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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Erste Verhaftung — im Kiewer Gefängnis — die Flucht (1902)

Nachdem ich von dem Tode des Genossen Rogut im Gefängnisse erfahren hatte, gab ich meine Arbeit in dem Betrieb auf, in dem ich nach meiner Rückkehr aus Kowno — nach dem Auffliegen unseres Literaturvertriebs — tätig war, und reiste nach Wilkomir, um das dort zurückgebliebene Paket illegaler Literatur abzuholen und die näheren Umstände der Verhaftung Roguts in Erfahrung zu bringen. Da sich unter der dortigen Bevölkerung verschiedene, der Wahrheit nicht entsprechende Gerüchte über die Ursachen der Verhaftung verbreitet hatten, gaben wir mit Unterstützung der Ortsgruppe des „Bund" ein Flugblatt heraus, das die Bevölkerung über die Verhaftung und die Ermordung des Genossen aufklärte.
Einige Tage darauf erfuhr ich, dass die Ortsgendarmerie und Polizei die Einwohner darüber ausgefragt hatten, ob ich in der Stadt sei und wo ich mich aufhielte. Ich sah mich daher gezwungen, das Städtchen zu verlassen und nach Wilna zurückzukehren. Dort bemerkte ich sofort, dass man mir nachspionierte. Das veranlasste mich, die Genossen, mit denen mich Sergej Zederbaum (Jeschow) vor seiner Verhaftung bekannt gemacht hatte, aufzufordern, an meine Stelle so rasch als möglich einen Ersatzmann kommen zu lassen, um mir die Möglichkeit zu geben, die Stelle meiner Parteiarbeit zu wechseln. In den ersten Tagen des März 1902 erschien endlich dieser Ersatzmann unter dem Parteinamen „Marx". Sein wirklicher Name war Arzybuschew, aber das erfuhr ich erst nach der Revolution 1917.
Anfangs März 1902 begab ich mich mit „Marx" nach dem Bahnhof, um gemeinsam erst nach Kowno und von da aus direkt an die Grenze zu fahren, wo ich Gen. „Marx" persönlich in alle Verbindungen, über die ich damals verfügte, einweihen sollte. Wir nahmen in demselben Wagen Platz, aber auf verschiedenen Bänken. Kurz vor dem dritten Abfahrtsignal kam ein Spitzel in den Wagen, der mir nachspionierte und mir schon längst aufgefallen war. Ihm folgte ein Gendarm. Dieser trat geradeswegs auf mich zu und fragte nach dem Pass und der Fahrkarte. Ich gab ihm beides. Nun wollte er wissen, wo meine Sachen seien. Auf meine Antwort, dass ich keine Sachen bei mir hätte, forderte er mich auf, ihm zu folgen. Wir verließen den Wagen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Umstand, dass mein Begleiter, Genosse „Marx" unbemerkt geblieben war, machte mich sehr froh. Man führte mich zu dem rangältesten Bahnhofsgendarmen und das Verhör begann: „Ihr Name?" Ich antwortete: „Chigrin". Ich hatte gerade einen nagelneuen falschen Pass auf den Namen Chigrin; da man mich suchte und ich verfolgt wurde, hatte ich meinen richtigen Pass weggeworfen. Aber auf meine Antwort erklärte mir der Gendarm: „Sie heißen so und so" und nannte meinen wirklichen Namen. In dieser Weise wurde das Verhör fortgesetzt. Der Beamte erzählte mir alles und wusste sogar, wo meine Angehörigen und Verwandten wohnten. Ich aber hielt mich strikt an die Angaben in meinem falschen Pass und dachte mir Namen von Verwandten aus. In dem Zimmer, in dem das Verhör stattfand, war noch ein Beamter, der den Vorschlag machte, man solle mich doch zu einem gewissen Distriktspolizeikommissar bringen, der mich durch Prügel gesprächiger machen würde: Damals wurden nämlich die Verhafteten auf den Wilnaer Polizeiwachen furchtbar misshandelt. Der Beamte, der mich verhörte, zeigte aber mit dem Finger auf mich und erwiderte: „Sie irren sich, der wird auch dort nichts aussagen, er ist Mitglied der Organisation „Iskra". Infolge dieser Äußerung wurde es mir klar, dass meine Verhaftung im Zusammenhang mit der Verhaftung von Martows Bruder Sergej Zederbaum stand. Zederbaum selbst saß bereits in der Peter-Pauls-Festung in Petersburg. Ich dachte, dass man auch mich dorthin bringen würde, hatte mich aber geirrt. Vom Bahnhof führte man mich in die Gouvernements-Gendarmerieverwaltung. Da den Gendarmen mein wirklicher Name bekannt war und es infolgedessen gar keinen Zweck mehr hatte, auf die Angaben in meinem falschen Pass zu bestehen, so gab ich schließlich in der Gendarmerie zu, dass mein Name in der Tat nicht Chigrin war. Hier behielt man mich nicht lange und schob mich alsbald nach der Wilnaer Festung ab (diese Festung wurde aus irgendeinem Grunde Nr. 14 genannt), in der ich etwa eine Woche zubrachte. Dann wurde ich in Begleitung von zwei Gendarmen in einer mir unbekannten Richtung weiter befördert. Trotz meiner wiederholten Forderungen wurde mir nicht gesagt, wohin die Fahrt ging.
Es war das erste Mal, dass ich ins Gefängnis kam. Zu jener Zeit ging es in der Festung recht streng zu. Bedient wurde man von Leuten, die entweder Soldaten oder Gendarmen waren, und die zu zweit und sogar zu dritt mehrmals am Tage in die Zelle kamen. Kaum war ich in meiner Zelle eingeschlossen, als sofort von beiden Seiten ein Klopfen einsetzte, das ich jedoch nicht beantworten konnte, weil mir das unter den Gefangenen gebräuchliche Klopfalphabet unbekannt war. Da ich keine Antwort gab, fing man an, mir vom Hof aus Brotstückchen durch das Fenster in die Zelle zu werfen. Ich begann nun, darüber nachzudenken, wie ich wohl das sehr hoch gelegene Fenster erreichen und einmal in den Hof hinausschauen konnte. Da entdeckte ich auf einmal an der Wand in allen Sprachen Anweisungen, wie man bis zum Fenster gelangen könnte. Ich stellte etwas — es war entweder der Stuhl oder der Unratkübel — auf den Tisch, kroch hinauf und erreichte das Fenster. Kaum aber hatte ich mich mit den Nachbarn in Verbindung gesetzt, als der Festungskommandant plötzlich rasch und geräuschlos in meine Zelle trat, so dass ich nicht einmal Zeit hatte, vom Tisch hinunterzuspringen. Nur der Tatsache, dass ich einige Tage später weiter transportiert wurde, hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht schweren Arrest erhielt.
Erst, als ich meinen Bestimmungsort erreicht hatte, entdeckte ich, dass ich nach Kiew gebracht worden war. Das erschien mir sonderbar, denn ich war nie zuvor in Kiew gewesen. Bald erfuhr ich die Gründe dafür, aber darüber später.
