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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Paris (1912-1913)

Im Sommer des Jahres 1912 stand ich vor der Frage meiner Rückkehr nach Russland, weil infolge der Übersiedelung der Auslandszentrale nach Krakau Deutschland (Leipzig) seine Bedeutung für uns eingebüßt hatte. Ich wollte jedoch nach Russland nur, um unter die Arbeiter — um in den Betrieb zu kommen. Mein eigenes Handwerk, das ich in der Zwischenzeit gründlich verlernt hatte, bot mir dazu keine Möglichkeit, denn in Russland waren die Schneidereien zum größten Teil kleine Werkstätten. So wollte ich denn rasch etwas lernen, was mir die Möglichkeit geben konnte, meinen Lebensunterhalt zu erwerben und in einen Großbetrieb zu kommen. Eine Zeitlang trug ich mich sogar mit dem Gedanken, meine Kenntnisse der Stereotypie zu verwerten, die ich bei der „Leipziger Volkszeitung" gründlich kennen gelernt hatte, weil ich damals dachte, dass auch wir einmal solche Druckereien haben werden, wie in der Zeit zwischen 1903 und 1906, als man die alte „Iskra" und den „Wperjod" nach Matrizen druckte, die aus dem Ausland kamen. Ich wusste aber nicht, ob in Russland solche Matrizen benutzt wurden und ob solche Maschinen zur Herstellung der Stereotypplatten vorhanden waren wie in Deutschland. In Deutschland war es nicht möglich, irgend etwas Passendes schnell zu erlernen. Deshalb bat ich um Aufnahme in eine Elektromonteurschule, die auf Kosten irgendeines russischen Philanthropen für die Emigranten in Frankreich eröffnet worden war, die kein besonderes Handwerk kannten. Diese Emigranten hatten es, nebenbei gesagt, nicht leicht in Frankreich. Nur mit Mühe wurde meine Aufnahme (in meiner Abwesenheit) durchgesetzt, da aus dem Fragebogen, den ich ausfüllen musste, hervorging, dass ich ein Handwerk konnte, das in Paris sehr einträglich war. Die Schule selbst trug zur Erinnerung an die verstorbene Tochter des Stifters den Namen „Raschel". Die Ausstattung der Schule mit Maschinen war nicht sehr gut, aber um den praktischen Unterricht war es nicht übel bestellt. Man arbeitete unter der Leitung von Emigranten: der Mechaniker Michailow, ein Mann von großer Praxis, der seine Sache gut verstand, unterrichtete uns in Mechanik, und der praktische Elektromonteur Rudsinski beherrschte die Theorie der Elektrotechnik nicht schlecht. Der praktische Unterricht am Schraubstock, in der Schmiede und bei der Anlage von elektrischem Licht in Wohnungen wechselte ab mit Vorlesungen russischer Ingenieure, die in den Betrieben in Paris tätig waren. Die Schüler gehörten meistens der Intelligenz an. Sie gaben sich alle Mühe, das Fach zu erlernen, es gelang aber nicht allen. Was mich anbetrifft, so hatte ich mich sehr ernst an die Arbeit gemacht und in den acht Monaten vom November 1912 bis zum Julianfang 1913 wirklich manches gelernt. Was meine praktische Probezeit anbetraf, so war ich vor dem Abgang von der Schule zusammen mit anderen Schülern in irgend ein Unternehmen auf Montage geschickt worden; nach der Entlassung aber hatte ich zusammen mit den Genossen Sefir und Kotow selbständig in der Wohnung Schitomirskis elektrisches Licht angebracht.
In den acht Monaten meiner Anwesenheit in Paris nahm ich natürlich regen Anteil an der Tätigkeit der bolschewistischen Gruppe. Ich war Mitglied des Vorstandes der Gruppe.
