, bei den Elektromonteuren zu bleiben, aber das Moskauer Parteikomitee entschied anders und übertrug mir die Arbeit unter den Eisenbahnern, die mich dann auch vollkommen in Anspruch nahm.).
Gehen wir nun zur Schilderung meiner Parteiarbeit in Samara über.
Sobald es feststand, dass ich nach Samara reisen sollte, schrieb ich an die Genossin N. K. Krupskaja und bat sie, zu veranlassen, dass Genosse Grigori (Sinowjew) oder Genosse Iljitsch (Lenin) der Redaktion der in Samara erscheinenden Zeitung „Sarja Powolschja" („Die Morgenröte des Wolgagebiets") mitteilten, dass man mir vertrauen dürfe und mich mit Anhängern der Petersburger „Prawda" in Verbindung bringen solle. Die Genossen Lenin und Sinowjew ließen hin und wieder unter verschiedenen Decknamen ihre Artikel in der Wochenzeitung „Sarja Powolschja" erscheinen.
Nach meiner Ankunft in Samara suchte ich die Genossen auf, deren Adressen ich vor der Abreise aus Moskau erhalten hatte, aber niemand von ihnen konnte mich mit der Parteiorganisation von Samara in Verbindung setzen, die einen, weil sie selbst mit der Organisation nicht in Kontakt standen, die anderen, weil sie mir nicht recht trauten, da ich doch ganz ohne Parteiadressen gekommen und keinem Menschen in der Stadt persönlich bekannt war. Obwohl das Gebäude, in dem sich die Redaktion der „Sarja Powolschja" befand, stets bespitzelt wurde, ging ich jeden Tag hin, da ich den Brief von Genossen Lenin und Sinowjew aus Poronin erwartete. Bald fingen die Genossen in der Redaktion an, mich misstrauisch anzusehen, und fragten mich ganz genau darüber aus, wer ich sei, woher ich komme usw. Da ich nicht wusste, wer in der Redaktion saß, Bolschewiki oder Menschewiki, so konnte ich natürlich auf ihre Fragen nicht ausführlich antworten, was ihr Misstrauen mir gegenüber noch steigerte. Ich kam von nun an seltener in die Redaktion. Um aber schneller mit den Genossen in Samara in Kontakt zu kommen, schrieb ich mehrmals an Malinowski, der Mitglied der Dumafraktion war, und bat ihn, mich mit irgend jemand in Verbindung zu bringen.
Schließlich kam der langersehnte Brief aus Poronin an. Sofort änderte sich das Benehmen der in der Redaktion tätigen Bolschewiki mir gegenüber. Der Redaktionssekretär Stepan (Below), ein Bolschewik (während des Krieges wurde er Menschewik und trat für die Vaterlandsverteidigung ein, später tat er sich in der Konstituante in Samara hervor), machte mich mit den Parteiverhältnissen Samaras bekannt. Es sah dort nicht gerade sehr erfreulich aus. Eine wirkliche Organisation der Bolschewiki oder Menschewiki existierte in Samara überhaupt nicht, obwohl in vielen Betrieben gemischte Zellen aus Anhängern beider Richtungen bestanden. Die Menschewiki hatten einen legalen „Verein für vernünftige Unterhaltung" gegründet, dem auch Bolschewiki als Mitglieder angehörten. Dieser Verein veranstaltete populäre Vortragsabende, errichtete eine Bibliothek usw. In diesem Verein fanden auch Auseinandersetzungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki statt, aber in versteckter Form, nicht offen in Referaten und Diskussionen. Vorsitzender des „Vereins für vernünftige Unterhaltung" war irgendein Rechtsanwalt aus Samara, dessen Namen ich vergessen habe. Die Personen, die für den Verein den Behörden gegenüber politisch verantwortlich waren, sorgten dafür, dass in den Räumen des Vereins nichts Unerlaubtes geschah. An den Versammlungen und Vorlesungen durften nur Mitglieder des Vereins teilnehmen. Trotz aller Beschränkungen waren in den Räumen des Vereins fast immer Arbeiter zu finden. Auch die Parteigenossen trafen sich hier. Irgendwelche Versammlungen konspirativer Natur fanden in den Räumen des Vereins nicht statt, denn die Ochrana hatte dort gewiss ihre Späher.