Die Gendarmen, die mich begleiteten, übergaben mich der Kiewer Gendarmerieverwaltung, wo ich eine Woche lang in einem halbdunklen, stinkenden Keller gehalten wurde, bis man mich in das Lukjanowsche Gefängnis brachte. Als ich in das Gefängnisbüro kam, vernahm ich laute Schreie, den Gesang revolutionärer Lieder, und plötzlich flogen ins Büro Schmutzklumpen. Es fiel mir nicht ein, dass so etwas in einem Gefängnis möglich sei, denn sowohl in der Wilnaer Festung als auch in dem halbdunklen Keller des Altkiewer Polizeireviers, in dem sich die Gendarmerie befand, und in dem ich bis zu meiner Ankunft im Gefängnisbüro gesessen hatte, war es so still, dass man glauben konnte, dort wohnten überhaupt keine Menschen. Im ersten Augenblick kam mir sogar der Gedanke, es könnte eine Demonstration sein, die mich vielleicht befreien würde. Aber ich gab sofort diesen Gedanken auf, denn die Gefängnisbeamten blieben vollkommen ruhig und fuhren in ihrer Arbeit fort. Das Rätsel löste sich sehr bald. Nach Beendigung aller Formalitäten wurde ich dem Aufseher der politischen Abteilung Saiganow anvertraut, der mich in das Gefängnis führte. Kaum hatten wir das Tor passiert, als ein Haufen Studenten mich umringte und mit Fragen zu überschütten anfing: wer ich sei, woher ich käme, weshalb man mich verhaftet hätte und vieles andere, wonach man in solchen Fällen zu fragen pflegt. Diese Menge überraschte mich. Es waren fast ausschließlich Studenten. Sie waren es also, die gelärmt und gesungen hatten. Sie zogen nämlich von einem Ende des Hofes zum anderen, hin und her, mit Fahnen und Losungen, schreiend und lärmend.
Im Jahre 1902 ging durch Russland eine Welle von Studentenunruhen. In Kiew hatten Studenten und Arbeiter am 2. und 3. März desselben Jahres Massendemonstrationen veranstaltet. Unter den Studenten wurden darauf Massenverhaftungen vorgenommen; einige von ihnen erhielten vom Gouverneur drei Monate administrativer Haft, während andere auf die Aburteilung warten mussten. Diese Studentendemonstrationen im Gefängnis setzten fast bei allen Spaziergängen ein.
Die Studenten saßen im dritten Stock des Kriminalgebäudes. Abends wurden die Korridore abgeschlossen, aber die Zellen blieben auch nach der Kontrolle bis Mitternacht offen. Die Freiheiten, die die Studenten und politischen Gefangenen genossen, konnten natürlich auch auf die kriminellen Gefangenen nicht ohne Einfluss bleiben, und so wurden auch ihnen einige Erleichterungen zugestanden. Da wurde im April 1902 ein neuer Gefängnisdirektor eingesetzt, dem die Ordnung in seinem „Reiche" nicht gefiel und der gegen die Freiheiten der Kriminellen einen Feldzug eröffnete. Nun hagelte es Haussuchungen in den Zellen und man fing an, die Kriminellen zu schikanieren. Die Studenten und politischen Gefangenen aus dem dritten Stock begriffen sehr wohl, dass, wenn es dem Verwalter gelingen werde, den Widerstand der Kriminellen zu brechen, er sich sofort auch an die Studenten heranmachen würde. Deshalb nahmen wir, die wir mit den Kriminellen in einem Gebäude saßen, an der Obstruktion teil, die einige Tage lang dauerte, und machten einen solchen Höllenlärm, dass sehr viele Menschen angelockt wurden, obwohl das Gefängnis weit außerhalb der Stadt gelegen war. Während der Haussuchungen in den Zellen der Kriminellen, die in den oberen Etagen wohnten, ließen sie an Bindfäden, alles was sie an „Verbotenem" besaßen, zu uns herab. Das bemerkten nun die Soldaten, die auf dem Hof postiert waren. Aus diesem Grunde setzten auch bei uns Haussuchungen ein. Dies rief aber einen derartigen Proteststurm der Gefangenen (wir stießen die Soldaten einfach aus den Zellen hinaus, so dass sie gar nichts ausrichten konnten) und ihrer sich in Freiheit befindlichen Angehörigen hervor, dass der Gouverneur — ich glaube, es war Trepow — diese Haussuchungen einzustellen befahl und der Gefängnisverwalter nachgeben musste.
Aus dem Gesagten wird dem Leser klar, warum im Lukjanow-Gefängnis eine solche Freiheit herrschte. Diese Freiheit begünstigte übrigens auch die Ausführungen des groß angelegten Fluchtplanes, von dem noch die Rede sein wird. Die Beziehungen zu den Kriminalgefangenen waren, wie man sieht, die denkbar besten; das aber hinderte diese Leute nicht daran, ihre Kunst — anscheinend um in Übung zu bleiben — bei den politischen Gefangenen anzuwenden. So z. B. riefen einmal die in der Weberei beschäftigten Gefangenen — die Weberei lag im Erdgeschoß des Hofes, wo die Studenten zu spazieren pflegten, — den Genossen Silvin heran und baten ihn um Aufklärung über irgendeine Frage. Nachdem aber die gewünschte Auskunft erteilt und Silvin fortgegangen war, merkte er, dass seine Taschenuhr verschwunden war. Die Führer der Kriminellen, die so genannten „Iwans", fanden zwar später die Uhr, aber sie war bereits auseinander genommen und nicht mehr zu gebrauchen.
Ich wurde im selben Gebäude wie die Studenten untergebracht und zwar in der Zelle Nummer 5, wo sich die durch einen Zufall Verhafteten befinden. Da ich bei der Verhaftung keine Sachen bei mir gehabt hatte und auch über nur sehr wenig Geld verfügte, ging es mir nicht besonders. Aber niemand achtete auf mich.
Einige Tage nach meiner Ankunft im Gefängnis hielt der Student Knischnik für die wenigen Arbeiter einen Vortrag über das russische Selbstherrschertum, wobei ich als sein Hauptargument gegen diese Regierungsform figurierte. Er rief mit Pathos aus: „Hier sitzt ein Knabe" — dabei wies er auf mich — „der eine Reise antrat, um Arbeit zu suchen. Man riss ihn aus dem Zug, schleppte ihn durch ganz Russland und brachte ihn endlich nach Kiew, fern von seiner Heimat, in eine Stadt, in der er noch niemals war und keine Menschenseele hat." Ich saß da und musste innerlich über Knischniks Naivität lachen. Die ganze Charakteristik des Selbstherrschertums war natürlich richtig, aber mich hatte er zu Unrecht als Argument gewählt, was er sehr bald zu seiner großen Überraschung erfahren sollte.