Die Pariser Unterstützungsgruppe spielte nicht nur im Leben der Parteiorganisationen im Ausland eine große Rolle, sondern erlangte auch für die russische sozialistische Bewegung eine große Bedeutung seit der Übersiedlung der bolschewistischen Auslandszentrale mit Genossen Lenin an der Spitze von Genf nach Paris (im Jahre 1909). Es war selbstverständlich, dass die aktivsten Elemente der russischen Sozialdemokratie, wenn sie aus der Verbannung oder den Gefängnissen kamen, oder vor Verfolgungen flohen, oder als Delegierte der Parteiorganisationen ins Ausland kamen, sich nach der Stadt hingezogen fühlten, in der die zentralen Organisationen der Partei waren. Obwohl die Delegierten nur auf kurze Zeit nach Paris kamen, brachten sie doch viel Leben in unsere Pariser Parteikreise, da sie diese über die Verhältnisse in ganz Russland informierten. Der dauernde Zustrom neuer Genossen aus allen Gegenden des riesigen Russland brachte in die Pariser Gruppe zur Unterstützung der Bolschewiki einen frischen Zug hinein. Das war der Vorzug dieser Gruppe vor allen anderen Unterstützungsgruppen. Selbstverständlich waren alle in Paris wohnenden Mitglieder der bolschewistischen Zentrale auch Mitglieder der Unterstützungsgruppe, was natürlich den ernsten Charakter und die Autorität der Gruppe erhöhte. Man muss noch in Betracht ziehen, dass in den Jahren 1909—1912 sich in Paris auch die Auslandszentralen der Menschewiki, der Wperjodgruppe, der Sozialrevolutionäre und anderer Organisationen befanden, und dass somit der ideologische Kampf, der einerseits zwischen den Sozialdemokraten und den Sozialrevolutionären und andererseits zwischen den Sozialdemokraten selbst in ihren eigenen Reihen geführt wurde, natürlich auf das Leben und die Tätigkeit der „Pariser Gruppe zur Unterstützung der Bolschewiki" nicht ohne Einfluss bleiben konnte. Die Gruppe als Ganzes und einzelne ihrer Mitglieder nahmen an diesen Kämpfen tätigen Anteil. Nicht selten nahm die Pariser Gruppe Berichte und Informationen von Mitgliedern der bolschewistischen Zentrale entgegen (von Mitgliedern der Redaktion des Zentralorgans, des Zentralkomitees und des Auslandsbüros) über Fragen, die vor den entsprechenden Körperschaften aufgeworfen oder veröffentlicht werden sollten. Berichte über Sitzungen des Plenums des Zentralkomitees, über Sitzungen der erweiterten Redaktion des „Proletari", über Parteikonferenzen und Parteiberatungen wurden in der Gruppe oft noch vor der Veröffentlichung der Beschlüsse dieser Organe erstattet. Die Pariser Gruppe veranstaltete Vortragsabende über die verschiedensten Themata; an den Diskussionen nahmen mitunter Führer aller damaligen Strömungen der Sozialdemokratie und anderer Parteien teil. Ebenso beteiligten sich die Mitglieder der Pariser bolschewistischen Unterstützungsgruppe eifrig an allen Versammlungen, Diskussionen und Veranstaltungen, die von anderen sozialdemokratischen Strömungen und Parteien einberufen wurden. Als ich der Gruppe angehörte (von Ende 1912 bis Mitte 1913), waren die Verhältnisse dort bereits andere, da die Auslandszentrale nach der Prager Reichskonferenz der Partei nach Krakau übergesiedelt war. In Paris blieb nur Genosse Kamenew zurück.
Die Pariser Unterstützungsgruppe unterschied sich in dieser Zeit von vielen ausländischen Gruppen sowohl durch ihre Zusammensetzung als auch durch ihre Tätigkeit. In Deutschland, Belgien und sogar in der Schweiz bestanden damals die Gruppen in ihrer Mehrheit aus Studenten, nur vereinzelt waren dort alte Parteimitglieder anzutreffen, die aus der Verbannung, dem Gefängnis oder vor Verfolgungen geflüchtet waren. Diese Gruppen arbeiteten auch hauptsächlich unter der studierenden Jugend. Die Pariser Gruppe bestand aber fast durchweg aus alten Revolutionären, die Russland hatten verlassen müssen und die auf Beschluss der Parteikörperschaften in jedem Augenblick zurückgeschickt werden konnten. Selbst die neuen Mitglieder rekrutierten sich hauptsächlich aus Genossen, die Sibirien oder eine Gefängnisstrafe hinter sich hatten. Zu jener Zeit unterhielt die Pariser Gruppe keinerlei Beziehungen zu den russischen Studenten in Paris und arbeitete auch nicht unter ihnen. Die Gruppe arbeitete vor allem unter den russischen Arbeitern und politischen Emigranten, die in Paris sehr zahlreich waren.
