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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Eine Woche in Poronin (Ende Juni 1915)

In Poronin verbrachte ich beim Genossen Lenin und Genossin N. K. Krupskaja etwa sieben Tage. Sie bewohnten ein einstöckiges Bauernhaus. Unten wohnten Lenin, Krupskaja und ihre Mutter, oben aber gab es noch ein oder zwei Zimmer, die offenbar für Gäste bestimmt waren, denn als ich eintraf, wohnte bereits Genosse Kamenew dort. Auch ich wurde dort untergebracht. Am anderen Ende Poronins wohnte Genosse Sinowjew und Genossin Lilina. Genosse Lenin arbeitete und ging auch hier in Poronin zu ganz bestimmten Stunden spazieren, genau so wie in Paris, Genf und London, wo ich Gelegenheit gehabt hatte, ihn zu sehen. Obwohl es fast während der ganzen Zeit, die ich in Poronin verbrachte, regnete, ging Lenin zu Fuß oder fuhr per Rad in die Umgegend Poronins, das sehr malerisch gelegen ist. Von Poronin hatte man einen sehr schönen Blick auf die Berge von Zakopane. Oft begleitete auch ich Genossen Lenin bei seinen Spaziergängen. Einmal fuhren wir nach der Stadt Zakopane, die nicht weit von Poronin entfernt ist. Von dort aus begaben wir uns für einen ganzen Tag in die Berge, um dort, wenn ich nicht irre, das so genannte „Meeresauge" zu bewundern. Mit uns kam noch ein Genosse, aber ich kann mich nicht genau erinnern, ob es Genosse Ganetzki war, der damals in Poronin wohnte, oder Genosse Kamenew. Ich weiß nur, dass dieser Genosse nicht bis zum Schluss mit uns aushielt. An diesem Tage hatte es mindestens zwanzigmal zu regnen angefangen, und in der Zwischenzeit strahlte dann wieder die Sonne.
Wir wurden gründlich durchnässt. Während der Regenschauer versteckten wir uns mitunter in kleinen Hütten, die sehr an die sibirischen Etappenhütten erinnerten und speziell für Touristen errichtet worden waren, damit sie während des Unwetters dort Zuflucht finden können. Wir kletterten lange und stiegen immer höher die Felsen hinauf, wobei wir uns an eisernen Klammern festhielten, die in die Felsen eingelassen waren. Den größten Teil des Weges musste man auf einem Pfad zurücklegen, der an einem Abgrund entlang führte. Die Landschaft war ungewöhnlich schön. Als wir aber unser Ziel erreichten, stellte sich heraus, dass die Wolken die ganze Aussicht verdeckten, so dass wir nichts sehen konnten. Dreimal fingen wir den Abstieg an und dreimal — sobald sich die Sonne nur zeigte, — kletterten wir wieder hinauf, bis wir schließlich in einen Abgrund hineinsehen konnten, der mit reinstem Schnee gefüllt war. Spät in der Nacht kehrten wir durchnässt und durchfroren nach Poronin zurück. Dieser Ausflug ist in meinem Gedächtnis unauslöschlich haften geblieben. Auch Genosse Lenin vergaß ihn nicht. Als in den Jahren 1918—1919 zwischen dem Volkskommissariat für Verkehrswesen, der Bezirksleitung der Moskauer Eisenbahner und dem Zentralvorstand des Eisenbahnerverbandes, in dem ich damals tätig war, Reibereien entstanden, erklärte mir Lenin wiederholt im Scherz, es wäre besser gewesen, wenn er mich während des Ausflugs in den Bergen von Zakopane in den Abgrund gestoßen hätte.
Auf einem dieser Spaziergänge setzte mir Lenin seinen Plan der Vorbereitung des Parteitages auseinander. Diese Frage sollte auf einer im Herbst 1913 geplanten Beratung aufgeworfen werden, und ich erhielt den Auftrag, den südrussischen Genossen die Einladung zu dieser Beratung zu überbringen. Lenin beabsichtigte, die Sozialdemokraten des lettischen Gebietes und die Opposition in der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens („Raslomowzy") zum Parteitag einzuladen, und überlegte deshalb, wen er von den Genossen zu den Letten senden könnte. Ich hatte nichts gegen die Einladung der polnischen Opposition, forderte aber kategorisch auch die Einladung von Vertretern des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens. Gleichzeitig schlug ich vor, auch die lokalen Organisationen der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens von dieser Einladung in Kenntnis zu setzen, damit diese im Voraus wissen sollten, dass es nicht die Schuld der Bolschewiki war, wenn ihre Führer zu dem von den Bolschewiki einberufenen Parteitag nicht erscheinen wollten und sich damit selbst außerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Russlands stellten. (Zwischen den Bolschewiki und dem Vorstand der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" bestanden Meinungsverschiedenheiten über organisatorische Fragen und den Wiederaufbau der „Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei".) Darauf entgegnete mir Genosse Lenin, dass man jetzt nicht mehr diplomatisieren dürfe, sondern eine kampffähige Partei schaffen müsse. Das Wesentliche sei, dass die „Sozialdemokratische Partei Polens und Litauens", selbst wenn sie am Parteitag teilnähme, ja nur die Arbeit zu bremsen versuchen würde.
Obwohl der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens zu der Prager Parteikonferenz vom Januar 1912 eingeladen worden war, hatte er es abgelehnt, daran teilzunehmen. Er hatte vielmehr der Parteikonferenz vorgeschlagen, einige Genossen zu bestimmen für die Führung von Verhandlungen über die Einberufung einer wirklichen Konferenz der Gesamtpartei, an der alle Richtungen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, auch die „nationalen" teilnehmen sollten. Auch übte der Vorstand der SPP und L durch Genossin Rosa Luxemburg auf die deutschen „Treuhänder" einen Druck aus, damit sie den Bolschewiki keine Gelder übermitteln, die man in den Jahren 1912—1913 so nötig zur Erweiterung der Arbeit brauchte.

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