Einmal nach der Kontrolle langweilten sich die Studenten sehr. Sie begannen an die Tür zu klopfen und verlangten nach dem Staatsanwalt. Sie hatten kaum Zeit gehabt, vom vielen Klopfen müde zu werden, als der zweite Staatsanwalt der Kiewer Strafkammer, Korsakow, schon ankam. Alle Verhafteten begaben sich in ihre Zellen und Korsakow fing seinen Rundgang an. In den Zellen fragten ihn die Verhafteten nach dem Stand ihrer Angelegenheit. Mich überraschte damals das kolossale Gedächtnis Korsakows. Er fragte nur nach dem Namen, worauf er, ohne ins Notizbuch oder in sonst irgendwelche Aufzeichnungen einen Blick zu werfen, einem jeden sagte, was ihm bevorstand. Schließlich kam die Reihe auch an die Zelle, in der ich saß. Korsakow kam, gefolgt von den Gefangenen des ganzen Korridors. Alle meine Zellengenossen fragten den Beamten nach ihrem Schicksal, ich aber schwieg. Da trat Knischnik mit der Miene eines Anklägers hervor und fragte: „Warum halten Sie diesen Knaben hier?" Korsakow erkundigte sich darauf: „Wie heißt er denn?" Knischnik nannte meinen Namen. Da wandte sich Korsakow an Knischnik und erklärte: „Dieser Knabe wird länger in Haft bleiben als Sie: er wird beschuldigt, Mitglied einer Organisation zu sein, die sich „Iskra" nennt, für diese sowohl Leute als auch Literatur transportiert zu haben, an der Organisation einer Druckerei beteiligt gewesen zu sein und dergleichen mehr." Alle waren sprachlos und Knischnik selbst so sehr überrascht, dass er nach Korsakows Fortgehen mich wiederholt fragte, ob es wahr sei, was der Staatsanwalt gesagt habe. Natürlich beruhigte ich Knischnik und erklärte ihm, dass das ein Missverständnis sei und dass man mich für einen anderen halte. Aber an diesem Abend war meine Stimmung nicht rosig, denn Korsakow hatte, abgesehen von einigen Kleinigkeiten, so ziemlich die Wahrheit gesagt, und ich dachte lange darüber nach, woher das alles den Behörden bekannt geworden sein konnte, und warum man mich nach Kiew und nicht nach Petersburg gebracht hatte.
Nach diesem eben beschriebenen Abend verbesserte sich mein Los bedeutend. Ich wurde in eine andere Zelle versetzt, erhielt ein Kissen, Wäsche, durfte ein Bad nehmen usw., was mir sehr wohl tat. Es war mir aber nicht beschieden, längere Zeit im Kreise der Studenten zu verbringen, unter denen sich künftige Revolutionäre, bürgerliche Demokraten und einfache Bourgeois befanden. Einige gehörten sogar der „Iskra" an, aber das erfuhr ich erst später.
Eines Abends wurde ein neuer Genosse ins Gefängnis gebracht. Gleich fragte man ihn, wie das so üblich war, wo er verhaftet worden sei und dergleichen mehr. Aus seinen Antworten ergab sich, dass man ihn an der Grenze festgenommen hatte, weil in seinen mit doppeltem Boden versehenen Koffern „Iskra"-Zeitungen gefunden worden waren. Nachdem ich ihn ordentlich gemustert hatte, beschloss ich, ihn zu fragen, wie er zu der „Iskra" gekommen und ob er ein Anhänger der „Iskra"-Gruppe sei, wen er von den ausländischen Genossen der „Iskra"-Organisation kenne usw. Dann fragte er mich ebenfalls, woher ich sei, wen ich aus der Gegend kenne, in der ich tätig war, und nannte im Gespräch meinen Parteinamen. Nun stellte sich heraus, dass er von meiner Existenz wusste, denn er war der Leiter des Literaturtransports der „Iskra" aus dem Ausland nach Russland. Auch ich kannte seinen Parteinamen. Auf diese Weise stellte ich die Verbindung mit den „Iskra"- Genossen im Gefängnis her, denn der neue Gefängnisinsasse war der Genosse J. Blumenfeld, der die russischen „Iskra"- Genossen kannte. Da sich aber in dem Lukjanowschen Gefängnis nicht wenige von ihnen befanden, so kam er bald in Kontakt mit den Insassen der Abteilung für politische Gefangene, in der viele hervorragende „Iskra"- Anhänger saßen. Bald darauf wurde auch ich dorthin versetzt. In dieser Abteilung herrschte ein ganz anderes Leben.
In Kiew befand sich zu der Zeit ein Gendarmeriegeneral Nowitzki. Es war ihm gelungen, einer allrussischen Beratung oder Konferenz der „Iskra"-Gruppe auf die Spur zu kommen. Für den Anführer hielt Nowitzki damals den Genossen Krochmal, der in Kiew seinen Wohnsitz hatte und auch sicherlich die Genossen nach Kiew zusammenberufen hatte. Aber es blieb nicht bei der Bespitzelung Krochmals. Die Gendarmerie erwischte außerdem die Korrespondenz aus den russischen Städten und die aus dem Auslande, entzifferte sie und stellte sie nachher den Empfängern zu. Von dort aus gelangten dann die Briefe an Krochmal. Der Gendarmeriegeneral Nowitzki war deshalb ganz im Bilde (wie ich aus dem nach 1905 veröffentlichten Dokumenten des Polizeidepartements erfuhr, war bei Krochmal auch meine Adresse gefunden worden). Soweit ich mich erinnern kann, reisten die Teilnehmer der Konferenz der „Iskra" ab oder, genauer gesprochen, stoben auseinander, bevor es noch zu einer Eröffnungssitzung kam. Nebenbei bemerkt konnten trotzdem die Teilnehmer später in dem Lukjanow-Gefängnis vollkommen unbehelligt und in aller Bequemlichkeit diese Konferenz abhalten, was sie sicherlich auch getan haben.
Zu dieser Konferenz waren von allen Ecken und Enden Russlands Vertreter der „Iskra" gekommen. Als sie die Wahrnehmung machten, dass sie beobachtet wurden, begannen sie abzureisen, aber man verhaftete sie alle unterwegs und brachte sie nach Kiew zurück. Ein Teil wurde in Kiew festgenommen.
Der Genosse Nikolaj Baumann saß schon im Zug, merkte aber unterwegs, dass er beobachtet wurde. Darauf hatte er entweder den Zug auf einer kleinen Station verlassen oder war während der Fahrt hinausgesprungen. Da ihm die Gegend unbekannt war, wandte er sich an den am Orte ansässigen Arzt mit der Bitte, ihn zu beherbergen. Der Arzt nahm ihn auf, meldete es aber sofort der Polizei, und Genosse Baumann geriet in das Lukjanow-Gefängnis.
General Nowitzki wurde berühmt, und man beauftragte ihn mit der Führung des aufsehenerregenden Prozesses der Anhänger der „Iskra". Das war der Grund, weshalb man die „Iskra"-Anhänger aus allen Städten des umfangreichen Russlands nach Kiew zu schaffen begann. Nach Kiew schaffte man auch alle Genossen, die an der Grenze verhaftet wurden. Die Ochrana begnügte sich nicht mit der Festnahme der aktiven Funktionäre der „Iskra", sondern brachte dem General Nowitzki nach Kiew alle Personen, die den „Iskra"-Anhängern durch Überlassung von Wohnungen als Treffpunkte und durch Entgegennahme von Briefen usw. geholfen hatten. Aus diesem Grunde war auch ich nach Kiew gebracht worden.