Ein anderer Mittelpunkt der wirklich revolutionären Elemente der Arbeiterschaft von Samara war die Zeitung „Sarja Powolschja"; aber auch diese hatte keine bestimmte politische Physiognomie. Die Redaktion bestand aus zwei Bolschewiki und zwei Menschewiki, die zusammen das fünfte Redaktionsmitglied, nämlich den Sekretär, bestimmten. Im April 1914 war der Bolschewik Below Redaktionssekretär. Zu den Mitarbeitern der Zeitung gehörten Dan, Martow, Sinowjew und Lenin.
In Petersburg bekämpften sich „Prawda" und „Lutsch" auf Leben und Tod, in Samara aber schrieben zur selben Zeit in ein und derselben Zeitung die Führer der proletarischrevolutionären Richtung und die der pseudorevolutionären lakaienhaft-bürgerlichen Weltanschauung.
Nachdem ich noch einige Genossen in Samara kennen gelernt hatte, überzeugte ich sie von der Notwendigkeit und Möglichkeit der Schaffung einer besonderen illegalen bolschewistischen Organisation. Alle Voraussetzungen dafür waren vorhanden. Durch die Zeitung und den „Verein für vernünftige Unterhaltung" standen die einzelnen Bolschewiki mit den Zellen in den Betrieben in Kontakt. Aber eine wirkliche Organisation zu schaffen, wagten sie nicht. Sie waren der Ansicht, dass infolge der starken Bespitzelung alles bald durch die Gendarmerie und die Ochrana sowieso liquidiert werden würde. Anfang Mai fand in einer Schlucht in der Nähe der Rohrefabrik eine Versammlung der Bolschewiki statt. Als Vertreter der Fabrik nahmen an der Versammlung teil: Bednjakow, Wawilkin und noch ein Arbeiter, dessen Name mir entfallen ist. Ferner waren anwesend: vom Arbeiterkonsumverein Samara Stankewitsch, von der Redaktion Genosse Below und noch einige Genossen, deren Namen ich gleichfalls nicht behalten habe. In dieser Gründungsversammlung der bolschewistischen Organisation erstattete ich den Bericht über die Lage in der Partei, worauf Below bzw. Bednjakow uns über den Stand der Dinge in Samara unterrichteten. Nach einem regen Meinungsaustausch wurde beschlossen, ein provisorisches bolschewistisches Parteikomitee in Samara zu bilden, das die Einberufung einer Konferenz der Bolschewiki von Samara vorbereiten, die laufende Arbeit abwickeln und sich mit dem Zentralkomitee und dem Zentralorgan der Partei in Verbindung setzen sollte. In dieses provisorische Parteikomitee wählte man: Bednjakow, Below, mich, einen Büroangestellten Benjamin (den Familiennamen habe ich vergessen) und einen Arbeiter aus der Rohrefabrik. Mir wurde die Aufgabe gestellt, die Verbindung mit den zentralen Körperschaften der Partei herzustellen und den Vertrieb der „Prawda" und unserer Zeitschrift „Prosweschtschenje" zu organisieren.