Außer dem Verkauf von Parteiliteratur, der Veranstaltung von Vortragsabenden, der Sammlung von Mitteln für die Partei und der Diskussion von Parteifragen beteiligte sich die Pariser Gruppe durch ihre Vertreter zusammen mit allen russischen revolutionären Auslandsgruppen jener Zeit an der Emigrantenkasse (die den bedürftigen Genossen half), an der Bibliothek und Lesehalle, an der Gesellschaft zur Unterstützung der Gefangenen und Verbannten und an allen anderen russischen Organisationen.
Die Pariser Gruppe der Bolschewiki und sicherlich auch die Gruppen der anderen sozialdemokratischen Parteien Russlands, Polens usw. gehörten nicht der Pariser Organisation der französischen Sozialdemokratie an. Einige Mitglieder der Gruppe wurden auf ihren Wunsch in die französische Partei aufgenommen. Ich trat der deutschen Sektion der französischen sozialistischen Partei bei und blieb Mitglied bis zu meiner Abreise nach Russland. Irgend einen Beschluss über den Eintritt der Russen in die französische Partei hatte weder die russische noch die französische Partei gefasst, auch waren keinerlei Abkommen darüber getroffen worden. Erst jetzt verpflichtet das Statut der Kommunistischen Internationale die Mitglieder der kommunistischen Parteien, nach ihrer Übersiedelung in ein anderes Land unverzüglich der Kommunistischen Partei des betreffenden Landes beizutreten. Am 1. Mai wurde auf Vorschlag der Pariser bolschewistischen Gruppe ein großes internationales Massenmeeting veranstaltet, an dem russische, italienische, deutsche, französische Arbeiter und auch Arbeiter anderer Länder teilnahmen. Das Meeting ging unter gehobener Stimmung aller Beteiligten vor sich. Als Redner unserer Gruppe trat Genosse Kamenew auf. In froher Stimmung begingen die Pariser Bolschewiki die Feier des neuen Jahres 1913. Schon damals fühlte man, dass es ein Jahr revolutionären Aufstiegs werden und dass die Richtigkeit der bolschewistischen Taktik sich allmählich durchsetzen werde. Als ich 1911 in Paris war, feierte ich Silvester ebenfalls im Kreise von Bolschewiki. Obwohl die ganze bolschewistische Auslandszentrale mit dem Genossen Lenin an der Feier teilnahm, verlief alles flau und langweilig. Ganz anders fiel die Silvesterfeier 1913 aus. An unserer Feier beteiligte sich auch der Genosse Zyperowitsch, der unserer Pariser Gruppe damals fernstand, außerdem die Genossen Steklow und Schljapnikow. Diesen sah ich damals zum ersten Mal; die Genossen sagten von ihm, er sei ein Syndikalist. Dass diese Genossen damals gemeinsam mit uns die Feier des neuen Jahres begingen, hielten wir für ein Zeichen des Sieges des Bolschewismus in der Arbeiterbewegung Russlands.
Gleich nach meiner Ankunft in Paris wurde ich in das „Komitee der ausländischen Organisationen zur Unterstützung der Bolschewiki" kooptiert, dem bereits Wladimirski (Kamski), N. Kusnetzow (Saposchnikow), Semaschko (der damals gerade verreist war) und Miron Tschernomasow (Anm.: Ich glaube, dass dieser erst nach seiner Ankunft in Russland, wohin man ihn zur Mitarbeit an der „Prawda" kommandiert hatte, zum Spitzel geworden ist, denn vor seiner Abreise war er einige Male zu mir gekommen, um sich Rat darüber zu holen, wie er reisen, was er mit sich nehmen und was er in Paris lassen sollte. Er hinterließ mir zur Durchsicht seine gesamte Korrespondenz, mit der Weisung, alle Privatbriefe zu vernichten und nur sachliche Briefe aufzuheben. Unter den Briefen befanden sich auch Schreiben des Genossen Lenin und der Genossin Krupskaja.) angehörten. Über die Tätigkeit des Komitees der Unterstützungsorganisationen kann ich nichts sagen, da mir nichts davon im Gedächtnis haften geblieben ist, obwohl ich an allen Sitzungen des Komitees teilgenommen habe.