Die Frauenabteilung und die Abteilung für politische Gefangene im Lukjanowschen Gefängnis waren überfüllt von Leuten, die in Sachen der „Iskra" verhaftet worden waren.
In der nicht sehr großen politischen Abteilung saßen „Is-kra"-Anhänger und Sozialrevolutionäre (hauptsächlich Ukrainer). Die übrigen Parteien hatten dort nur sehr wenige Anhänger. Obwohl die Zellen und auch alle Türen, die auf den Hof hinausführten, von morgens bis abends geöffnet waren und auf dem Hof verschiedene Spiele veranstaltet wurden, arbeiteten die Gefangenen sehr ernst an ihrer Weiterbildung. Man hielt Vorträge über die verschiedensten Fragen, las gemeinsam die neueste illegale Literatur — die „Iskra", „Das revolutionäre Russland" usw. und debattierte über das Gelesene.
Ich saß schließlich eines Tages in einer Zelle mit Halperin (sein Parteiname war Konjagin) zusammen. Sogleich begann man mich zu bearbeiten. Josef Blumenfeld fing an, mich zu unterrichten. Er machte mich mit den Grundlagen des Marxismus bekannt. Unter seiner Leitung begann ich, ernste Bücher zu lesen. Ich habe schon früher erwähnt, dass ich vor meiner Ankunft im Kiewer Gefängnis täglich 12 und sogar noch mehr Stunden in der Werkstatt arbeiten musste. Nach der Arbeit aber war meine ganze Zeit durch die praktische Tätigkeit in der Gewerkschaft in Anspruch genommen, ferner durch verschiedene Arbeiten in den Organisationen und Gruppen, die damals im Westgebiet bestanden. Später verwandte ich dann viel Zeit auf die Organisation der „Iskra". So kam ich nur selten zum Lesen und tat das ganz unsystematisch. Das Gefängnis wurde für mich zu einer Universität. Hier begann ich nach einem gewissen System unter Aufsicht und Leitung eines gebildeten Marxisten zu lesen, der die revolutionäre und marxistische Literatur gut kannte. Bis zur Verhaftung war Genosse Blumenfeld als Setzer für die „Gruppe der Befreiung der Arbeit" tätig. Außer theoretischem Wissen hatte er auch eine gründliche Kenntnis der Arbeiterbewegung des Westens, ferner hatte er bereits eine größere praktische Tätigkeit hinter sich. Er war damals etwa 30 oder 35 Jahre alt. Obwohl ich halb so alt war, wurden wir sehr befreundet miteinander. Und auch jetzt noch — trotzdem wir recht bald in verschiedene Lager der russischen Arbeiterbewegung gerieten — bin ich ihm für all seine Freundlichkeit dankbar, und zwar hauptsächlich dafür, dass er mir die Grundlagen für ein richtiges Verständnis des Marxismus vermittelt hat.
Die Zeit im Gefängnis flog für mich ganz unbemerkt dahin; für die verantwortlichen Funktionäre der „Iskra"-Organisation aber war das Sitzen im Gefängnis fast unerträglich. Es war gerade zu der Zeit, als Streiks, Studentendemonstrationen und Bauernunruhen (in den Gouvernements Charkow, Poltawa usw.) eine alltägliche Erscheinung wurden. Die Organisatoren der „Iskra" in Russland aber mussten müßig im Gefängnis sitzen und hatten keine Möglichkeit, aktiv an den Kämpfen teilzunehmen.
Gegen Mitte des Sommers 1902 kam wieder einmal der zweite Staatsanwalt Korsakow ins Gefängnis und erklärte uns — einer Gruppe von etwa 12 bis 15 Gefangenen der politischen Abteilung — dass wir uns für den Winter einrichten könnten, da es einen langen Prozess geben werde. Von diesem Augenblick entstand bei vielen Genossen der Gedanke an eine Flucht. Es wurde ein Verzeichnis der „Iskra"-Genossen aufgestellt, die unbedingt fliehen mussten. In dieses Verzeichnis kam auch ich. Elf von diesen Genossen erklärten sich damit einverstanden. Sie berieten untereinander den Fluchtplan und verteilten die Rollen, die man im gegebenen Augenblick zu spielen hatte. Die Flucht sollte durch die Wand des Karrees, in dem wir zu spazieren pflegten, vor sich gehen. Zu diesem Zweck musste man das Feld vor dem Gefängnis untersuchen, Schlupfwinkel in Kiew finden, die Weiterbeförderung der Flüchtlinge organisieren, Pässe besorgen, Schlafpulver, Wein, einen Haken, eine Strickleiter und Geld beschaffen. Das waren die Aufgaben außerhalb des Gefängnisses. Innerhalb des Gefängnisses musste man die Spaziergänge bis in die späte Nacht hinein ausdehnen und alle nötigen Gegenstände nach ihrer Einlieferung ins Gefängnis gut verstecken. Die Hauptsache aber war: den ganzen Plan geheim halten, was sehr schwer war, da sehr viele Menschen sowohl im Gefängnis, als auch draußen davon wussten.
Im Gefängnis konnten wir uns, wie ich schon gesagt habe, sehr frei bewegen. Erstens, weil dort mehr Menschen untergebracht waren, als es Platz gab, und zweitens, weil dort sehr viele Studenten saßen, die aus den allerverschiedensten Anlässen „Krach machten". Infolge dieser freien Zustände hatten die Gefangenen ihren eigenen Ältesten (in der Person des alten Insassen Gen. Gurski); ich weiß nicht, ob er von der Obrigkeit zum Ältesten bestimmt oder von den Gefangenen dazu gewählt worden war, denn alle diese Zustände fand ich bereits bei meiner Einlieferung ins Gefängnis vor. Das Mittagbrot für die politischen Gefangenen wurde unter ihrer eigenen Aufsicht zubereitet, und alles, was man ihnen von außen schickte, wurde in der Kantine gesammelt und von allen gemeinsam zum Abendessen verspeist. Auch die eingekauften Lebensmittel kamen in diese Kantine, deren Verwalter Genosse Litwinow (ebenfalls ein alter Gefängnisinsasse) war. Alle diese Umstände begünstigten die Flucht außerordentlich. Der Genosse Gurski z. B. durfte sich im ganzen Gefängnis frei bewegen; außerdem war es ihm erlaubt, Beziehungen zur Außenwelt zu unterhalten.