Da mir Malinowski auf meine an ihn im April abgesandten Briefe nicht geantwortet hatte, so informierte ich das Auslandsbüro des Zentralkomitees über die Parteiverhältnisse in Samara und zwar schrieb ich an die Genossin Krupskaja. Mit ihr führte ich einen regen Briefwechsel. Ich schrieb ihr chiffrierte Briefe auf die mir bekannten ausländischen Adressen und erhielt die Antworten über Pensa, von wo aus sie mir der Genosse Itin übersandte, mit dem ich in Berlin und in Odessa zusammengearbeitet hatte. Er war es auch, der mir eine ausgezeichnete Deckadresse in Pensa bei der landwirtschaftlichen Bank verschafft hatte, wodurch die Sicherheit gegeben war, dass die Auslandspost nicht geöffnet werden bzw. verloren gehen konnte. Von Pensa nach Samara aber war das Risiko für die Post geringer. Nach dem Austritt Malinowskis aus der Duma verlor ich den Kontakt mit dem russischen Zentralkomitee, mit dem ich nur durch Malinowski verbunden war. An die anderen Mitglieder unserer Dumafraktion aber wollte ich nicht schreiben, denn meine Parteinamen waren ihnen nicht bekannt. Das zwang mich, sogar bei Auskünften über rein russische Angelegenheiten auch das Auslandsbüro des Zentralkomitees anzutragen.
Zwecks Organisation des Vertriebs der „Prawda" und der „Prosweschtschenje" machten mich die Parteigenossen von Samara mit einem Genossen bekannt, der unter den Arbeitern der Fabriken und Werkstätten legale Arbeiterliteratur verbreitete. Ich wandte mich an Miron Tschernomasow von der „Prawda" und an Max Saweljew von der Zeitschrift „Prosweschtschenje" mit der Bitte, diesem Genossen die jeweilig von ihm geforderte Zahl von Druckschriften zuzusenden. Ich versprach gleichzeitig, für pünktliche Ablieferung der Gelder zu sorgen. Auf diese Weise wurde unsere Literatur auch in Samara verbreitet.
Die Mitglieder des provisorischen Parteikomitees trafen sich sehr häufig in den Räumen des „Vereins für vernünftige Unterhaltung" und in den Restaurants und Stadtgärten. Die Sitzungen des provisorischen Parteikomitees, die sehr oft stattfanden, wurden stets auf Booten oder in den Stadtgärten abgehalten. Der Kontakt des Parteikomitees mit den Parteigenossen in den Fabriken und Betrieben erweiterte sich immer mehr, infolgedessen war das Parteikomitee über die Stimmung der breiten Massen der Arbeiterschaft gut unterrichtet. Der Austritt Malinowskis aus der Duma am 8. Mai 1914 rief unter den Arbeitern Unwillen und Empörung hervor. Deshalb verurteilte das provisorische Parteikomitee die Handlungsweise Malinowskis in einer scharfen Resolution, die ich dem Auslandsbüro des Zentralkomitees zur Veröffentlichung übersandte.
Ende Mai wurde der Vorschlag gemacht, die „Sarja Powolschja" öfter als einmal in der Woche erscheinen zu lassen. Die Redaktion der Zeitung beschloss, eine erweiterte Sitzung der Redaktion einzuberufen unter Hinzuziehung von Vertretern der Betriebszellen Samaras. Aber weder der Sekretär der Redaktion, Below, noch die anderen bolschewistischen Redaktionsmitglieder hatten diese Frage auf die Tagesordnung einer Sitzung des provisorischen Parteikomitees gestellt. Am Sonnabend abend, kurz vor der erweiterten Redaktionssitzung, traf ich Below, der mir von dieser Sitzung Mitteilung machte. Als ich ihm die Frage stellte, auf wessen Initiative die Sitzung einberufen worden sei und welche