Als ich nach Paris kam, bezogen nur einige Genossen die Petersburger „Prawda". Wiederholt stellte ich in dem Komitee der Unterstützungsgruppe und im Vorstand der Pariser Gruppe unserer Partei die Frage der Massenverbreitung der „Prawda" unter den in Paris wohnenden Russen. Es wurden wiederholt Beschlüsse gefasst, aber das Resultat war gleich Null. Da nahm ich die Angelegenheit selbst in die Hand, obwohl ich in Paris fast gar keine Bekannte hatte. Es gelang mir, in Erfahrung zu bringen, dass es in der Stadt eine Zeitungsexpedition gab, die russische Zeitungen durch die Zeitungskiosken vertrieb. Ich suchte dieses Unternehmen auf und schloss einen Vertrag ab über das Abonnement und den Vertrieb der „Prawda" in Paris. Dann schrieb ich der Administration der „Prawda", sie solle jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Exemplaren der Zeitung nach Paris senden, je nach Angaben der Pariser Spedition. Die „Prawda" wurde zugestellt, aber die Spedition rechnete mit der Administration der Zeitung die verkauften Exemplare nicht ab. So musste ich auch auf die Hilfe der Spedition verzichten und alles selbst machen. Ich abonnierte die „Prawda" zunächst in 100 Exemplaren, die man mir an die Adresse meiner Schule zusandte. Ein Teil der Exemplare wurde mir schon dort abgenommen, den Rest verkauften Genosse Sefir und andere Mitschüler in dem kleinen russischen Restaurant in der Glacier-Straße, in dem die Schüler und auch viele andere Russen zu Mittag aßen. In der Folge kam die Sache so gut in Gang, dass aus den abgelegensten Winkeln von Paris ständige Leser der „Prawda" an mich mit der Bitte herantraten, ihnen die Zeitung per Post ins Haus zu senden. Damit verwandelte sich meine Wohnung in der Tat in eine Art von Expedition der „Prawda". An den Tagen, wo die „Prawda" kam, tat ich nach der Arbeit die Zeitungen in Kreuzbänder (die Konfiskationen der Zeitung in Petersburg wurden aus irgend einem Grunde auf die Auslandssendungen nicht im gleichen Maße ausgedehnt) und sandte sie durch die Post den Abonnenten zu. Ich korrespondierte mit der Redaktion der „Prawda", und da ich ihr pünktlich das Geld für die verkauften Exemplare ablieferte, bekam ich stets so viele Exemplare, wie ich haben wollte, und zwar ebenfalls sehr pünktlich.