Bevor wir all das bekamen, was ich oben aufgezählt habe, übten wir uns während der Spaziergänge mehrmals im Aufbau einer mehrere Mann hohen „Pyramide", die so hoch sein musste, wie die äußere Mauer des Gefängnisses (diese Übungen leitete der Genosse Gurski). Außerdem sangen wir unter der Leitung des Genossen Nikolay Baumann Reigenlieder, wobei wir statt einer Trommel irgendeine Blechbüchse schlugen. Das war notwendig, um den Wachtposten, der auf dem Hof postiert war, wo die Kriminellen spazieren gingen, an derartige Geräusche zu gewöhnen; denn solche Geräusche konnten leicht beim Überklettern der oben mit Blech bedeckten Mauer entstehen. In der Kantine wurden Überfälle in der Fesselung und Knebelung des fingierten Postens geübt und zwar so, dass dieser dabei nicht ersticken durfte (diese Übungen leitete Genosse Silvin).
Die Vorbereitungen hatten viel Zeit in Anspruch genommen, und wir fürchteten schon, dass die Kälte die Genossen veranlassen würde, die späten Abendspaziergänge einzustellen. In diesem Falle hätte die Gefängnisverwaltung das ausnutzen und uns einschließen können, noch bevor der Wachtposten jenseits der Mauer auf der Wiese, über die wir flüchten mussten, zurückgenommen wurde (das geschah regelmäßig bei der abendlichen Ablösung). Schließlich bekamen wir auch das Schlafpulver, das im Wein wirkte. Wir versuchten seine Wirkungen bei dem Genossen Malzmann, der mit uns fliehen sollte. Das Ergebnis war erstaunlich. Der Genosse schlief viel länger, als er hätte schlafen sollen, und wir waren schon in Sorge, es könnte jemand bemerken, dass Malzmann allzu lange schlief. Außerdem hätte er auch zur Vernehmung gerufen werden können — und dann wäre sofort ein Verdacht entstanden. Aber die Sache lief glücklich ab. Um die Aufseher an das Weintrinken mit den Gefangenen zu gewöhnen, begann man recht oft Geburts- und Namenstage und dergleichen mehr zu feiern. Auch das gelang. Wir erhielten aus Wilna 12 bis 15 Pässe (die Verbindung hatte ich hergestellt) und füllten sie in entsprechender Weise aus. Die Geldfrage machte ebenfalls keine Schwierigkeiten mehr und schließlich gelang es auch, die Wiese jenseits der Mauer zu untersuchen und gewisse Zeichen zu verabreden, durch die man sich aus einem Fenster des oberen Stockwerkes und von der Wiese aus darüber verständigen konnte, ob man die Wiese passieren durfte oder nicht. Wohnungen als Unterschlupf in der Stadt waren gefunden, die Marschroute für die Abreise der Flüchtlinge aus Kiew, die noch am Abend der Flucht erfolgen sollte, war ausgearbeitet worden und schließlich hatte man auch festgesetzt, wer sich in diese oder jene Wohnung begeben und wer mit wem zusammenfahren sollte. Es blieb nur noch eins übrig: einen Haken zu bekommen und eine Leiter herzustellen. Bald wurden wir auch damit fertig. Genosse Gurski hatte die Erlaubnis, Besuche im Gefängnisbüro zu empfangen, und wurde fast nie kontrolliert. Einmal brachte ihm jemand einen riesigen Blumenstrauß, in dem ein kleiner Haken versteckt war. Die Leiter aber machten wir aus dem einfachen Linnenzeug, das man uns zu Betttüchern gab. Soweit ich mich erinnern kann, hat Genosse Litwinow die Streifen Linnenzeug zu diesen Stricken gedreht. Zwei Enden dieses Strickes wurden an dem Haken befestigt, und als Stufen dienten nicht allzu dicke, kleine, feste Stöcke. Die Fortsetzung der Leiter war ein Strick, dessen oberes Ende am Haken befestigt war und der viele Knoten hatte, um den Abstieg jenseits der Mauer zu erleichtern. Als alles fertig war, machte man eine Probe. Alle erschienen auf dem Hofe mit sämtlichem „Zubehör" (ich kam mit dem Kissen, in dem die Leiter versteckt war) und beim ersten Signal stand jeder auf seinem Platz. Die Aufseher sämtlicher Korridore der politischen Abteilung unterlagen unserem Einfluss infolge der Weinspenden und der kleinen Trinkgelder, die man den Leuten für die Beförderung von Briefen oder Zeitungen gab. Manch einer unterlag auch der Wirkung der Agitation. Eine Ausnahme bildete nur ein alter Aufseher namens Ismailow, der früher Gendarm gewesen war und den wir sehr fürchteten. Anfangs war sogar beschlossen worden, die Flucht nicht während seiner Aufsichtsstunden zu unternehmen. Da es aber bereits Mitte August war und kaltes, regnerisches Wetter sich eingestellt hatte, wurde beschlossen, auch während seiner Dienststunden die Flucht durchzuführen. Nun musste man den Mann allerdings durch irgend etwas ablenken und zwingen, im Korridor seiner Abteilung sitzen zu bleiben. Die Maßnahmen dazu wurden getroffen, aber hier kam uns unerwarteterweise etwas dazwischen: der bewaffnete Aufseher, der an jener Innenmauer Posten stehen sollte, über die unsere Flucht geplant war, erschien mordsmäßig betrunken. So sehr wir uns auch bemühten, ihn den Blicken Ismailows zu entziehen: dieser bemerkte ihn doch, meldete es sofort der Verwaltung und stellte sich bis zum Erscheinen eines anderen Postens selbst an den Platz des Betrunkenen. Der Aufmerksamkeit des alten Gendarmen entging nicht die Unruhe, von der ein Teil der Gefangenen an diesem Abend befallen war, worüber er, wie wir später erfuhren, tatsächlich im Gefängnisbüro Meldung erstattet hatte. Wie dem auch war, wir hatten Pech gehabt. Nun mussten wir für den Fall einer Haussuchung alles verstecken, hatten aber gar keinen sicheren Ort. Jeder von uns besaß einen Pass und 100 Rubel, und in meiner Zelle lag obendrein die Leiter, die ich als Kissen benutzte und die im Falle einer Haussuchung selbstverständlich sofort entdeckt worden wäre. Unsere Nerven waren natürlich aufs äußerste gespannt. Für den Fall einer Haussuchung beschlossen wir, uns dieser so lange zu widersetzen, bis alle Zeit gefunden hätten, ihre Pässe zu vernichten, um auf diese Weise eine Feststellung der Teilnahme an der Flucht unmöglich zu machen. Die Genossen warfen damals die Frage auf, ob es nicht besser sei, mir die Leiter fortzunehmen, da sonst alle Verantwortung auf mich fiel, und die Gendarmen auch zu Foltern greifen konnten, um von mir die Namen meiner Mitverschworenen zu erfahren. Dennoch entschied man sich dafür, die Leiter bei mir zu lassen, in der Hoffnung, dass niemand darauf kommen würde, sie bei einem bescheidenen Knaben zu suchen, wenn daneben sich die Führer der „Iskra"-Gruppe befanden.