Fragen auf der Tagesordnung stünden, erwiderte er, dass die beiden menschewistischen Mitglieder der Redaktion diesen Vorschlag gemacht hatten, um die Frage der Verbesserung des Vertriebs und desöfteren Erscheinens der Zeitung zu besprechen. Auf meine Frage, ob die Menschewiki nicht einfach den Versuch machen wollten, Neuwahlen für die Redaktion durchzusetzen, erwiderte Below, dass daran gar nicht zu denken sei. Er fügte noch hinzu, dass ich misstrauisch sei und immer glaube, ich hätte es mit den Menschewiki aus der Hauptstadt zu tun. Dieses ganze Gespräch zwischen mir und Below hat, wenn ich nicht irre, in Gegenwart von Anna Nikiforowa stattgefunden. Am Montag nach der Arbeit begegnete ich dem Genossen Below am vereinbarten Orte und meine erste Frage galt dem Ergebnis der Sitzung des erweiterten Redaktionsplenums. Below erzählte mir ganz seelenruhig, dass die Vertreter der großen Betriebe zur Sitzung nicht erschienen wären und dass die Menschewiki dies ausgenutzt und Neuwahlen der Redaktion vorgeschlagen hätten. Dieser Vorschlag wäre dann auch angenommen worden. Die Menschewiki hätten drei ihrer Genossen und zwei Bolschewiki in die Redaktion hineingewählt, darunter auch ihn, Below. Er aber habe sich kategorisch geweigert, der neuen Redaktion anzugehören, weil die Menschewiki nicht loyal gehandelt hätten. Meine Empörung über die Schlamperei der bolschewistischen Redaktionsmitglieder, die nicht einmal im provisorischen Parteikomitee die Frage der Vorbereitung zu dieser Plenarsitzung der Redaktion gestellt hatten, kannte keine Grenzen. Noch mehr brachte mich aber die Tatsache auf, dass Below sich geweigert hatte, in die Redaktion einzutreten und ganz einfach seinen Posten als Redaktionssekretär verlassen hatte, ohne vorher mit uns gesprochen zu haben; denn durch sein Ausscheiden bekamen die Menschewiki die Redaktion kampflos in ihre Hände. Bereits in der ersten darauf folgenden Sitzung des provisorischen Parteikomitees wurde beschlossen, die Zeitung um jeden Preis wiederzuerobern, obwohl Below den Antrag einbrachte, ein eigenes Wochenblatt erscheinen zu lassen. Sein Antrag wurde jedoch entschieden abgelehnt. Wir Bolschewiki eröffneten eine Agitationskampagne in den Betrieben und Werkstätten gegen die menschewistische Richtung der Zeitung und für die Umwandlung der „Sarja Powolschja" in ein Blatt bolschewistischer Richtung. Während dieser Kampagne bezeichneten wir uns als „Prawdisten" und die Menschewiki als „Lutschisten". Die Arbeiter begriffen denn auch ausgezeichnet, dass hier ein Kampf zwischen Bolschewiki und Menschewiki vor sich ging. Trotz der öfteren Beschlagnahme arbeitete die „Sarja Powolschja" ohne Defizit, denn sie wurde die ganze Zeit von Arbeitern unterstützt. Als aber die Zeitung vollkommen in die Hände der Menschewiki geriet, als Dan, Martow und Co. die Spalten zu füllen begannen und die Bolschewiki jede Mitarbeit einstellten, da hörten auch die Arbeiter auf, sich für die Unterstützung dieses Blattes etwas vom Munde abzusparen. Bereits während der ersten Woche der menschewistischen Herrschaft fielen die Eingänge von 89 Rubel in der Woche auf nur 15 Rubel. Für die völlige Genauigkeit dieser Zahlen kann ich mich nicht verbürgen, sie sind mir so im Gedächtnis haften geblieben und geben jedenfalls das allgemeine Bild richtig wieder.
