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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Parteiarbeit in Moskau (1906—1908)

Nach Moskau kam ich Anfang September 1906. Gleich nach meiner Ankunft stellte ich fest, dass der mir vom Genossen Gussew angegebene Treffpunkt aufgeflogen war und dass Genosse Gussew selbst sich nicht mehr in Moskau befand. Er war entweder verreist oder verhaftet worden. Trotzdem gelang es mir schnell, mit dem Moskauer Parteikomitee in Verbindung zu kommen. Ich traf ganz zufällig auf der Straße die Genossen Bur und Swerj. Von ihnen erfuhr ich, dass man mich für die Arbeit als Sekretär des Moskauer Parteikomitees hergerufen hatte, da Genosse Viktor (Taratuta) eine andere Arbeit übernehmen sollte. Gleichzeitig teilten sie mir auch die Meldestelle des Parteikomdtees mit. Ich ging sofort hin und traf dort den Genossen Viktor, der mir mitteilte, dass das Parteikomitee beschlossen habe, mir den ganzen konspirativen technischen Apparat der Moskauer Organisation zu übergeben.
War es letzten Endes nicht ganz gleich, was für eine Arbeit man ausführte, wenn sie nur für die Partei notwendig und nützlich war?
Ich übernahm also diese Arbeit. Und Arbeit gab's zu jener Zeit in Moskau genug, die Kräfte reichten nicht aus.
In Moskau war die Stimmung der leitenden Genossen, mit denen ich jeden Tag zu tun hatte, eine gehobene, kampflustige. Von jener niedergeschlagenen und verzweifelten Stimmung, die vor meiner Abreise die Odessaer Genossen erfasst hatte, war hier keine Spur vorhanden.
Die Moskauer Organisation gliederte sich in folgende Verwaltungsbezirke: Zentrum, Samoskworjetzki, Rogoschski, Lefortowski, Sokolnitscheski, Butyrski, Presnenski-Chamownitscheski und Eisenbahnbezirk.
Einige Bezirke waren noch in Unterbezirke eingeteilt. Sowohl die Bezirke, als auch die Unterbezirke (wo solche bestanden) standen mit den „Betriebsversammlungen" (jetzt Betriebszellen), mit den Betriebskomitees oder Betriebskommissionen (jetzt Zellenleitungen) in Verbindung. Die Vertreter der Betriebskomitees in jedem Bezirk nahmen die Berichte der Bezirksleitung und des Moskauer Parteikomitees entgegen und entsandten ihre Vertreter zu den Stadtkonferenzen, auf denen 1906 noch das Moskauer Parteikomitee gewählt wurde.
Sowohl die Verwaltungsbezirks-Delegiertenversammlungen als auch die Stadtkonferenzen wurden zu jener Zeit periodisch einberufen. Das Moskauer Parteikomitee und alle Bezirksleitungen richteten damals ihr Hauptaugenmerk auf die Verbindung mit den Arbeitern in den Betrieben, und der Kontakt war wirklich ein sehr fester; denn die Bezirksleitungen und Unterbezirksleitungen waren mit den Belegschaften aller Werke, Fabriken, Druckereien und sonstiger Industrieunternehmungen ihrer Bezirke oder Unterbezirke eng verbunden.
Ich musste mich oft an Parteimitglieder, die in den verschiedensten Produktionszweigen tätig waren, wenden, um Inventar für die Druckerei oder sonstige technische Dinge zu bekommen. Ich brauchte bloß bei irgend einer Organisation der Moskauer Bezirke anzufragen, und diese setzte mich sofort mit Parteimitgliedern jedes gewünschten Betriebes in Verbindung. Das Moskauer Parteikomitee hatte auch eine militärische Organisation, die eine eigene Zeitschrift „Das Soldatenleben" herausgab. Diese militärische Organisation hatte gute Verbindungen zu Soldaten fast aller Truppenteile. Und in vielen Truppenteilen waren die Parteimitglieder oder Sympathisierenden zu Gruppen zusammengefasst. Die militärische Organisation war von der Moskauer Parteiorganisation völlig getrennt. Nur die Leitung stand mit dem Moskauer Parteikomitee in engem Kontakt und in Ausnahmefällen auch mit dieser oder jener Bezirksleitung. Das Moskauer Parteikomitee führte eine systematische Arbeit in den nicht gerade zahlreichen Gewerkschaften Moskaus — unter den Textilarbeitern, den Straßenbahnern usw. Der Tätigkeit der Moskauer Parteileitung ist die Entstehung des „Zentralbüros der Gewerkschaftsverbände" in Moskau zu verdanken, das alle damals bestehenden Gewerkschaftsverbände zusammenfasste. Der Einfluss der Bolschewiki war sowohl in den einzelnen Verbänden als auch im Zentralbüro sehr groß.
Beim Moskauer Parteikomitee bestand auch ein militärtechnisches Büro, das die Aufgabe hatte, einfache Kampfwaffen (Bomben) zu erfinden, zu prüfen und im Bedarfsfalle in größeren Mengen herzustellen. Dieses Büro arbeitete denn auch die ganze Zeit hindurch an der Lösung der ihm gestellten Aufgaben, und zwar vollkommen isoliert von der Moskauer Organisation; die Verbindung mit der Moskauer Organisation wurde ausschließlich durch den Sekretär der Moskauer Parteileitung vermittelt.
Ferner hatte das Moskauer Parteikomitee noch eine sozialdemokratische Studentenorganisation, die mit allen höheren und vielen Mittelschulen Moskaus in Verbindung stand.
Und schließlich besaß das Moskauer Parteikomitee ein Lektorenkollegium, ein Schriftstellerkollegium, eine Finanzkommission und einen zentralen technischen Apparat, dem die Drucklegung und Verbreitung der Literatur sowie die Anfertigung von Pässen für die Funktionäre der Moskauer Organisation oblag. Eben diesen zentralen technischen Apparat sollte ich leiten.
Das Moskauer Parteikomitee arbeitete ausschließlich in Moskau. Das Moskauer Gouvernement aber wurde vom Moskauer Kreiskomitee bearbeitet, das sich ebenfalls in Moskau befand. Außerdem hatte in Moskau seinen Sitz das „Büro des zentralrussischen Industriegebiets", das außer der Moskauer Organisation und der Moskauer Kreisorganisation noch eine Reihe von Gouvernementsorganisationen umfasste: Jaroslaw, Kostroma, Nishni Nowgorod, Iwanowo-Wosnessensk, Tambow, Woronesch usw. Obwohl das Gebietsbüro und das Kreiskomitee vollkommen selbständig arbeiteten, kam es oft vor, dass die Tätigkeit aller drei Leitungen sich kreuzte (Anm.: Nach der Februarrevolution bzw. kurz vor der Revolution 1917 begannen alle diese Organisationen wieder in der oben beschriebenen Art zu funktionieren. Erst in den Jahren 1919—1920 wurde das Gebietsbüro aufgelöst und das Kreiskomitee mit dem Moskauer Komitee verschmolzen.).
Als ich mich mit den Verhältnissen in der Moskauer Organisation bekannt machte, fiel mir vor allem deren enger Kontakt mit dem Lande auf, obwohl das Moskauer Parteikomitee nur in Moskau arbeitete. Während der kurzen Zeit des Bestehens einer eigenen großen Druckerei — 8 Monate — gab das Moskauer Parteikomitee vier Flugblätter für die Bauern in einer Auflage von 140 000 Exemplaren heraus und druckte das Agrarprogramm 'der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in einer Auflage von 20000 Exemplaren. Außerdem wurde eine für damalige Begriffe kolossale Menge von Literatur und Flugblättern über verschiedene Tagesfragen ins Dorf gebracht. Diese Literatur wurde von den Moskauer Arbeitern und Arbeiterinnen verbreitet, die an allen großen Feiertagen aufs Land fuhren. Vor solchen Feiertagen gab das Parteikomitee speziell Flugblätter heraus, und der technische Apparat suchte die für die Bauern geeignete Literatur zusammen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen holten bei uns auch Literatur, wenn jemand vom Lande sie besuchte. In Odessa dagegen hatte man, so weit ich mich erinnern kann, während der ganzen Zeit meiner Tätigkeit im Parteikomitee die Frage des Kontaktes mit den Bauern kein einziges Mal behandelt.