In Paris gab es, wie ich schon erwähnt habe, eine Unmenge politischer Emigranten. Neben Leuten, die tatsächlich mit revolutionären Parteien verbunden waren, wohnten dort viele Emigranten, die nur zufällig ins Gefängnis oder in die Verbannung geraten waren. Die Emigranten waren fast alle sehr arm, man konnte kaum für alle Arbeit beschaffen, da die meisten von ihnen gar keinen bestimmten Beruf hatten. Die gelernten Arbeiter fanden allerdings leicht Arbeit. Auch fiel es den russischen Emigranten schwer, ohne Kenntnis der Sprache in Paris zu leben. Es war nicht leicht, die Sprache zu erlernen, da es in Paris eine Unmenge russischer Institutionen gab, in denen russisch gesprochen wurde, so dass die Emigranten fast keine Gelegenheit hatten, mit Franzosen zusammen zu kommen. Nur im Umgange mit diesen hätten sie richtig französisch lernen können. Als ich in Paris war, gab es dort bereits eine Gewerkschaftszentrale für russische Arbeiter, die mit den französischen Gewerkschaften in Verbindung stand; diese Zentrale hatte auch, wenn ich nicht irre, Kurse zur Erlernung der französischen Sprache arrangiert. Viele unserer jetzigen verantwortlichen Funktionäre mussten Milch austragen, Fensterscheiben in den Läden putzen und bei Umzügen Wohnungseinrichtungen auf Handwagen transportieren, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Aber nicht alle wollten auf diese Weise ihren Lebensunterhalt erwerben. Viele Emigranten sanken so tief, dass sie nicht einmal Arbeit suchten. Sie fanden das Leben auf fremde Kosten viel angenehmer und leichter, suchten auf jede nur mögliche Weise bei den Arbeitenden Geld herauszulocken („schießen" nannte man das damals) und betrogen nicht selten sowohl Russen als auch Franzosen, wozu es anscheinend keiner Kenntnisse des Französischen bedurfte. Es kam so weit, dass kein einziger geselliger Abend zum Besten der Emigrantenkasse oder irgendeiner revolutionären Partei ohne Skandale und Raufereien von Leuten aus den Kreisen der zufälligen Emigranten ablief.
Trotz dieser Zersetzung eines Teiles der Emigration ertrug die große Masse der politischen Emigranten unserer Partei standhaft die Emigration und nahm nach der Rückkehr nach Russland einen ehrenvollen Platz im Parteileben ein. Trotz alledem wurde von den politischen Emigranten, die an der Spitze unserer Partei bzw. mit ihr in enger Fühlung standen, schöpferische Arbeit auf dem Gebiete des revolutionären Gedankens geleistet. Dieser Teil der politischen Emigranten kam in Fühlung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung Europas und Amerikas und nahm dort das Beste, ohne das Schädliche mit zu übernehmen.
Vielleicht ist es gerade deswegen den Bolschewiki gelungen, durch Anwendung des revolutionären Marxismus eine stählerne, konsequente und aktive Partei zu schaffen, die auf allen Gebieten der Arbeiterbewegung die Führung erlangte und alle Fehler vermied, die die sozialdemokratischen Parteien der anderen Länder begingen.
Nachdem ich die Schule absolviert hatte, traf ich Vorbereitungen zur Reise nach Russland. Von dieser Reise wussten außer dem Auslandsbüro des Zentralkomitees die Genossen Kotow und Sefir. Schitomirski, den ich täglich besuchte, sagte ich, dass ich nach Deutschland reisen wolle, um bei Siemens und Schuckert zu arbeiten. Ich vertraute Schitomirski nicht mehr so wie früher, besonders, seitdem ich erfahren hatte, dass eine Untersuchungskommission (ohne dass Schitomirski etwas davon zu erfahren bekam) aus drei Mitgliedern des Zentralkomitees — einem Bolschewik, einem Bundisten und einem Menschewik — zum Studium des Materials eingesetzt worden war, das Burzew (Anm.: Burzew war es gelungen, den Provokateur Asew und noch andere Lockspitzel zu entlarven. Er unterhielt Beziehungen zu ehemaligen Lockspitzeln der zaristischen Ochrana, die ihn mit Material über Lockspitzel in der russischen revolutionären Bewegung versahen. Burzew hatte auch Beziehungen zum Polizeidepartement. Damals war Burzew noch ein Revolutionär und half den Parteien sehr viel durch die Entlarvung der Spitzel in ihren Reihen. Er handelte damals im Einverständnis mit allen revolutionären Organisationen.) über Schitomirski geliefert hatte. Burzew hatte nämlich dem damaligen Zentralkomitee unserer Partei (im Jahre 1910 oder 1911) eine Nachricht aus sicherer Quelle mitgeteilt, wonach die ausländischen Agenten der russischen Ochrana, als Schitomirski 1904 aus Deutschland nach Russland reiste, dem Polizeidepartement über diesen ein Telegramm in einer Form geschickt hatten, wie das stets nur in Fällen geschah, wenn Agenten der Polizei reisten. Die Untersuchungskommission prüfte die Mitteilung Burzews und fasste den Beschluss, dass das vorliegende Material nicht ausreiche, um Schitomirski nachzuweisen, dass er ein Spitzel sei. Man ließ ihn deshalb in der Partei. Trotzdem gab man ihm seitdem keine verantwortungsvollen Aufträge mehr. Er verlor schließlich den Zusammenhang mit der Partei fast ganz, obwohl er formell Mitglied der Pariser Gruppe war. Nachdem uns Burzew misstrauisch gemacht hatte, fragten wir uns, woher Schitomirski das Geld zum Leben in Paris nahm, woher er eine so gute Wohnung habe, da er doch keine ärztliche Praxis hatte. Im Januar 1911 sprach Genosse Lenin mit mir darüber, da er wusste, dass ich mit Schitomirski schon sehr lange bekannt war. Um das Leben Schitomirskis näher kennen zu lernen, besuchte ich ihn, als er mich gerade durch den Genossen Abram Skowno am Tage meiner Ankunft in Paris eingeladen hatte. Er freute sich sehr über meinen Besuch, schlug mir vor, zu ihm zu ziehen usw. Ich nahm diese Einladung nicht an, besuchte ihn aber täglich.