Als der Boden durch unsere Agitation genügend vorbereitet war, verlangten wir die Einberufung einer erweiterten Redaktionssitzung der „Sarja Powolschja" zur Klärung der Frage der Richtung des Blattes, was gleichbedeutend war mit einer Befragung all der Mitglieder und Sympathisierenden unserer Partei, die in den Betrieben standen. Zu diesem Zweck wurden in den Betrieben Versammlungen von Parteimitgliedern und Sympathisierenden abgehalten, in denen sowohl Bolschewiki als auch Menschewiki auftraten und die taktischen und organisatorischen Auffassungen der beiden Strömungen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auseinandersetzten. Am Schluss dieser Versammlungen wurde darüber abgestimmt, ob die Arbeiterzeitschrift Samaras im Sinne der „Prawda" oder des „Lutsch" redigiert werden soll. Darauf wählte man Delegierte zu der Redaktionskonferenz, die über diese Frage endgültig zu beschließen hatten. Am 8. Juni versammelten sich die Delegierten der Betriebszellen in einer Sommerwohnung, mussten aber rasch wieder auseinander gehen, da sich Polizei und Spitzel bereits dem Versammlungsort genähert hatten. Das provisorische Parteikomitee konnte vor Einberufung der erweiterten Redaktionssitzung, die eigentlich eine Konferenz war, nicht zusammenkommen, da alle seine Mitglieder als Referenten der Bolschewiki an den Betriebsversammlungen teilnahmen. Deshalb wussten wir nicht genau, wer die Mehrheit hinter sich hatte. Nachdem aber die Versammlung aufgelöst worden war, rechneten wir nach und stellten dabei fest, dass wir mehr als zwei Drittel der Stimmen bekommen hatten. Die Konferenz wurde auf den nächsten Sonntag verschoben.
Gleich nach dem Beginn der Kampagne, die das provisorische Parteikomitee zur Eroberung der Zeitung begonnen hatte, wandte ich mich an das Auslandsbüro des Zentralkomitees mit der Frage, ob es in der Lage sei, uns für die Sarja Powolschja" Artikel über allgemein politische Fragen zu liefern, da wir in Samara nur wenige Schriftsteller hatten. Als Antwort erhielt ich ein Schreiben des Genossen Lenin, in dem er unseren Beschluss guthieß und die Unterstützung durch die literarischen Kräfte der Bolschewiki zusagte. Er bat, im Fall eines Sieges ein Telegramm mit vereinbartem Text abzusenden, und versprach, gleich nach Einlauf dieses Telegrammes die Artikel für unsere erste Nummer einzusenden. Genosse Lenin hob noch in seinem Schreiben die Bedeutung der „Sarja Powolschja" für alle an der Wolga gelegenen Städte hervor. Außerdem setzte ich mich in dieser Angelegenheit noch mit einem Bolschewik in Verbindung, der unserer Organisation fernstand und dessen Adresse ich in Moskau bekommen hatte. Damals war er in der Semstwo zu Samara tätig. Seinen Namen habe ich vergessen.
Die zum zweiten Mal zusammengekommenen Delegierten konnten auch die für den 15. Juni im Walde einberufene Versammlung nicht abhalten, da noch vor Beginn der Versammlung die Patrouille, die wir in der Nähe des Versammlungsortes aufgestellt hatten, durch ein vereinbartes Lied zu verstehen gab, dass in der Nähe Polizei aufgetaucht war. Nun beschloss man, in Booten auf das andere Ufer der Wolga hinüberzusetzen und dort die Versammlung abzuhalten, weil es nicht möglich war, den Beschluss über diese Frage länger hinauszuziehen. Als wir am anderen Ufer angelangt waren, begaben wir uns auf einen Hügel, der von Wald umgeben war und von dem aus wir alles sehen konnten, was auf der Wolga vor sich ging. Obwohl die Versammlung weit von der Stadt abgehalten und der Versammlungsort gewechselt worden war, waren fast alle bolschewistischen Delegierten erschienen. Das Referat über die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Redaktion hielt ein ehemaliges