Im Jahre 1906 und in der ersten Hälfte des Jahres 1907 stand die ganze Arbeit der Moskauer Organisation im Zeichen der herannahenden Massenbewegung der Arbeiter und Bauern, die zum bewaffneten Kampf gegen den Zarismus führen musste. Die Proklamationen und Resolutionen des Moskauer Parteikomitees, des Kreiskomitees und des Gebietsbüros aus jener Zeit waren von Kampfesgeist erfüllt. In diesem Sinne wurden auch zwei Kampagnen Ende 1906 und Anfang 1907 durchgeführt, nämlich die Wahlen zur II. Duma und die Rekrutierungskampagne, an deren Durchführung auch ich, gleich nach meiner Ankunft, teilnahm. Für die Rekrutierungskampagne hatte das Moskauer Komitee eine Musterentschließung ausgearbeitet, die auf Militärdienstverweigerung hinauslief und in den Dorfgemeindeversammlungen angenommen werden sollte. In der Entschließung hieß es, dass die Zarenregierung die Dienstpflichtigen in diesem Jahre zum Militär einberufe, um sie gegen ihre eigenen Brüder zu verwenden, dass diese Regierung ganz Russland ruiniert habe und dem Volke weder Freiheit noch Land geben wolle usw., und dass deshalb die Dorfgemeindeversammlung beschließe, der Zarenregierung keine Rekruten mehr zu geben. Sollten die jungen Burschen aber mit Gewalt genommen werden, so befehle die Versammlung den Rekruten, nicht auf ihre Brüder, die Arbeiter und Bauern, zu schießen, sondern bewaffnet zum Volk überzutreten; sollten sie trotzdem auf das Volk schießen, so werde man sie nach der Rückkehr vom Militär aus dem Dorf verjagen. Dieser Kampagne legte das Moskauer Komitee große Bedeutung bei. In welchem Umfange solche Entschließungen damals auf dem Lande angenommen wurden und welche Ergebnisse die Kampagne zeitigte, weiß ich nicht mehr, aber in den Betrieben und Werkstätten wurden die Rekruten des Jahrganges 1906 durch die Bezirks- und Unterbezirksorganisationen tüchtig bearbeitet.
Man organisierte Zirkel unter ihnen, in denen sie über das Wesen des Zarismus und über ihre eigene Rolle als künftige Soldaten aufgeklärt wurden, für den Fall, dass eine kollektive Dienstverweigerung nicht gelingen sollte. Die Rekrutierungskampagne hatte in der Stadt unter den Rekruten-Arbeitern zweifellos eine große praktische Bedeutung.
Nun will ich zur Schilderung meiner Parteiarbeit in Moskau übergehen.
Vor allen Dingen musste ich mich mit der Lage der Druckerei des Moskauer Komitees vertraut machen. Die Verbindung stellte die Genossin Helene her. Sie machte mich deshalb mit dem „Besitzer" der Druckerei, dem Genossen Arschak (Jakubow) bekannt.
Nach einer gründlichen Prüfung meiner Befähigung zur Übernahme der Leitung des gesamten konspirativen technischen Apparats der Moskauer Organisation, führte mich Genosse Arschak zu den Genossen Sandro (Jaschwili) und G. Sturua, die eigentlich die Seele der Druckerei waren und selbst in ihr als Setzer und Drucker arbeiteten. Wir verständigten uns über alles Notwendige und stellten unter uns ein sachliches, kameradschaftliches Verhältnis her. Noch ehe ich mich an die Arbeit machte, begab ich mich in die Druckerei, um persönlich festzustellen, ob in konspirativer Hinsicht alles in Ordnung sei.
Nachdem ich die Adresse erhalten hatte, prüfte ich zunächst, wie die Druckerei gelegen war. Die Lage der Druckerei befriedigte mich allerdings nicht. Die Druckerei befand sich in einem Laden, im dritten Haus von der Straßenecke aus, wo die Sretjenka und der Roschdestwenski-Boulevard sich kreuzen. Obwohl von der einen Seite die belebte Sretjenka abging, befand sich doch dem Hause gegenüber ein Gebäude, durch dessen Fenster man alles sehen konnte, was in dem Laden vorging und schräg gegenüber war der Boulevard, von wo aus die Druckerei unauffällig beobachtet werden konnte. Zu alledem stand nahe der Straßenecke, gerade dem Laden gegenüber, ein Polizist.
Nach der äußeren Besichtigung trat ich in den Obstladen als Käufer ein. Das Schild war solider als die Waren, die sich im Laden befanden. — Der Laden trug das pompöse Schild: „Lager kaukasischer Früchte", und man hätte beinah meinen können, es sei ein Engrosgeschäft. Im Geschäft fand ich den Genossen Arschak vor den Rechnungen sitzend und den Weber K. A. Wulpe bei der Arbeit als Verkäufer. Nachdem ich verschiedenes Obst gekauft hatte, begab ich mich hinter den Ladentisch und ging in den Keller hinunter. So weit ich mich erinnern kann, war dieser Keller noch kleiner als der Laden. Dort fand ich die Genossen Sandro (Jaschwili — jetzt Stellvertretender Volkskommissar für Arbeit in Georgien) und Sturua (jetzt Mitglied des ZK der KP Georgiens). Der Keller war mit allerlei Kisten voll gestopft, die teilweise drucktechnisches Material, das noch nicht ausgepackt war, und teilweise Papier für den Druck enthielten. Die Presse und die Setzkästen waren fertig für die Arbeit aufgestellt.
Der Keller wurde durch elektrisches Licht oder Petroleumlampen erleuchtet. Nach der Besichtigung des Kellers stieg ich wieder in den Laden hinauf. Oben hörte man, wie die Maschine arbeitete. Sobald jemand in den Laden kam, verständigte der „Besitzer" oder der „Verkäufer" die unten Arbeitenden davon, dass ein Kunde im Laden war. Wir beschlossen damals, eine Klingel hinunterzuleiten, vermittels deren man signalisieren konnte, ob weiter gearbeitet oder aufgehört werden sollte. Einer, mitunter zwei Genossen, arbeiteten in dringenden Fällen auch nachts in der Druckerei.
Nachdem ich mich mit allen Einzelheiten der Organisation der Druckerei vertraut gemacht hatte, stellte ich noch fest, dass der Laden unter einem falschen Pass gemietet worden war (auf den Namen Lassulidse), den jedoch niemand benutzte und auf den also niemand bei der Polizei angemeldet war. Infolgedessen war es unmöglich, festzustellen, ob er falsch war. Obwohl auf diesen Pass niemand polizeilich angemeldet war, erhielten wir doch auf den darin angegebenen Namen die Gewerbescheine ausgestellt, zahlten Steuern und dergleichen mehr. Genosse Arschak besaß einen anderen Pass.
Im Laden selbst wohnte der „Verkäufer" Genosse Wulpe, der unter einem falschen Pass bei der Polizei auf den Namen P. W. Lapyschew angemeldet war. Da die Polizei leicht hätte feststellen können, dass der Pass falsch war, so schlug ich vor, niemand mehr auf die Adresse des Ladens anzumelden, und begann energisch einen geeigneten Ersatzmann für Wulpe zu suchen.
Den Kontakt mit der Druckerei hielt ich ausschließlich durch den Genossen Arschak aufrecht, der „Besitzer" des Ladens war. In besonders dringenden Fällen, wenn ich nicht bis abends warten konnte, um den Genossen Arschak zu. Hause aufzusuchen, begab ich mich selbst in die Druckerei, allerdings unter Beachtung vieler Vorsichtsmaßregeln. Ich kam stets als Käufer und verließ den Laden immer entweder mit einem Päckchen kaukasischen Obstes oder einem Päckchen Nüsse. Noch bevor ich die Stadt kennen gelernt hatte, musste ich schon Stellen ausfindig machen, um eine große Menge Papier von bestimmtem Format zu beschaffen. Das war nicht leicht, zumal ich nach dem Einkauf das Papier mit der größten Vorsicht abtransportieren musste, um keinen Verdacht in bezug auf den Zweck des Kaufes und den Ort, an den das Papier gebracht werden sollte, hervorzurufen. Ich weiß nicht mehr, wer von den Genossen mir einen Empfehlungsbrief an den Leiter eines Papierunternehmens gegeben hatte, in dem gebeten wurde, mir einen Kredit einzuräumen. Ich wurde mit diesem Herrn handelseinig, und er besorgte mir Papier, das sowohl dem Format als auch der Qualität nach für uns passend war. Das gekaufte Papier schaffte ich zu einem Buchbinder: ebenfalls auf Empfehlung irgend eines Genossen. In der Buchbinderei schnitt man das Papier auseinander, um das notwendige Format zu erhalten. Dann packte es der „Verkäufer" des Obstladens zusammen und brachte es in einen besonderen Lagerraum, von wo aus das Papier, je nach Bedarf als „kaukasische Früchte" deklariert, in den Laden gebracht wurde.
Später erhielten wir bei Bestellungen im Büro des Unternehmens Orders für irgend ein Papierlager; diese Orders übermittelten wir der Druckerei. Der „Verkäufer" holte dann das Papier ab und schaffte es in denselben Lagerraum. Bei diesem Unternehmen kauften wir das von uns benötigte Papier während der ganzen Dauer des Bestehens unserer Druckerei.