In der frühen Morgenstunde eines dieser unruhevollen Tage erscholl plötzlich ein Geräusch, das von dem Öffnen der Tür des unteren Korridors herrührte. Sofort vernahm man Rufe: „Genossen, Haussuchung!" Zum Glück stellte sich bald heraus, dass es sich nicht um eine Haussuchung handelte, sondern dass man soeben einen neuen Gefangenen gebracht hatte; infolgedessen war noch niemand von uns dazu gekommen, etwas zu vernichten.
Der neueingelieferte Genosse Banin war an der Grenze festgenommen worden. Es lag ein Befehl vor, ihn von den anderen Genossen zu isolieren. Man brachte ihn deshalb in eine Zelle, die immer verschlossen war, während wir den ganzen Tag über spazieren gingen und unsere Zellen erst zur Nacht geschlossen wurden. Wir nahmen uns indessen vor, gegen die Art der Behandlung des neuen Gefangenen nicht zu protestieren, da wir fürchteten, dass man uns das Recht nehmen würde, so spät umherzuspazieren. Diesen neuen Gefangenen hatte nun der Stellvertreter des Gefängnisdirektors, der erst vor kurzem zu uns gekommene Verwalter der politischen Abteilung, Sulima, in sein Herz geschlossen. Er begann ihn in seiner Zelle zu besuchen, mit ihm Schach zu spielen oder ganz einfach Gespräche mit ihm anzuknüpfen. Einmal erklärte dieser Beamte in einer Unterhaltung dem Gefangenen, Genossen Banin, dass er in der vergangenen Nacht in einem fort um das Gefängnis herumgegangen wäre, da er davon Kenntnis erhalten habe, dass die Politischen in jener Nacht eine Flucht geplant hätten. Nun wurde die Sache kritisch: entweder man floh sofort oder man ließ den Gedanken an die Flucht überhaupt fallen. Und da beschloss man um jeden Preis zu fliehen. Zugleich entschied man sich dafür, jedes unnötige Blutvergießen zu vermeiden, aber für den Fall, dass nach dem Signal zur Flucht jemand aus dem Büro auf dem Hof der politischen Abteilung erscheinen sollte, mit diesem nicht viel Federlesens zu machen. Zu diesem Zweck wurden einige Genossen mit breiten Pelerinen ausgestattet und mit der Aufgabe betraut, den unerwünschten Eindringlingen sofort die Pelerine um den Kopf zu werfen und ihn so am Schreien zu verhindern. Der Tag der Flucht war festgesetzt, aber da kam wieder etwas dazwischen. Wir konnten ja nicht ohne Hilfe eines Teils der im Gefängnis zurückbleibenden Genossen auskommen, und einige von ihnen wussten von der Flucht. Wir wandten uns auch an die Mitglieder der anderen Parteien, die schwere Strafen zu erwarten hatten, und schlugen ihnen vor, mit uns zu fliehen, aber sie lehnten es alle ab. Am letzten Tage erklärten uns nun die ukrainischen Sozialrevolutionäre, deren Hilfe wir sehr dringend bedurften, dass wir einen der ihren, den Sozialrevolutionär Pleski, mit uns nehmen sollten. Uns wäre es natürlich recht gewesen, wenn sogar alle Gefängnisinsassen mitgekommen wären, aber man musste ja Pleski einen Pass, Geld, Adressen usw. besorgen, was an einem Tage nicht möglich war. Auch diese Schwierigkeit wurde überwunden: ein jeder von uns gab ihm 10 Rubel, wir schrieben ihm in aller Eile einen Pass aus, er erhielt eine Adresse in der Stadt und alles war in Ordnung. Statt der 11 „Iskra"-Anhänger sollten nun 12 Mann fliehen.
Am Abend des 18. August — noch vor dem Signal — erschien der Vizedirektor des Gefängnisses, Sulima. Er begab sich zu dem Gefangenen, von dem ich bereits erzählt habe, und begann mit ihm Schach zu spielen. Trotzdem wurde das Signal gegeben. Das Konzert begann, und Genosse Raumann schlug die Trommel. Indessen wurde die Pyramide aufgebaut, auf die Spitze der Pyramide kletterte der Genosse Gurski. Gleichzeitig wurde der Wachtposten gefesselt und auch geknebelt, damit er nicht schreien sollte. Die Aufseher in den Korridoren aber schliefen bereits den Schlaf des Gerechten. Ich reichte Gurski die Leiter, warf die Gefängniskleidung ab und kletterte rasch die Treppe hinauf, da Genosse Gurski inzwischen den Haken an der anderen Seite der Mauer festgemacht hatte. Als ich dann am Strick hinabglitt und mir dabei übrigens die Haut an beiden Händen zerriss, was einen schier unerträglichen Schmerz verursachte, wurde der Strick von dem Genossen Gurski gehalten, damit der Haken nicht lose werde. Dann reichte er mir den Strick und verschwand irgendwohin. Es war schon ganz dunkel. Nach mir kam Rasowski, der sich im Gefängnis ein Rein gebrochen hatte, was uns ebenfalls veranlasst hatte, die Flucht immer wieder und wieder hinauszuschieben, da wir den Genossen nicht im Gefängnis lassen wollten. Ich gab ihm den Strick nicht, sondern wartete, bis der nächste Genosse kommen würde. Alles ging glatt: nun gab ich den Strick an den nächsten Genossen weiter und ergriff die Flucht. Ich flog aber aus voller Kraft kopfüber in einen ziemlich tiefen Graben, von dem uns nichts bekannt war. Dort unten fand ich den Genossen Rasowski. Er scharrte um sich und suchte nach seinem Hut, den er beim Herabpurzeln verloren hatte. Das gleiche war auch mit meinem Hut geschehen, aber es hatte keinen Zweck, in dieser Dunkelheit nach dem Hut zu suchen. Ich fasste Rasowski unter den Arm, wir kamen wieder auf die Wiese, durchquerten diese im Laufschritt und befanden uns plötzlich in einer Straße. Hier erst fiel uns ein, dass man nicht ohne Kopfbedeckung durch die Straßen Kiews gehen konnte. Obendrein wollte uns kein Droschkenkutscher befördern, da ein jeder behauptete, wir hätten unser Geld längst vertrunken und würden ihn nicht bezahlen. Schließlich entlohnten wir einen Kutscher im voraus und fuhren in der Richtung auf jene Wohnung zu, wo ich und Basowski uns zu melden hatten. Unweit davon stiegen wir aus der Droschke und begaben uns rasch zu Fuß nach der Observatoriumgasse. Dort suchten wir das Haus Nr. 10 und konnten es nicht finden, denn das letzte Haus dieser Gasse trug die Nr. 8 und gleich dahinter begann irgendein anderes Gässchen. Nachdem wir hin- und herüberlegt hatten, beschlossen wir, in das Haus Nr. 8 zu gehen. Wir klingelten, fragten nach dem Betreffenden, aber die Leute, die öffneten, waren über unser Aussehen sehr erstaunt und erklärten, der Gesuchte habe nie in diesem Hause gewohnt. Das war eine nette Geschichte! Nicht weit vom Hause Nr. 8 befand sich eine Wiese. Dahin begaben wir uns. Der Genosse Basowski sagte, vor Schmerzen stöhnend, leise zu mir: „Hätte ich gewusst, dass wir in der „Freiheit" nicht einmal einen Unterschlupf zu finden imstande sein werden, dann wäre ich nicht geflohen." Ich hatte nun ebenfalls mein eigenes Leid: die Hände schmerzten mir sehr stark, außerdem hatte ich einen furchtbaren Durst. Plötzlich sahen wir, dass sich jemand dem Hause Nr. 8 rasch näherte und nicht minder rasch von der Tür zurücksprang. Sofort erkannten wir den Genossen Gurski. Auch ihn hatte ein Missgeschick