Redaktionsmitglied, der Bolschewik Genosse Kukuschkin, und das Korreferat ein menschewistischer Redakteur. Dann fand eine rege Diskussion statt, und die Abstimmung ergab drei Viertel der Stimmen für die bolschewistische Richtung der Zeitung. Charakteristisch war, dass für die Bolschewiki die Arbeiter der Rohrefabrik und anderer großer Betriebe stimmten, für die Menschewiki, dagegen die Vertreter der Bäckereien und anderer Kleinbetriebe. Die Konferenz wählte eine neue Redaktion: fünf Bolschewiki, von denen vier zu Redakteuren bestimmt wurden, während der fünfte nur als Kandidat galt; den Menschewiki wurde das Recht eingeräumt, aus ihrer Mitte ein Redaktionsmitglied zu stellen, worauf sie aber verzichteten. Nun bestand die Redaktion aus den Bolschewiki: Below, Bednjakow, Kukuschkin (einem Buchdrucker) und dem Genossen, der in der Semstwo beschäftigt war, dessen Name mir aber entfallen ist; zum Kandidaten wurde Benjamin, ein Mitglied des provisorischen Parteikomitees bestimmt. Gleich nachdem ich von der Konferenz zurückkehrte, sandte ich an Genossen Lenin das vereinbarte Telegramm mit der Nachricht über unseren Sieg Die erste Nummer der „Sarja Powolschja", die dann erschien, erblickte ich erst, als ich bereits im Gefängnis saß, denn schon am Tage darauf wurde ich verhaftet. Die erste Nummer enthielt einen guten Leitartikel: „Reform oder Reformen?", der den Lesern ankündigte, dass die Zeitung von nun an im Geiste der „Prawda" wirken werde. Die Arbeiter begrüßten begeistert die neue Richtung der Zeitung, was die massenhaft eingegangenen Begrüßungsschreiben und die auf einmal gestiegenen Geldüberweisungen deutlich bewiesen. Als kurz vor dem Kriege die revolutionäre Welle plötzlich anwuchs, verbot die Polizei diese Zeitung genau so wie die Petersburger „Prawda" und nahm unter den Bolschewiki zahlreiche Verhaftungen vor.
Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten hat die „Sarja Powolschja" doch eine große Rolle in der Arbeiterbewegung Samaras jener Zeit gespielt. Ende Mai oder Anfang Juni 1914 erhielt ich von dem ausländischen Büro des Zentralkomitees den Auftrag, eine Parteikonferenz des Wolgagebiets einzuberufen und die Wahlen zum internationalen Sozialistenkongress vorzubereiten, der am 15. August 1914 in Wien hätte stattfinden sollen. Gleichzeitig wurden wir auch aufgefordert, die Wahlen für den bevorstehenden Parteitag vorzunehmen. Ich erhielt die Direktive, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Arbeiter, die auf den verschiedenen Gebieten der Arbeiterbewegung tätig waren, als Delegierte gewählt werden sollten. Da ich allein außerstande war, das ganze Wolgagebiet zu bereisen (ich arbeitete ja an dem Bau der Straßenbahn, und die Arbeit war eilig), so vereinbarte ich mit dem Genossen Kukuschkin und der Genossin Anna Nikiforowa (sie arbeitete in Sysranj, kam aber sehr oft nach Samara, wo wir uns öfters trafen), dass sie diese Arbeit übernehmen sollte. Sie hatten alle an der Wolga gelegenen Städte zu besuchen, festzustellen, welche Organisationen dort bestanden, und mit ihnen einen Kontakt herzustellen. Danach sollte die Parteikonferenz des Wolgagebiets einberufen werden, die die Leitung des Wolgabezirks und die Delegierten zum Parteitag zu wählen hatte. In Verbindung damit sollten die Genossen dazu auffordern, in jeder Stadt auch die Wahlen zum internationalen Kongress in Wien vorzunehmen Die Ergebnisse der Reise der beiden Genossen erfuhr ich nicht, da ich zu der Zeit bereits im Gefängnis steckte. Die Ereignisse aber, die Ende Juli 1914 über uns hereinbrachen, machten die Einberufung sowohl des Wiener Kongresses als auch unseres Parteitages unmöglich.

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