Während der Wahlen zur II. Duma erlebten wir folgenden Vorfall. Ich kaufte einen großen Posten roten Papiers für den Druck von kleinen Aufrufen, in denen die Bevölkerung aufgefordert wurde, die von dem Moskauer Parteikomitee der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aufgestellten Kandidaten zu wählen. Als ich eine Woche darauf wieder ins Büro des Papierunternehmens kam, zeigte mir der Chef einen auf rotem Papier gedruckten Aufruf und sagte: „Sie arbeiten schnell, sauber und exakt: dieses Ding wurde mir ins Haus gebracht." Darauf erwiderte ich, dass ein solches Papier offenbar auch von anderen Fabriken hergestellt werde und dass ich mit dererlei Dingen nichts zu tun habe. Ich verstand nicht recht: wollte er bloß durch ein Lob auf unsere Arbeit uns ein Kompliment machen oder war er damit unzufrieden, dass seine Ware zu diesem Zwecke verwendet wurde. Ich stellte mir die Frage, ob wir weiter bei dieser Firma Papier kaufen konnten. Wir verdoppelten unsere Wachsamkeit und begannen das Papier nicht direkt ins Lager, sondern zuerst nach einer provisorischen Stelle zu schaffen. Wir beobachteten nun diese Stelle und die Lastwagen sehr scharf. Da wir aber nichts Verdächtiges bemerkten, begannen wir das Papier ohne solche Vorsichtsmaßregeln zu holen.
Die Druckerei arbeitete die ganze Zeit über sehr intensiv: immer lagen zwei bis drei Flugblätter fertig da. Jedes Flugblatt wurde durchschnittlich in 35 Tausend Exemplaren hergestellt, einige sogar in einer Auflage von 40—50 Tausend Exemplaren. Die kurzen Aufrufe, die wir während der Dumawahlen und zum 1. Mai herausgaben, stellten wir in über 100000 Exemplaren her.
Am schwierigsten in einer illegalen Druckerei ist keineswegs die Arbeit dort, sondern die Beschaffung des Papiers und das Fortschaffen des gedruckten Materials. Deshalb will ich den Leser mit der Organisation der Expedition, der Verbreitung der Flugblätter usw. bekannt machen. Die Druckschriften wurden in Flechtkörben, wie sie in wirklichen Obstläden gebraucht werden, hinausgetragen und von unserem „Verkäufer" in die Bäckerei von Philippow geschafft. Philippow hatte damals in Moskau einige Bäckereien. Seine beiden jüngeren Söhne Alexander und Wassili, ebenso seine Tochter Jewdokija, sympathisierten mit der Partei und halfen uns sehr viel. Sie stellten uns ihre Brotläden für die Unterbringung der Druckschriften zur Verfügung, wussten aber selbst nicht, woher diese gebracht wurden. Sobald die Literatur in einer dieser Bäckereien angekommen war, sandte sie der mit der Verbreitung beauftragte Genosse (eine Zeitlang war es W. Philippow) in eine Privatwohnung, wo sie schon von den Kurieren aller Bezirke Moskaus erwartet wurde. So konnten die Flugblätter innerhalb 15 Minuten nach der Ablieferung in die Bezirke geschafft werden, die sie dann in den Fabriken und Betrieben Moskaus verbreiteten.
Während der Wahlen zur zweiten Duma traf das Moskauer Parteikomitee ein Abkommen mit den Sozialrevolutionären, den Volkssozialisten, dem Bauernbund und noch einigen revolutionären Organisationen jener Zeit. Man stellte für Moskau eine gemeinsame Wahlliste auf. Und nun mussten wir nicht allein das Material des Moskauer Parteikomitees drucken, sondern auch alles, was diese Organisationen gemeinsam mit dem Moskauer Parteikomitee herausgaben. Unsere Druckerei konnte die ganze Arbeit nicht bewältigen. Deshalb war ich gezwungen, in der Stadt umher zu laufen und eine Druckerei zu suchen, die unsere Wahlliteratur hätte drucken können. Mein Herumlaufen wurde von Erfolg gekrönt. Ich fand eine kleine legale Druckerei in der Ersten Breststraße, die uns einige größere Sachen herstellte. Da aber die Leute furchtbare Preise machten und das Moskauer Komitee nicht allzu viel Geld hatte, musste man andere Wege suchen. Ich machte Parteigenossen ausfindig, die in großen Druckereien als Setzer beschäftigt waren. In diesen Druckereien kombinierte ich die Arbeit in folgender Weise: in der einen wurde das Flugblatt gesetzt und das Stereotyp hergestellt, aber dann in unsere illegale Druckerei zum Druck gebracht: oder aber die Setzer einer großen legalen Druckerei fertigten verstohlen den Satz an, während die Drucker einer anderen druckten. So gelang es dem Moskauer Komitee, auch diese schwere Situation zu meistern.
Die Wahlen zur dritten Duma verliefen ziemlich flau. Die Organisation selbst war kleiner geworden, man hatte nun weniger zu drucken, und auch die Chancen waren nicht groß. Alle Kräfte konzentrierten wir auf die Wahlen in der Arbeiterkurie. Wir waren fest überzeugt, dass wir dort siegen werden und siegten auch wirklich.
Außer der Literatur, die wir für Moskau druckten, sandte uns auch die bolschewistische Zentrale in Petersburg vor den Wahlen zur zweiten Duma viel Wahlliteratur und andere Druckschriften.
Das ZK der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bestand damals in seiner Mehrheit aus Anhängern der Menschewiki. Diese traten für ein Wahlabkommen mit den Liberalen (Kadetten) ein. Die im November 1906 einberufene Reichskonferenz der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hatte sich mit 18 Stimmen der Menschewiki und Bundisten gegen 14 Stimmen der Bolschewiki, der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" und der lettischen Sozialdemokraten für die Auffassung des Zentralkomitees in dieser Frage entschieden. Die Reichskonferenz räumte aber den lokalen Organisationen das Recht ein, in jedem einzelnen Falle selbständig Entscheidungen zu treffen. Die Bolschewiki, die polnischen, litauischen und lettischen Sozialdemokraten waren für eine selbständige Führung der Wahlkampagne unserer Partei und ließen für äußerst dringende Fälle ein Abkommen mit Parteien und Organisationen zu, die für den bewaffneten Kampf gegen den Zarismus eintraten: also ein Abkommen mit den Sozialrevolutionären, dem Bauernbund usw. Da zwischen den Bolschewiki, die auf dem Vereinigungsparteitag in Stockholm in der Minderheit geblieben waren, und den Menschewiki immer noch große Meinungsverschiedenheiten bestanden über die Bedeutung der Duma, den bewaffneten Aufstand, das Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien usw., so schufen die Führer der bolschewistischen Strömung innerhalb der russischen Sozialdemokratie mit dem Genossen Lenin an der Spitze eine bolschewistische Zentrale, die eine Menge Wahlliteratur herausgab, in der der bolschewistische Standpunkt in bezug auf die Wahlen auseinandergesetzt wurde. Die bolschewistische Zentrale trat auch mit einem eigenen Wahlprogramm hervor und leitete dessen Durchführung vermittels der Organisationen, die auf dem Boden der Bolschewiki standen Das Petersburger und Moskauer Parteikomitee lehnten einen Block mit den Liberalen bei den Wahlen zur zweiten Duma ab und stellten gemeinsame Wahllisten mit den Sozialrevolutionären, dem Bauernbund und den Volkssozialisten auf.