Seitdem ich in Paris war, begann Schitomirski wieder, sich für die Gruppe zu interessieren und fing von neuem an, dort aktiv zu arbeiten. Außer mir weilten oft bei Schitomirski Sefir, Kamenew und andere Genossen. Ich weiß nicht, ob Schitomirski diese Genossen jemals über ihre Arbeit oder über andere Genossen auszufragen versucht hatte, mich jedenfalls fragte er nie nach etwas, und ich kann mich nur an eine einzige Ausnahme erinnern. Im Januar 1911, während meines Aufenthaltes in Paris, überredete mich Schitomirski, mit ihm nach Versailles zu fahren, das ungefähr eine halbe Stunde von Paris entfernt liegt. Als wir gerade durch irgend ein Dorf fuhren, sagte mir Schitomirski, dass hier der Genosse Leiteisen (Lindow) wohne, und fügte die Frage hinzu, ob ich nicht wüsste, wo sich der Genosse augenblicklich befinde. Die Frage machte auf mich einen seltsamen Eindruck, und ich erwiderte, dass mir der Aufenthaltsort des Genossen Lindow unbekannt sei. Das stimmte tatsächlich. Aber auch, wenn ich etwas gewusst hätte, würde ich geschwiegen haben, da mich die Frage in Erstaunen setzte.
Als Tag für die Abreise aus Paris hatte ich den 14. Juli gewählt, den Tag der Erstürmung der Bastille im Jahre 1789. An diesem Tage kommen eine Unmenge Menschen aus ganz Frankreich nach Paris. Die Pariser Kleinbürger pflegen am Tage des Sturzes der Bastille auf den Straßen, vor den Restaurants und in den Kneipen herumzutanzen. Ich war überzeugt, dass mich an einem solchen Tage kein Spitzel bemerken würde. Die Genossen Sefir und Kotow begleiteten mich zum Bahnhof. Vor dem Abgang des Zuges fand sich auch Schitomirski ein, der sehr herzlich Abschied von mir nahm, mich sogar küsste und mich inständig bat, bei meinem nächsten Aufenthalt in Paris bei ihm einzukehren. Sein Benehmen hatte mich sogar gerührt.