erreicht: die Inhaber der Wohnung, die er hatte aufsuchen sollen, waren entweder — ich kann mich nicht mehr genau entsinnen — ausgezogen oder verstorben. Er kannte unsere Adresse und war ebenfalls hierher gekommen. Nun berieten wir zu dritt, was zu tun war. Als Gurski merkte, dass wir ohne Kopfbedeckung waren, entfernte er sich (er kannte Kiew sehr gut) irgendwohin und kehrte nach einiger Zeit mit einem Zylinder zurück, den Basowski aufsetzte. Genosse Gurski schlug uns vor, in eine Vorstadt Kiews — Mokraja-Slobodka — zu fahren, wo er Verwandte hatte. Wir erklärten uns mit seinem Vorschlag einverstanden. Gurski fuhr allein in einer Droschke. Basowski und ich folgten ihm in einer anderen. Basowski sah mit seinem Zylinderhut zwar sehr solide aus, aber für die Vorstadt war es doch ein ganz unpassendes Kleidungsstück. Zum Glück war es auf der Straße dunkel, ein feiner Regen rieselte, und niemandem fiel der Zylinder auf. Als wir anlangten, fanden wir einen sehr gastfreundlichen Polen, der sofort einen Imbiss und Schnaps auf den Tisch stellte und uns ein wenig ausruhen ließ. Indessen schlug er uns vor, seine Wohnung noch während der Dunkelheit zu verlassen, da sein Nachbar, ein Gendarm, es merken konnte, dass er Besuch fremder Leute bekommen hätte. Da war nichts zu machen. Ich erhielt von dem Hausherrn einen Strohhut. Basowski begab sich mit mir zu seinen Bekannten, die wir aber nicht antrafen, da sie in ihrer Sommerwohnung übernachteten. Nun blieb uns nur noch eins: in Droschken nach den verschiedensten Richtungen der Stadt spazieren zu fahren. Gut, dass Basowski wenigstens die Bezeichnungen der Stadtteile und Straßen kannte, — ohne ihn hätte ich kaum so die ganze Nacht in Droschken verbringen können. So fuhren wir die ganze Nacht hindurch und trennten uns gegen Morgen, um nicht etwa zusammen verhaftet zu werden.
Ich hatte drei Möglichkeiten: entweder irgendeinen sympathisch aussehenden Studenten anzuhalten und ihn um Hilfe zu bitten, oder auf den Bahnhof bzw. zum Hafen zu gehen, oder endlich einen Zuschneider aufzusuchen, mit dem ich in dem Lukjanowschen Gefängnis vor der Flucht zusammen gesessen hatte. Ich wählte die letzte Möglichkeit, obwohl ich nur seinen Namen, den Beruf seines Vaters und die Straße kannte, nicht aber die Nummer des Hauses, in dem er wohnte. Jedenfalls fuhr ich in jene Gegend (Andrejewski-Spusk), wo ich zu meiner Freude das Schild des von mir gesuchten Zuschneiders erblickte. Ich ließ mich eine kleine Strecke weiter fahren, zahlte und ging zu dem Genossen. Er war gerade zu Hause und empfing mich in sehr herzlicher Weise.
Später stellte sich heraus, dass das Haus Nr. 10 sich in der Fortsetzung der Observatoriumgasse befand, dass man uns dort erwartet und alles vorbereitet hatte. Anscheinend war auch bei den übrigen Genossen alles ebenso verdreht worden. Für Halperin und, soweit ich mich erinnern kann, auch für Malzmann sollten Pferde bereitstehen, um die Genossen aus Kiew hinauszubringen, aber es waren keine Pferde da. So waren die beiden gezwungen, nachts zu Fuß aus der Stadt zu eilen und sich tagsüber in einer Heumiete versteckt zu halten. Einmal wurden sie sogar entdeckt und zum Landjäger gebracht, aber für 3 Rubel gelang es ihnen, ihre Freiheit wieder zu erlangen. Genosse Blumenfeld und noch jemand hatten im Ruderboot fliehen sollen, aber auch das Boot war nicht zur Stelle. Ob die anderen Genossen die angegebenen Wohnungen gefunden haben, weiß ich nicht.
Dem Genossen, zu dem ich gekommen war, sagte ich, dass man mich aus dem Gefängnis entlassen hatte, wobei ich mich schriftlich hätte verpflichten müssen, Kiew sofort zu verlassen, und dass ich aus diesem Grunde sehr dringend jemand von der Ortsleitung der RSDAP („Iskra") sprechen müsste. Der Genosse führte mich in sein Zimmerchen und begab sich selbst auf die Suche nach einem Mitglied des Parteikomitees. Bald kehrte er mit einer Neuigkeit zurück, die ihn sehr erregt hatte: sowohl in Parteikreisen als auch unter der Bevölkerung erzählte man, dass alle Insassen des Gefängnisses geflohen waren und dass in der Stadt alles Kopf stünde. Genaueres darüber, wer geflohen sei, wusste er auch nicht. Gleichzeitig erklärte er mir in sehr vernünftiger Weise, dass in der Stadt wahrscheinlich infolge dieser Flucht Haussuchungen einsetzen würden und dass es das beste wäre, wenn ich nicht bei ihm bliebe, sondern in eine andere, von ihm bereits für mich besorgte Wohnung umziehe. Dort sollte ich so lange warten, bis er mich mit dem Parteikomitee der „Iskra" in Verbindung gebracht haben würde. Dann begaben wir uns gleich nach Anbruch der Dunkelheit in eine Bäckerei, wo ich übernachtete und die folgenden 24 Stunden zubrachte. Am darauf folgenden Tag erschien der Genosse wieder und brachte mich nach einer konspirativen Wohnung, wo ich einen Studenten vorfand, mit dem ich zusammen im Gefängnis (in der Studentenabteilung) gesessen hatte. Jetzt erschien dieser als Vertreter des Parteikomitees. Da er wusste, dass ich einer von den Flüchtlingen war, so brauchte es nicht vieler Erklärungen: er wies mir einen Unterschlupf an, wohin ich mich in Begleitung eines Genossen begeben musste, der ebenfalls mit mir im Gefängnis gesessen hatte. Von diesem Vertreter der Ortsleitung erfuhr ich, dass es 11 Mann gelungen war, zu fliehen und dass unter diesen 11 sich auch der Sozialrevolutionär befand, so dass also einer der „Iskra"-Genossen im Gefängnis zurückgeblieben war, nur wusste er nicht wer. Später erfuhr ich, dass alles so verlaufen war, wie man es im Fluchtplan vorgesehen hatte. Genosse Silvin aber, genannt „Landstreicher", der — wenn ich mich nicht irre — den Wachtposten festhielt, hörte plötzlich irgendeinen Lärm, den er für Alarm hielt. Da lief er schnell zurück in seine Zelle, vernichtete den Pass, versteckte das Geld und kehrte erst dann auf den Hof zurück. Zu der Zeit war zwar noch kein Alarm geschlagen worden, aber für eine Flucht war es schon zu spät, da er keine Dokumente mehr besaß und das Geld nicht bei sich hatte. Er ging dann zusammen mit den anderen Genossen, die auf dem Hof spazierten, in seine Zelle zurück. Der stellvertretende Direktor des Gefängnisses hatte sein Schachspiel beendet und begann an die Tür zu klopfen, damit ihm geöffnet werde (er war in der Zelle eingeschlossen). Niemand öffnete ihm jedoch, denn alle Aufseher schliefen. Er schlug Alarm (er soll sogar geschossen haben), worauf unsere Flucht dann entdeckt wurde. Hier sei bemerkt, dass die erste Untersuchung zur Feststellung führte, dass die Flucht durch die Pforte ausgeführt worden sei, dass der Pförtner uns alle durchgelassen hätte und dass die Strickleiter, die schlafenden Aufseher und der gefesselte Posten nichts als Simulation wären.