Anfangs wurde die Literatur von Genossen aus Petersburg gebracht. Aber diese wurden fast immer von einem langen „Schwanz" von Agenten der politischen Geheimpolizei begleitet. Die Organisation des Literaturvertriebs verlor einige Mitarbeiter, da dieselben verhaftet wurden. (Genossin R. Scholomowitsch brachte eine Literatursendung, als die Polizei sie bereits aufs Korn genommen hatte; infolgedessen flog sowohl der Treffpunkt als auch W. Philippow auf.) Wir baten deshalb die Petersburger, die Drucksachen als Frachtgut in Kisten abzusenden, sie als Ware zu deklarieren und uns nur die Frachtbriefe zuzusenden. Sobald wir die Frachtbriefe bekamen, kommandierten wir zwei Genossen ab. Der eine mietete einen Lastwagen und händigte dem Kutscher den Frachtbrief aus, mit dem dieser die Ware vom Bahnhof abholen sollte. Dann gab er ihm eine fingierte Adresse an, wohin die Ware angeblich geliefert werden sollte. Der andere Genosse aber heftete sich dem Kutscher auf die Fersen und folgte ihm überall hin, wohin er mit dem Frachtbrief ging. Wenn alles in Ordnung war, so setzte der Beobachter den Genossen davon in Kenntnis, der den Lastwagen gemietet hatte. Dieser kam dann dem Fuhrmann unterwegs entgegen und gab ihm eine neue — diesmal die richtige — Adresse an. Wussten wir aber nicht genau, ob die Genossen selbst nicht bespitzelt wurden, so nahmen an einer solchen Operation drei Genossen teil. Einer mietete den Lastwagen, der andere beobachtete den Kutscher auf der Hin- und Rückfahrt und auf dem Güterbahnhof, und der dritte war der Kurier für den beobachtenden Genossen. Dieser Kurier sagte dann auch dem Genossen, der den Lastwagen gemietet hatte, Bescheid, ob er dem Fuhrmann entgegen gehen solle oder nicht. In solchen unsicheren Fällen wurden übrigens noch folgende Vorsichtsmaßregeln angewandt: selbst wenn die beiden Genossen auf dem Bahnhof nichts Verdächtiges bemerkt hatten, wurde unterwegs eine zweite fiktive Adresse angegeben und die Ware dorthin gebracht. Meistens gab man den Hof irgend eines Hauses an, in dem Bekannte wohnten. Der Kutscher wurde dann entlassen. Später, wenn alles in Ordnung zu sein schien, brachten wir die Literatur aufs Lager und stellten sie von dort aus den Bezirken zu.
Es kam vor, dass der Fuhrmann nach dem Vorzeigen des Frachtbriefes von der Bahnhofsgendarmerie festgenommen und verhört wurde. In solchen Fällen teilte der beobachtende Genosse rechtzeitig mit, dass man dem Kutscher nicht entgegengehen dürfe, und setzte selbst seine Beobachtungen fort. Mitunter ließen die Gendarmen den Kutscher mit der Ware laufen und sandten hinter ihm eine ganze Expedition von Spitzeln und Gendarmen her. Aber infolge der fiktiven Adressen, die die Fuhrleute bekamen, war die ganze Mühe der Herrschaften vergebens. Es sind mehrere Male Literatursendungen aufgeflogen, aber niemand ist dabei verhaftet worden.
Ich habe hier die Organisation der Verbindungen unserer illegalen Druckerei mit der „Außenwelt" und die Methoden der Verbreitung unserer Literatur deshalb so ausführlich, vielleicht sogar allzu ausführlich für den russischen Leser geschildert, weil viele kommunistische Parteien des Auslands zum ersten Male unter illegalen Verhältnissen zu arbeiten gezwungen sind, und die Erfahrungen, die unsere Partei während des Zarismus gesammelt hat, auch für unsere Genossen in anderen Ländern von sehr großem Nutzen sein können.
Da ich ausschließlich mit der konspirativen Arbeit zu tun hatte, so nahm ich an der täglichen Arbeit der Zellen und Verwaltungsbezirke der Moskauer Organisation nicht teil. Ich stand nur in Verbindung mit einem engen Kreis von führenden Moskauer Genossen und mit dem Sekretär des Moskauer Parteikomitees. Nur ein einziges Mal beteiligte ich mich an einer Moskauer Parteikonferenz, die Ende 1906 in der Technischen Hochschule stattfand und auf der Genosse Miron (Chintschuk) im Namen des ZK der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (damals in seiner Mehrheit menschewistisch) einen Bericht erstattete. Die Konferenzteilnehmer waren durchweg Bolschewiki. Nur der Bezirk Presnja hatte einige Menschewiki delegiert. Die Debatte trug einen leidenschaftlichen Charakter, war aber zwecklos, da eigentlich gar kein Gegner da war. Die ganze Konferenz, mit Ausnahme einiger Stimmen, war gegen das menschewistische ZK.
Mit dem Sekretär des Moskauer Komitees, dem Genossen Karpow, und später mit dem Genossen Mark (Ljubimow) traf ich mich täglich an vereinbarten Orten. Erschien ich aus irgend einem Grunde nicht an den Treffpunkten des Parteikomitees, so konnte mich der Sekretär des MK im Notfalle an den Stellen finden, wo ich täglich zu einer bestimmten Zeit zu sprechen war. Sehr oft geschah es, dass das Moskauer Parteikomitee beschloss: diese oder jene Flugblätter und Aufrufe sollen herausgebracht werden. Ich aber hatte dann diese Beschlüsse zu realisieren, und zwar nicht nur in drucktechnischer Hinsicht: ich musste mir auch den Text der Flugblätter beschaffen. Auf diese Weise lernte ich den Genossen M. N. Pokrowski kennen. In seiner Wohnung begegnete ich zum ersten Male dem Genossen L. B. Kamenew, ferner dem Dr. Kanel, hier traf ich auch Silvin („Landstreicher"), den ich seit meiner Flucht aus dem Kiewer Gefängnis nicht mehr gesehen hatte. Diese und noch einige Genossen (Luny, J. Stenanow und andere) arbeiteten in der Schriftsteller- und Lektorengruppe der Moskauer Organisation; zahlreiche Flugblätter, die damals gedruckt wurden, stammen aus ihrer Feder. Da die Moskauer Organisation keine legale Zeitung besaß, so wurden Flugblätter über alle wichtigen Fragen der Wirtschaft und Politik der damaligen Zeit herausgegeben.
Anfang 1907 hatte Genosse Schklowski im Einverständnis mit dem Moskauer Parteikomitee bzw. in dessen Auftrage begonnen, eine Wochenschrift „Istina" (Wahrheit) herauszugeben. An dieser Wochenschrift arbeiteten die Genossen aus der Schriftsteller- und Lektorengruppe des MK. mit: Genosse Pokrowski und andere. Als die vierte Nummer der Zeitschrift herauskam, wurde sie verboten.
Ebenso rasch verboten wurde die Wochenschrift, die anstelle der „Istina" unter anderem Namen herausgegeben wurde. Der Redakteur wurde zur Verbannung verurteilt. Soweit ich mich erinnere, unternahm man damals keine weiteren Versuche, um eine legale Zeitschrift herauszugeben.
Zu tun gab es sehr viel, aber die äußeren Bedingungen waren sehr ungünstig für mich. Ich war ohne Pass nach Moskau gekommen und konnte 7 Monate lang keinen passenden Pass auftreiben. Meine Freunde mieteten Wohnungen, die sie jedoch allmonatlich wechseln mussten, damit ich bei ihnen unangemeldet leben konnte. Die Polizei erfuhr aber sehr rasch davon, obwohl wir immer Wohnungen entweder in großen Häusern oder in Häusern mit einem Eingang von der Straße aus und ohne Portier mieteten. In ganz kurzer Zeit mussten wir viermal umziehen. Das zwang mich, drei- bis viermal in der Woche, an zufälligen Orten zu übernachten, wobei die Suche nach solchen geeigneten Schlafstellen recht viel Zeit und Kräfte in Anspruch nahm. Einige dieser Schlafstellen musste ich mitunter um 8—9 Uhr abends aufsuchen und durfte bis zum frühen Morgen das Haus nicht verlassen. Infolgedessen war es schlecht möglich, Bücher oder Dokumente mit sich zu schleppen; es ging mir deshalb sehr viel Zeit unnötig verloren.
Ich hatte einen kleinen Apparat aus Studenten und Studentinnen der Universität, des Instituts für Ingenieure des Verkehrswesens und der Technischen Hochschule organisiert, der natürlich unentgeltlich arbeitete. Man beschaffte mir Wohnungen, die als Treffpunkte geeignet waren, ferner Wohnungen für die Ablieferung und Verteilung von Druckschriften und zum Übernachten. Mit dieser Jugend konnte man durchs Feuer gehen.
Außer der Druckerei und dem oben beschriebenen Apparat zur Entgegennahme und Verbreitung von Literatur war mir noch das Passbüro- unterstellt, das von Genossen A. Karnejew (Deckname „Pachomow") geleitet wurde. Dieses Büro funktionierte nicht schlecht. Es unterhielt Beziehungen zu Petersburg und Rostow am Don und tauschte mit den Organisationen dieser Städte Kopien von Dokumenten aus. Obwohl unser Büro ziemlich gut arbeitete, konnte ich nur mit Mühe ein passendes Dokument für mich beschaffen. Das lag daran, dass ich meinem Äußeren nach einen Pass als Armenier oder Georgier hätte haben müssen; ein solcher Pass aber war in Moskau nicht aufzutreiben. Mit einem falschen Pass konnte man sich nicht anmelden, weil die Ochrana die Pässe der nach Moskau Zugereisten genau prüfte.