Unterwegs machte ich in Baden-Baden und in Leipzig Halt. Von einer Bespitzelung hatte ich nichts gemerkt. In Baden schien es mir allerdings, als beobachte man mich, aber ich nahm an, dass es dortige Kriminalisten waren. Und in Leipzig fiel mir auch nicht das Geringste auf. Am Tage, an dem ich mir vorgenommen hatte, mit einem fremden legalen Pass nach Russland zu reisen, erhielt der Genosse, den ich in Baden-Baden aufgesucht hatte und mit dem zusammen ich über die Grenze wollte, einen Brief von seiner Wirtin, die ihm mitteilte, dass ein Spitzel sie besucht und nach mir gefragt hätte. Der Spitzel hatte die Frau in große Angst versetzt und ihr gesagt, dass ich irgend eine französische Bank beraubt hätte und dass er mir jetzt auf der Spur wäre. Die Frau beschrieb das Aussehen des Spitzels und flehte mich an, den Mann, der mir nachgereist war, anzuhalten und das Missverständnis, wie sie sich ausdrückte, aufzuklären. Die Frau war überzeugt, dass ich nicht der Gesuchte war. Als ich bald darauf aus der Wohnung trat, fiel mein Blick auf einen Mann, der neben dem Hause an einem sonst stets geschlossenen Fenster einer Kneipe saß und dessen Äußeres ganz genau mit der Beschreibung der Wirtin des Genossen übereinstimmte. Ich begab mich zum Genossen Sagorski. Dort fand ich ein Telegramm des Genossen Lenin vor, der mich einlud, nach Poronin zu kommen. Ich beschloss, die Einladung anzunehmen. Mit dem Genossen Sagorski arbeitete ich folgenden Plan aus: wir sandten einen Dienstmann nach den Sachen des Genossen aus Baden-Baden, der vollkommen legal war, und gaben ihm den Auftrag, das Gepäck nach dem Eulenburger Bahnhof zu bringen, von dem die Züge über Kalisch nach Russland gingen. Zur Beobachtung sandten wir hinter dem Dienstmann die Genossin Pilatzkaja her. Der Spitzel lief hinter den Sachen her. Unterdessen holte Genosse Sagorski meine Sachen ab und brachte sie nach dem neuen Leipziger Bahnhof. Abends ging Sagorski zum Eulenburger Bahnhof, um den Genossen aus Baden-Baden zu begleiten. Dabei stellte er fest, dass mit ihm auch der Spitzel abreiste. Wie ich später erfuhr, begleitete ihn der Spitzel bis zur Grenze, wo der Genosse einer gründlichen Visitation unterzogen wurde. Die Gendarmen fragten ihn über mich aus. Sicherheitshalber reiste mit meinen Sachen die Genossin Pilatzkaja, ich aber bestieg den Zug erst auf der nächsten Station, wo die Genossin ihn verließ und, nach Übergabe der Fahrkarte und des Gepäcks, mit dem Genossen Sagorski zusammen die Rückfahrt antrat. Ich kam wohlbehalten bei den Lenins an. Als ich ihnen von diesem Abenteuer erzählte und die Vermutung aussprach, dass es die Arbeit Schitomirskis war, erwiderte Genosse Kamenew, der gerade zugegen war, dass ich mir das alles nur eingebildet hätte. Aber am nächsten Tag nach meiner Ankunft in Poronin kam ein Brief vom Gen. Sagorski an, in dem er schrieb, dass gleich in der Nacht nach meiner Abreise in meiner Leipziger Wohnung eine Haussuchung stattgefunden hatte. Als übrigens der Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch der Eröffnung der russischen Kirche in Leipzig beiwohnte, veranstaltete die Polizei bei meinem Wirt abermals eine Haussuchung. Das war aber lange nach meiner Abreise aus Leipzig.
Wir beschlossen, Schitomirski mitzuteilen, dass ich vom Auslandsbüro des ZK nach Krakau berufen worden sei und mich hier niederlassen würde. Am Tage meiner Abreise nach Russland sandte ich ihm meine angebliche Krakauer Adresse; Krakauer Genossen aber hatten den Auftrag bekommen, die angegebene Wohnung scharf im Auge zu behalten und aufzupassen, ob diese nicht bespitzelt wurde, was dann nur auf Weisung von Schitomirski hätte geschehen können. In diesem Falle würden über die Beziehungen Schitomirskis zu der Ochrana keine Zweifel mehr möglich sein. Unsere Vermutungen stellten sich als richtig heraus. Als ich 1915 in der Verbannung dem Genossen Kamenew, der in demselben Kreise lebte, mitteilte, dass ich bei meiner Verhaftung in Samara genau feststellen konnte, dass Schitomirski ein Spitzel sei, erwiderte er mir, dass er das längst gewusst habe. Auf diese Weise entlarvten wir einen gefährlichen Lockspitzel, der uns Bolschewiki viel Schaden zugefügt hatte.

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