Die Wohnung, die mir der Vertreter des Parteikomitees gegeben hatte, lag jenseits der Dnjeprbrücke, d. h. bereits im Tschernigowschen Gouvernement (hinter der Brücke fing bereits das Tschernigowsche Gouvernement an). Ich ließ mich in einem Zimmer als Externer nieder, der vor dem Abitur angeblich Tag und Nacht ochste und deswegen nie aus dem Hause kam. Eine Woche später wurde mir mitgeteilt, dass ich mit der Mietskutsche nach Schitomir reisen, unterwegs aber in irgendeinem Städtchen absteigen sollte, wo ein Zadek (ein jüdischer Theologe) wohnte. In der dortigen Synagoge würde mich Basowski erwarten.
Als ich ankam, stieg ich in einem jüdischen Hause ab, wo ich sofort erfuhr, dass es am Ort zwei Zadeks und zwei Synagogen gab, dass aber die Zadeks selbst sich im Augenblick außerhalb des Städtchens aufhielten. Abends war ich in einer der Synagogen, fand jedoch Basowski dort nicht vor; dafür aber erregte ich Verdacht bei den Leuten, bei denen ich abgestiegen war. Ich hatte folgendes Gespräch der Wirtsleute belauscht: „Ist er nicht ein Flüchtling? Leute, die den Zadek aufsuchen wollen, wissen, wann er zu Hause und wann er auswärts ist" Ich verbrachte den Tag in einer unangenehmen Stimmung und begab mich schließlich nach Schitomir. Morgens, als wir schon ganz in der Nähe Schitomirs waren, schien es mir, als ob der zweite Staatsanwalt Korsakow mit derselben Mietskutsche fahre. Ich erschrak heftig, da ich mich aber nirgendwo verstecken konnte, beschloss ich, bis zum Bestimmungsort weiterzufahren. In Schitomir angelangt, begab ich mich zum Treffpunkt der Genossen vom „Bund", da wir, die Anhänger der „Iskra", zu jener Zeit in der Stadt noch keine Ortsgruppe hatten. Von da aus kam ich in die Wohnung eines angesehenen Genossen vom „Bund", der den Parteinamen „Urtschik" führte, und den ich sehr gut aus dem Westgebiet her kannte. Da der Ortsgruppe des „Bundes" nur sehr wenige geeignete Wohnungen zur Verfügung standen, musste ich eine Zeitlang in einer konspirativen Wohnung leben, wo sie ein Literaturlager hatte und die zusammengelegte Druckerei sich befand.
Ich musste lange Zeit warten, bis mir die nötigen Verbindungen zum Grenzübertritt und die Adressen der „Iskra"-Genossen im Auslande übergeben wurden (das alles hatte Basowski, den ich eben nicht hatte finden können), nahm deshalb in einer Werkstatt Arbeit in meinem Beruf an und zog zu einem Kollegen, mit dem ich zusammen arbeitete. Eines Tages begaben wir uns beide auf den Markt, um einen Anzug zu kaufen. Da stieß ich ganz unerwartet auf den Aufseher Wojtow, der den Korridor, in dem sich meine Zelle befand, bewacht hatte und der am Tage der Flucht durch ein Schlafpulver unschädlich gemacht worden war. Ich machte mich natürlich sofort aus dem Staube. Das setzte meinen Hauswirt in nicht geringes Erstaunen. Zugleich traf ich energische Vorbereitungen zur schleunigsten Abreise aus der Stadt. Um diese Zeit suchte mich der Student Blinow auf, mit dem ich im Gefängnis zusammen gesessen hatte und teilte mir mit, dass Halperin sich in Schitomir befinde und mich sprechen möchte. Wir trafen uns im Walde. Von Halperin erhielt ich die nötigen Adressen und reiste dann kurze Zeit darauf in Begleitung einer Genossin vom „Bund" nach Kamenetz-Podolsk und von dort nach irgend einem Grenzdorf. Nachts verließen wir das Dorf und überschritten unter Führung eines Bauern die Grenze. Dort mussten wir einige kleine Flüsse an den Furtstellen überqueren, worauf wir wohlbehalten die Kette der österreichischen Grenzwachen passierten und auf einmal auf österreichischem Gebiet waren. Unterwegs nach Berlin wurde ich an der deutsch-österreichischen Grenze angehalten. Man ließ mich aber noch am selben Tage frei, und ich erreichte ohne weitere Zwischenfälle Berlin. Dort stellte sich heraus, dass alle neun„Iskra"-Genossen sich bereits im Auslande befanden und ich als letzter angekommen war. Der elfte Flüchtling aber, der Sozialrevolutionär Pleski aus Kiew, hatte sich nach Krementschug begeben und war dort ganz zufälligerweise verhaftet worden. Der Name des Dorfschulzen, den er in seinem Pass zu stehen hatte, war mit Bleistift geschrieben; man hätte ihn mit Tinte umschreiben müssen, was aber von Pleski vergessen worden war. Als er ins Hotel kam, gab er seinen Pass zur Anmeldung ab. Auf der Polizei fiel die Sache auf, man brachte ihn aufs Revier, und da soll er zur Verwunderung des Kommissars erklärt haben, dass er in Wirklichkeit Pleski heiße und aus dem Kiewer Gefängnis geflohen sei. So wurde mir wenigstens in Berlin seine Verhaftung geschildert. Die kühne und erfolgreiche Flucht hat damals sowohl im revolutionären Russland als auch in der „Gesellschaft" viel Staub aufgewirbelt.

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