Mitte November 1906 stellte sich heraus, dass jemand (es war Genosse Sandro oder Genosse Sturua) krankheitshalber oder aus irgendeinem anderen Grunde nicht mehr in der Druckerei weiter arbeiten konnte. Ich begann mich nach einem Ersatzmann umzusehen, konnte aber in Moskau keinen passenden Arbeiter finden; deshalb begab ich mich auf den Vorschlag des Moskauer Komitees nach Petersburg, um einen guten Setzer zu suchen. In Petersburg suchte ich den Treffpunkt des Petersburger Parteikomitees oder der bolschewistischen Zentrale auf, der bei der Zahnärztin Dora Dwoires war. Von dort schickte man mich nach der Speisehalle des Technologischen Instituts, die sich auf dem Sagorodny-Prospekt befand. Hier traf ich Genossin N. K. Krupskaja und viele andere Parteigenossen. Man machte mich mit dem Genossen bekannt, der die gesamten technischen Angelegenheiten der bolschewistischen Zentrale unter sich hatte. Dieser Genosse erklärte mir, dass er einen zuverlässigen Genossen, einen guten, erfahrenen Setzer, habe, dass er ihn aber selbst dringend brauche, da die Absicht bestand, eine Reservedruckerei zu schaffen. Mit vieler Mühe gelang es mir, ihn dazu zu bringen, dass er mir den Setzer überlasse. Und da ich fürchtete, dass der Mann, durch einen Beschluss des Petersburger Parteikomitees oder irgendeines anderen Parteiorgans mir wieder genommen werden konnte, so schickte ich ihn schon am nächsten Tage, nachdem er mir bestätigt hatte, dass er wirklich ein erfahrener Setzer sei (für unsere Maschine musste schnell gesetzt werden, da sonst Zeit verloren ging mit dem Warten auf den Satz nach Moskau zu meinen Bekannten, denn ich hatte Angst, ihm meine Treffpunkte oder die des MK anzugeben, weil die Möglichkeit bestand, dass er zufällig auffliegen konnte. Ich selbst aber blieb noch einen Tag in Petersburg. Als ich nach Moskau zurückkehrte, erfuhr ich, dass der Petersburger Setzer gefordert hatte, nach meiner Wohnung gebracht zu werden, und dass er behauptet hatte, dass wir uns dort laut Verabredung treffen sollten. Da ich keine ständige Wohnung hatte, führte man ihn zu einer Stelle, wo ich sehr oft übernachtete. Diese Geschichte gefiel mir natürlich nicht, aber ich beruhigte mich dann wieder, denn der Setzer war mir von einem sehr verantwortlichen Genossen als zuverlässiger Mensch empfohlen worden. Als ich ihn in die Druckerei brachte, stellte sich heraus, dass er als Setzer gar nichts taugte. Gleich nachdem er mit der Arbeit begonnen hatte, fing er an, sehr hohe Lohnforderungen zu stellen, die das Moskauer Parteikomitee aus Mangel an Geldmitteln nicht imstande war, zu bewilligen. Und schließlich begann er auch unter Umgehung des „Inhabers" der Druckerei direkt zu meinen Bekannten zu laufen, um mich dort zu erwischen.
Jetzt wurde mir klar, dass Petersburg uns das zugeschoben hatte, was es selbst nicht hatte brauchen können. Aber es war nichts mehr zu machen. Nachdem der Mann einmal in die Druckerei aufgenommen war, konnte man ihn nicht mehr entfernen. — Ich habe hier meinen Misserfolg in Petersburg so ausführlich geschildert, weil seit dem Auffliegen der Druckerei (im Moment des Eindringens der Polizei wurde gerade nicht gearbeitet) dieser Bursche verschwunden war und nichts mehr von sich hören ließ; weder aus einem Gefängnis noch von sonst woher. Selbst aus den Gerichtsakten über den Prozess dieser Druckerei ist nicht zu ersehen, dass er verhaftet worden sei. — Noch vor dem Fortgang des Genossen Sandro, Ende 1906, hatte der „Verkäufer" Wulpe uns verlassen. Ihn ersetzten wir durch einen guten und tüchtigen Genossen aus der Moskauer Organisation, der dann in der Druckerei verhaftet wurde. Mitte April 1907 kam einmal Genosse Arschak in Begleitung eines anderen georgischen Genossen, des Genossen Gabelow, zu mir und schlug vor, diesen an seine Stelle zu setzen. Nachdem wir sorgfältig alle nötigen Auskünfte eingeholt hatten, erklärten der Sekretär des Moskauer Komitees und ich, dass wir bereit seien, den Genossen Arschak von seinem Posten zu befreien, um so mehr, als es durchaus nicht schwer war, den Laden an einen anderen „Händler" zu „verkaufen".
Der Januar und Februar vergingen im Zeichen der Vorbereitungen zum Londoner Parteitag. In allen Bezirken und Zellen diskutierte man über die Fragen, die auf der Tagesordnung des Parteitages standen. Auf Grund eines Beschlusses des ZK oder des Moskauer Komitees mussten in allen Versammlungen Referenten sowohl der Bolschewiki als auch der Menschewiki auftreten und die grundlegenden Resolutionen beider Richtungen erklären. Auch ich versammelte nach einer guten Vorbereitung in konspirativer Hinsicht die Funktionäre des Technischen Apparates der Moskauer Organisation. In dieser Versammlung trat als Referent der Menschewik Jegorow Lyssy auf, den ich in den Jahren 1903/04 als leidenschaftlichen Bolschewik gekannt hatte. Dieser Gesinnungswechsel überraschte mich außerordentlich.
Alle diese Versammlungen entsandten ihre Vertreter zur Moskauer Parteikonferenz, die die Delegierten Moskaus zum Parteitag zu wählen hatte. Wenn ich mich nicht irre, wurden damals folgende Genossen zum Parteitag delegiert: Pokrowski, Kamenow, Viktor, Innokentin und Nogin; durchweg Bolschewiki.
Im April 1907 begann das Moskauer Parteikomitee und die ganze Moskauer Organisation sich zur Feier des 1. Mai vorzubereiten. Das Moskauer Parteikomitee gab die Parole „Generalstreik!" aus. Ein Flugblatt über die Bedeutung des 1. Mai wurde in großer Auflage herausgegeben, außerdem ein kleines Plakat mit der Aufforderung, am 1. Mai die Arbeit niederzulegen. Weil gerade irgendein Feiertag war, wurden die Flugblätter und die Plakate zweimal verbreitet: vor und nach dem Feiertag, gerade an dem Tage der Besetzung der Druckerei.
Ende März erhielt ich endlich von irgendeinem Studenten der Petersburger Universität einen armenischen Pass. Infolgedessen wechselten meine Freunde W. P. Wolgin, Britschkin und Halperin (zwei von ihnen wohnten legal in der 3. Twerskaja-Jamskaja) ihre Wohnung, damit ich mich ihrer Kommune anschließen könnte. Sie mieteten sich eine Wohnung in einem riesigen Hause in der Wladimir-Dolgorukow-Straße, und ich zog zu ihnen als eben aus Petersburg eingetroffener Mieter. So lebte ich fast einen Monat lang „menschlich", hatte mein eigenes Zimmer und brauchte keine Schlafstelle zu suchen.
Am 27. April 1907 war ich abends wie gewöhnlich an meinem Treffpunkt. Alles war in Ordnung, nur der Leiter des Literaturvertriebs, Genosse Koroljow, hatte sich aus irgend einem Grunde verspätet. Ich wartete — er aber kam nicht. Ich schickte jemand, der telefonisch bei seinen Verwandten nachfragen sollte. Aber auch dort war er nicht. Das gefiel mir nicht. Offenbar war irgend etwas geschehen. Aber was? Wir wussten sehr wohl, dass vor dem 1. Mai die Gendarmen blindlings drauflos verhafteten, aber dazu war es doch noch zu früh, denn wir zählten doch erst den 27. April. Schließlich ging ich nach Hause. Ich war überzeugt, dass dem Genossen Koroljow etwas zugestoßen war. Zu Hause hatte ich nie illegale Dinge bei mir, trotzdem schärfte ich vor dem Schlafengehen noch meinen Wohnungsgenossen ein, dass sie nachts niemandem öffnen sollten, ohne mich vorher zu wecken. Um Mitternacht vernahmen wir ein starkes Klopfen an der Hintertür. Ich stand auf, vernichtete einige chiffrierte Adressen und wollte die Tür aufmachen. Auf meine Frage: „Wer ist dort?" erhielt ich die Antwort: „Ein Briefträger mit einem eiligen Telegramm". Ich begriff sofort, dass wir ungebetenen Besuch bekommen hatten. Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, da stürzten schon Spitzel, Revieraufseher und Polizisten mit einem Polizeikommissar an der Spitze ins Zimmer. Die ganze Wohnung war auf einmal voll von ihnen. Vor allen Dingen wollten sie wissen, wo hier W. P. Wolgin und Zelikowa wohnten. Ich sagte ihnen, welche Zimmer sie bewohnten, dann legte ich mich wieder aufs Bett und wartete der Dinge, die nun kommen sollten. Schließlich hörte ich ein Klopfen an meine Tür, und die ganze Meute stürzte in mein Zimmer. Da fiel mir auf einmal auf, dass auf meinem Tisch ein Buch lag — die Protokolle der Konferenz der Kampf- und Militärorganisation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Ich war überrascht. Dieses Büchlein hatte ich natürlich nicht in meinem Zimmer gehabt. Wo war es denn auf einmal hergekommen? Da wandte sich der Spitzel an den Revierinspektor und sagte: „Nehmen Sie dieses Büchlein". Nachdem dieser einen Blick auf die Broschüre geworfen hatte, erwiderte er: „Sie sehen ja, dass dieses Büchlein in allen Buchhandlungen zu haben ist und dass es auch die Adresse der Druckerei trägt." Dann entfernten sie sich. Ich nahm das Buch und legte es zu den anderen Büchern. Einige Minuten später waren die Herrschaften wieder in meinem Zimmer. Der Spitzel nahm von neuem das Büchlein in die Hand, offenbar um es dem Polizeikommissar zu zeigen. Aber der Revieraufseher erklärte ihm in einem sehr unzufriedenen Tone, dass er alles mögliche zusammenschleppe, auch wenn es niemand brauche. Da der Spitzel sich jedoch nicht beruhigen wollte, gingen die beiden schließlich doch zum Polizeikommissar, und dieser entschied die Sache zugunsten des Revieraufsehers. Gegen Morgen wurde ich zum Polizeikommissar gerufen. Er fragte mich nach meinem Namen, was ich treibe und wie lange ich mich hier aufhalte. Meine Antworten fielen offenbar zu seiner Zufriedenheit aus, denn er entschuldigte sich wegen der Störung, Ich ging wieder auf mein Zimmer und wartete auf den Abschluss der Geschichte. Schließlich war die Haussuchung zu Ende, und die Polizei entfernte sich. Nun ging ich hinaus, um nachzusehen, wer festgenommen worden war. Es stellte sich heraus, dass die Herrschaften zwei legale Genossen verhaftet und die drei illegalen ungeschoren gelassen hatten. Als wir dieses Ergebnis feststellten, mussten wir alle laut auflachen. Warum hatten sie ausgerechnet zwei Genossen verhaftet, die gar nicht in der Partei gearbeitet hatten? Wolgin war Sozialdemokrat, hatte aber in der Partei keine Funktion, während die Zelikowa nicht einmal Mitglied der Partei war. Diese Verhaftung war für uns damals ein Rätsel.
Morgens kam zu mir der Genosse Arschak, der zwar wusste, wo ich wohnte, mich aber bis dahin nie besucht hatte. Natürlich war ich über seinen Besuch, dazu noch gerade nach einer Haussuchung, sehr überrascht. Von ihm erfuhr ich, dass die Druckerei von der Polizei besetzt worden war. Wir vereinbarten eine Zusammenkunft für den Nachmittag, und ich entfernte mich, um den Umfang der Geschichte festzustellen. Ich brachte in Erfahrung, dass, gleich nachdem der Rest der Maiflugblätter zur Verteilung in den Bezirken abgeliefert worden war, die Polizei uns überrumpelt hatte. Nur einige Bezirke hatten durch ihre Vertreter noch rechtzeitig das für sie bestimmte Material bekommen können; bei den Vertretern der anderen Bezirke aber, die der Polizei in die Hände fielen, fand man Adressen, und bei den Haussuchungen in ihren Wohnungen fielen der Polizei ebenfalls Adressen in die Hände. Man nahm zahlreiche Verhaftungen unter den Parteigenossen vor, aber die grundlegenden Organisationen — die Zellen, Bezirksleitungen und das Moskauer Parteikomitee — wurden davon nicht betroffen. Am Morgen des 28. April hatte sich der frühere „Inhaber" des Ladens, der Genosse Arschak, ins Geschäft begeben, wo er dem neuen Leiter der Druckerei die Geschäfte übergeben wollte. Als er an die Tür trat, war er erstaunt, dass sie geschlossen war Neben der Tür befand sich ein großes Fenster. Als er durch das Fenster einen Blick in den Laden hineinwarf, sah er, dass dort Polizei herumwirtschaftete. Er eilte davon, um vor allen Dingen die in der Druckerei tätigen Genossen zu warnen. Ich erinnere mich ganz genau, dass in dem Keller, in dem sich unsere Druckerei befand, an jenem Tage nicht gearbeitet wurde, denn die Maiflugblätter waren bereits fertig. Da die Herstellung dieser Flugblätter sehr viel Arbeit gemacht hatte, so wurde beschlossen, bis zum 2. Mai nicht zu arbeiten. Der Genosse Arschak hatte wirklich Glück gehabt: er war in die Nähe des Ladens gekommen, wo ihn alle Hausknechte, Polizisten und Nachbarn kannten, ohne bemerkt worden zu sein. Dann war er gleich nach einer Haussuchung zu mir gekommen und auch hier nicht in die Fänge der Polizei geraten. Soweit ich mich erinnern kann, hatte man im Laden selbst nur den „Verkäufer" verhaftet (die Druckerei hatte man wahrscheinlich seit längerer Zeit bespitzelt), der neue „Inhaber" aber wurde auf der Straße festgenommen, als er nach der Rückkehr des „Verkäufers" den Laden verlassen wollte. Mich interessierte damals die Frage, wie es kam, dass die Druckerei aufgeflogen war. Ohne Verrat schien mir die Entdeckung der Druckerei (die in konspirativer Hinsicht sehr gut arbeitete) durch die Ochrana unmöglich zu sein. Auch kam mir das Ergebnis der Haussuchung in meiner Wohnung recht sonderbar vor. Wie wir später feststellten, war die Polizei zuerst in unserer alten Wohnung in der 3. Twerskaja-Jamskaja erschienen. Diese Wohnung war dem Setzer aus Petersburg bekannt. Beim Portier erfuhr die Polizei, wohin Wolgin, der als Mieter galt, umgezogen war. Deshalb fragte auch die Polizei sofort nach den Zimmern, die Wolgin und Zelikowa bewohnten. Nur diese beiden waren im Mieterverzeichnis als von der 2 Twerskaja-Jamskaja Eingezogene eingetragen. Halperin, der zwar sein Zimmer nicht aufgegeben hatte, war fortgereist, um sich zu legalisieren. Ich und noch zwei Genossinnen hatten die Pässe gewechselt. Daraus zogen wir nun die Schlussfolgerung, dass die Polizei gar nicht wusste, wen sie suchte und dass ihr höchstens bekannt war, dass diese Wohnung in irgendeiner Beziehung zur Druckerei stand. Ich war überzeugt, dass der Setzer aus Petersburg die Druckerei verraten hatte. Wir schrieben darüber nach Petersburg, aber es gelang uns nicht das genau nachzuweisen. Und auch jetzt, nachdem ich einige Gerichtsakten in Sachen der Druckerei geprüft habe, ist es mir unmöglich, festzustellen, auf welche Weise sie eigentlich aufgeflogen ist. An einer Stelle der Akten heißt es wörtlich; „Durch die vereinigten Anstrengungen der Geheimagenten und der Beamten des äußeren Beobachtungsdienstes ist die Druckerei entdeckt worden." Ich muss hinzufügen, dass im November 1906 Genosse Halperin den Lockspitzel Schitomirski zu sich gebracht hatte, mit dem alle, die in der Wohnung Zimmer hatten, gut bekannt waren. Ich glaube jedoch, dass Schitomirski, wenn er uns verraten hätte, eine genaue Beschreibung eines jeden von uns gegeben haben würde — das war so seine Art —, und die Polizei würde dann nicht nach bestimmten Namen, sondern nach Trägern bestimmter Physiognomien gefahndet haben. Außerdem wären wir in diesem Falle schon viel eher verhaftet worden, man hätte uns längst zu beobachten begonnen und wäre nicht gerade am Tage des Auffliegens der Druckerei in die alte Wohnung gekommen.
Die Druckerei hatte vom September 1906 bis zum April 1907, also 8 Monate existiert. Sie hatte 45 verschiedene Druckschriften herausgegeben. Die Flugblätter waren jeweilig in einer Auflage von 5—40 000 hergestellt worden. Die kleinen roten Plakate, die wir während der Wahlen zur zweiten Duma und zum 1. Mai herausgaben, erschienen in Hunderttausenden von Exemplaren. In dem Verzeichnis der Druckerzeugnisse (43 Titel), das im Prozess eine Rolle spielte, waren nicht enthalten: die auf rotem Papier gedruckten kleinen Plakate für den 1. Mai (erschienen in einer Auflage von mehr als 350 000 Exemplaren; wir hatten den Auftrag gehabt, eine halbe Million Exemplare herzustellen, aber die Druckerei hatte keine Zeit mehr dazu gehabt oder das Papier hatte nicht ausgereicht) und eine Broschüre: „Wer verteidigt wirklich die Werktätigen?". In der Druckerei war in der Tat ein Verzeichnis angelegt worden, in das man sowohl die Titel als auch die Auflage der gedruckten Proklamationen und periodischen Schriften eintrug, aber zum Eintragen dieser Broschüre und des Maiplakates war man der Verhaftung wegen anscheinend nicht mehr gekommen. Wenn man nun von der Broschüre und dem Plakat absieht, so verteilen sich die 43 Titel wie folgt: über politische und wirtschaftliche Fragen hatte man für die Arbeiterschaft allein sieben Flugblätter in einer Auflage von 174000 Exemplaren hergestellt, an das ganze Volk, an die Genossen und an die Bürger Russlands waren 21 Drucksachen (705 500 Exemplare) gerichtet, die hauptsächlich die politischen Forderungen und die Stellungnahme der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu verschiedenen Fragen auseinandersetzten; für die Bauern hatte man vier Flugblätter gedruckt in einer Auflage von 140 000 Exemplaren und das Agrarprogramm unserer Partei in einer Auflage von 20 000 Exemplaren; für die Soldaten zwei Flugblätter in einer Gesamtauflage von 10 000 Exemplaren, für die Eisenbahner: ein Flugblatt (10 000 Exemplare) zwei Nummern der Zeitschrift „Golos Schelesnodoroschnika" („Stimme des Eisenbahners") und ein Flugblatt des Eisenbahnerverbandes — zusammen also Drucksachen in einer Auflage von 25 000 Exemplaren. Außerdem brachten wir ein Flugblatt heraus, das für die breite Öffentlichkeit bestimmt war (eine Aufforderung zur Unterstützung der Verhafteten), und zwar in 6000 Exemplaren, ferner vier Druckschriften, darunter Berichte des Moskauer Parteikomitees für die Monate November-Dezember den Entwurf einer Resolution zum 5. Parteitag und den Entwurf einer Adresse an die Duma-Fraktion, zusammen in 14 000 Exemplaren. Im ganzen hatte also diese Druckerei in der erwähnten Zeit fast anderthalb Millionen Exemplare verschiedener Drucksachen hergestellt.
Nach dem Auffliegen der Druckerei begann die Polizei, die Mitglieder des Moskauer Parteikomitees nacheinander zu verhaften. Anfangs Mai wurde Genosse Karpow, der Sekretär des Moskauer Komitees, festgenommen. Auch im Studentenheim der technischen Hochschule, wo man Treffpunkte hatte und wo das Moskauer Parteikomitee seine Sitzungen abzuhalten pflegte, begann die Polizei sehr oft aufzutauchen. Nur dem Umstand, dass dort viele Parteimitglieder wohnten (Philippowitsch, Bogdanow und andere), war es zu verdanken, dass es dort nicht zu größeren Überrumpelungen kam, denn wir wurden noch vor dem Erscheinen der Polizei gewarnt. Wurde die Polizei erwartet, dann zerstreuten sich die zur Versammlung gekommenen Genossen in einzelne Zimmer. Ich muss hier bemerken, dass die Polizei Angst hatte, im Studentenheim eine Razzia zu veranstalten oder Fallen zu stellen. Die Studenten hätten in diesem Falle doch die Kommenden gewarnt, und bei einer eventuellen Razzia fürchtete die Polizei, mit Bomben empfangen zu werden. Die Ochrana war wahrscheinlich darüber unterrichtet, dass in den Werkstätten der Schule Zündvorrichtungen für Bomben fabriziert wurden. Obwohl im Studentenheim noch nichts aufgeflogen war, mussten wir es doch verlassen, denn die Spitzel hielten ständig vor den Toren der Schule und des Studentenheims Wache.
Das Moskauer Komitee konnte natürlich nicht ohne Druckerei auskommen. Die Reaktion wurde immer stärker. Keine einzige legale Druckerei wollte für uns etwas drucken, auch wenn wir noch so viel bezahlen wollten. Nebenbei bemerkt, waren auch die Geldmittel des Moskauer Komitees recht kärglich. Ich mühte mich um den Aufbau einer neuen Druckerei ab. Natürlich war an die Anschaffung einer amerikanischen Maschine nicht mehr zu denken. Der Genosse Kitschin, der mit mir zusammenarbeitete, schlug eine neue Konstruktion eines Rahmens vor, bei der die Rolle wie ein Rad auf dem Gleise geräuschlos hin und her glitt. Diesen Rahmen bestellte man nach Zeichnungen in der Schlosserei von Sotow. Im Sommer 1907 mieteten wir in Sokolniki eines der kleinen Familienhäuser, die dort sehr viel anzutreffen sind. In solchen Häuschen wohnten meistenteils Arbeiter. Dort siedelten sich nun einige Mann an, die in der Tat bei der Straßenbahn angestellt waren (diese wohnten abgesondert von den Räumen der Druckerei), und zwei Genossen: Viktor Lopatin und der sehr tüchtige Setzer Rajkin, der aus der Verbannung nach Amerika floh, wo er auch heute noch lebt. Er und seine Frau B. A. Feiger (sie ist jetzt in Moskau auf dem Gebiete der Klubarbeit tätig und ist Mitglied der KP d. SU) hatten die ganze Zeit in illegalen Druckereien gearbeitet und waren ganz zufällig nach dem Auffliegen unseres technischen Apparates aus Tula nach Moskau gekommen. Für die Herbeischaffung des Papiers aus der Stadt und für die Expedition der fertigen Flugblätter nach der Stadt mietete man nicht weit von der Druckerei eine Wohnung als Zwischenstation, in die Genossin Feiger einzog. Das Papier wurde von einigen Arbeitern in die Druckerei gebracht, die auch die fertigen Flugblätter wegschafften; sie taten das, wenn sie zur Arbeit gingen und auf dem Heimwege waren. Der technische Apparat kam wieder in Gang, obwohl man zu diesem Zweck sich mit fast allen Parteimitgliedern in Verbindung setzen musste, die in Druckereien arbeiteten, denn wir brauchten drucktechnisches Material in großen Mengen. Im übrigen aber war alles so organisiert, wie ich es bereits beschrieben habe.
Sofort nach der Haussuchung am 28. April 1907 verließen wir die Wohnung; wir sandten eine Verwandte des Genossen Wolgin zu dem Hausverwalter, die ihm erklärte, dass sie die Wohnung aufgebe und die Möbel mitnehme. Dann bezogen wir drei zusammen eine „Sommerwohnung" in Losino-Ostrowskoje, das an der Nordbahn liegt. Wir hatten sehr eilig die erste beste Wohnung gemietet. Der Mai war sehr kalt, und in dieser Sommerwohnung froren wir mehr als im Winter. Trotzdem gelang es uns, den Sommer dort zu verbringen. Im Herbst bekam ich eine sehr gute Kopie eines Passes auf den Namen Pimen Michajlowitsch Sanadiradse und konnte dank diesem Dokument mit Freunden eine eigene Wohnung in der Kosichinskaja-Gasse beziehen. Diesen Pass benutzte ich bis zum Juni 1914, wo ich gründlich ins Garn geriet. Aber darüber später. Die Adresse der neuen Wohnung teilte ich keinem Menschen mit. Aber meine Lage in Moskau wurde sehr brenzlich. Nachdem Halperin nach Moskau zurückgekehrt war, wurde er, obwohl er sich ordnungsgemäß bei der Polizei anmeldete, sofort verhaftet. Man konfrontierte ihn mit dem Portier des Hauses, in dem man die große Druckerei des Moskauer Parteikomitees ausgehoben hatte, und sagte ihm bei den Verhören auf den Kopf zu, dass ich den gesamten technischen Apparat in Moskau leite und auch die Druckerei geleitet hätte, die von der Polizei aufgehoben worden war. Halperin schrieb aus dem Gefängnis, ich solle sofort verschwinden. Einmal, als ich die Dolgorukow-Straße entlang ging, merkte ich, dass ich verfolgt wurde. Ich beschleunigte meine Schritte, und es gelang mir, in die Straßenbahn zu springen, die nach dem Sucharew-Platz ging. Der Spitzel sprang in denselben Wagen. Der Schaffner steckte ihm einen Fahrschein zu, aber er nahm ihn nicht. Mit einemmal zog er aus der Tasche eine Photographie. Ich sah hin: es war ein Bild von Halperin. Offenbar hatte die Polizei damals noch keine Photographie von mir. Ich sprang aus dem Straßenbahnwagen und bog in die Lichow-Gasse ein. Der Spitzel folgte mir. Aber ich kannte Moskau besser und war flinker auf den Beinen als der Spitzel. Deshalb wurde ich ihn schließlich doch los. Im Herbst 1907 wurde die Genossin Feiger verhaftet; man fand bei ihr nur Druckpapier, nichts weiter. Immerhin war es jetzt riskant, die Druckerei an diesem Ort zu belassen. Wir beschlossen, alles nach dem Bezirk Samoskworetschje zu schaffen. Wir mieteten eine Wohnung im letzten Stock eines noch nicht ganz fertigen, großen Hauses. Zwei Genossen mit legalen Pässen zogen dort ein, und zwar Genosse Lopatin und die Genossin Lydia Aismann, außerdem der Setzer Rajkin, der nicht angemeldet wurde. Die Genossin Aismann (Anm.: Aus der Verbannung in Sibirien, zu der sie wegen Beteiligung an der Druckerei verurteilt worden war, floh sie nach Paris Als dort Lafargue und seine Frau Selbstmord verübten, machte auch sie ihrem Leben ein Ende.) nahm die Verbindung mit mir und mit der Außenwelt auf, während die beiden anderen Genossen in der Druckerei arbeiteten. Die Flugblätter erschienen jetzt seltener und in geringeren Auflagen, dafür aber gaben wir regelmäßig die Zeitschrift der militärischen Organisation des Moskauer Komitees heraus und, soweit ich mich erinnern kann, auch die Zeitschrift der Moskauer Gebietsleitung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
Ende 1907 begegnete ich auf dem Treffpunkt des Sekretärs des Moskauer Komitees, dem Mitglied des MK, Genossen Leonid Bjelski, der soeben aus dem Gefängnis entlassen worden war. Dieser erklärte mir dass man ihm bei der Polizei alle meine Decknamen und meinen wirklichen Namen genannt hatte und dass er überzeugt sei, dass man mich schon in den nächsten Tagen auf der Straße verhaften werde. Zum Beweis nannte er mir meinen wirklichen und alle meine Decknamen. Ich war überrascht. In Moskau wussten nur zwei oder drei Genossen meinen wirklichen Familiennamen, ja ich selbst hatte sogar meinen Namen beinahe vergessen, denn seit dem Jahre 1902 hatte mich niemand mehr bei diesem Namen genannt (Anm.: Leonid wurde später verdächtigt, dass er Beziehungen zu der Ochrana gehabt habe 1921 erschien er als Delegierter einer amerikanischen kommunistischen Gruppe zum 2 Kongress der Komintern und wurde von der Zentralen Kontrollkommission der KP d. SU zur Rechenschaft gezogen. Kr erklärte, dass er tatsächlich Beziehungen zu der Ochrana gehabt habe, dass er aber niemand verraten und im Gegenteil alles, was nur möglich war, in Erfahrung gebracht und die Genossen gewarnt hätte. Beweise dafür, dass er jemand verraten hätte, fehlten auch der ZKK. Er wurde aus Russland ausgewiesen.).
Die Verhaftungen hörten nicht auf, sondern nahmen immer mehr zu. Man nahm die Funktionäre in ganzen Gruppen fest, was für die Moskauer Organisation immer fühlbarer wurde. Die Bespitzelung des Literaturvertriebsapparates wurde geradezu unerträglich, und wiederholt sah ich mich gezwungen, Treffpunkte aufzugeben, da ich vor den Wohnungen Spitzel bemerkte. Hin und wieder fing die Polizei einzelne Genossen aus meinem Apparat. Einmal wurde ich, als ich einen Treffpunkt verließ, in einer Gasse der Sretjenkagegend von Spitzeln umzingelt. Die Straßenbahn sauste gerade die Sretjenka entlang und an mir vorbei. Ich sprang in voller Fahrt in den Wagen und zwang so die Verfolger, die Straße entlang zu laufen. Ich stieg schon an der ersten Haltestelle aus und war bereits ohne Anhang. Anfang Januar 1908 wurde der Sekretär des MK., Genosse Mark, verhaftet. Das alles zwang mich, eine Unmenge Zeit auf allerlei Vorsichtsmaßregeln zu verwenden, sobald ich jemand sehen wollte. Mit den Genossen aus dem technischen Apparat traf ich mich nur noch auf den Straßen Moskaus und nur nachts. Ich war von einem geradezu krankhaften Argwohn besessen, so dass ich überhaupt in jedem Menschen einen Spitzel sah. Ich betrat meine Wohnung nicht wenn in der Gasse jemand hinter mir gestanden oder mitgegangen war. Schließlich kam ich mit meinen Nerven so herunter dass ich einmal nachts, als ich auf der Treppe mehrere Stimmen und Lärm vernahm, aus dem Bett sprang allerlei Aufzeichnungen vernichtete und auf eine Haussuchung wartete. Ich musste sehr lange warten. Schließlich wurde ich des Wartens überdrüssig, machte selbst die Tür auf und trat auf die Treppe hinaus. Dort fand ich nichts weiter als eine bezechte Gesellschaft vor, die darauf wartete, dass der Portier die Haustür aufmache.
Zum Sekretär des Moskauer Komitees wurde Genosse Andrej (Kulisch) bestimmt, der aus Petersburg gekommen war. Ich erklärte ihm in einem Gespräch, dass meine Abreise aus Moskau zu einer Notwendigkeit geworden sei weil man mich sonst ganz bestimmt, wenn nicht heute, so morgen verhaften würde. Er war anderer Meinung. Also musste ich die Arbeit weiter fortsetzen. Einmal, im Februar, näherte ich mich dem Hause in der Boschedomka, wo wir einen Treffpunkt hatten. Das Haus wurde offenbar bespitzelt. Ich trat ein und sorgte dafür, dass alle Wartenden sich entfernten. Unter diesen war Genosse Sefir (Moissejew), der mich im Auftrage des ZK der Partei aufgesucht hatte. Ich gab ihm in der Eile eine andere Adresse, wo er mich noch am selben Abend sprechen konnte, wollte aber in dem bespitzelten Hause mit ihm nicht reden. Als wir das Haus verließen, wurde fast jeder von uns von Spitzeln verfolgt. Ich hatte bis spät in die Nacht zu tun, bis ich sie los wurde. Dabei war ich gezwungen, auch Droschken zu benutzen, was ich bis dahin nie getan hatte, da ich die Droschken in solchen Fällen für unzuverlässig hielt. Der Spitzel wegen war ich nicht imstande, in die Wohnung zu kommen, in der Genosse Sefir auf mich wartete.
Später teilte mir Genosse Andrej mit, dass Genosse Sefir mich im Namen des ZK auffordere, unverzüglich ins Ausland zu reisen und mich dem Auslandsbüro des ZK zur Verfügung zu stellen. Auf dem Parteitag in London hatten die Bolschewiki im Block mit der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" und einem Teil der Delegierten der Sozialdemokratie Lettlands den Sieg davongetragen. Die Mehrheit des ZK setzte sich jetzt aus den Bolschewiki und ihren revolutionären Bundesgenossen, der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" und der lettischen Sozialdemokratie, zusammen. Das Moskauer Parteikomitee hielt mich nicht mehr zurück. Ich erledigte die Übergabe der Geschäfte Mitte März 1908, verließ Moskau und begab mich nach Pensa, um mich von den Spitzeln und der Spitzelmanie zu befreien, und um ein wenig auszuruhen. In Pensa verbrachte ich drei Wochen. Dort begann man mich wieder zu bespitzeln, obwohl ich mit keinem von den Pensaer Genossen zusammengekommen war. Von Pensa reiste ich nach Rostow am Don. Anfangs traf ich es dort ganz gut. Ich erholte mich etwas, dann setzte ich mich mit den am Orte ansässigen Genossen und dem Auslandsbüro des ZK in Verbindung. Vor dem 1. Mai begann die Polizei plötzlich das Haus zu beobachten, in dem ich wohnte. Darauf wechselte ich die Wohnung, aber auch hier begann man mich zu bespitzeln. Schließlich hörte ich auf, mich polizeilich anzumelden und musste wieder von Schlafstelle zu Schlafstelle wandern. Meine Abreise ins Ausland verzögerte sich, weil mir zum illegalen Übertritt der Grenze die nötigen Verbindungen fehlten und ich zur legalen Ausreise einen Pass brauchte. Ich beschloss abzureisen und dazu meine alten Beziehungen zu benutzen, vorher aber hatte ich meinen Verwandten darüber geschrieben. Diese forderten mich auf, zu ihnen zu kommen, und versprachen mir, einen Auslandspaß zur legalen Ausreise aufzutreiben. Aus Rostow reiste ich mit aller nur möglichen Vorsicht ab; in Taganrog wurde ich allerdings beinahe geschnappt, hatte aber Glück und konnte mich aus der Schlinge ziehen.

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