Die Vorbereitung und Einberufung der Allrussischen Parteikonferenz (Ende 1911 und Anfang 1912)
Am 5. Juni 1911 fand eine Sitzung von im Auslande lebenden und zufällig im Auslande weilenden Mitgliedern des ZK statt, die gegen das Liquidatorentum waren. (Bolschewiki und Mitglieder der SD Polens und Litauens.) In dieser Sitzung stellte man fest, dass es unmöglich war, die zentralen Parteikörperschaften, die auf dem Londoner Parteitag gewählt worden waren, wiederherzustellen, da alle Mitglieder des russischen Büros des ZK verhaftet waren und im Auslandsbüro die Menschewiki und die Liquidatoren die Mehrheit bekommen hatten. Zu jener Zeit ging nämlich auch die Mehrheit im ZK der Sozialdemokratie des lettischen Gebietes zu den Liquidatoren über. In dieser Beratung wurde beschlossen, eine Organisationskommission zur Einberufung einer Parteikonferenz sowie eine Technische Kommission aus drei Genossen im Auslande zu schaffen. Soweit ich mich erinnern kann, waren das die Genossen Kamski, Ljowa und der Vertreter der SD Polens und Litauens Genosse Leder. Im Juni oder Juli kamen Semjon Schwarz und Sachar-Breslaw zu mir nach Leipzig. Von ihnen erfuhr ich, dass sie zur Vorbereitung der Parteikonferenz nach Russland reisten. Ich brachte sie mit den Genossen des Transportapparates in Verbindung, damit die Delegierten leicht über die Grenze geschafft werden konnten. Die beiden Genossen aber beförderte ich über Grenzpunkte, mit denen ich Verbindung hatte.
Zur Organisation der Parteikonferenz wurden auch die früheren Teilnehmer der Parteischule herangezogen, die kurz vorher ihre Studien beendet hatten und nach Russland zurückgekehrt waren. Auch der Genosse Sergo-Ordschonikidse begab sich zu demselben Zweck in die Heimat. Zu dem gleichen Zweck wurde auch in Russland eine Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz geschaffen. Diese Kommission fand lebhaften Beifall; sofort gruppierten sich alle damals in Russland und im Kaukasus bestehenden Parteiorganisationen um sie. Während die Organisationskommission in Russland bei der Organisation der Parteikonferenz große Erfolge zu verzeichnen hatte, begannen im Ausland die „Parteitreuen" Bolschewiki und die liquidatorenfeindlichen Mitglieder der SD Polens und Litauens der Arbeit Hindernisse in den Weg zu legen. Zwischen der Mehrheit der Technischen Kommission im Ausland und der Organisationskommission in Russland kam es zu Reibungen.
Der Vertreter der SD Polens und Litauens trat aus der Redaktion unseres Zentralorgans aus (nach der Konferenz der antiliquidatorisch eingestellten Mitglieder des ZK vom 5. Juni 1911 wurden die Liquidatoren Martow und Dan aus der Redaktion entfernt), und als der „Sozialdemokrat" ohne Mitwirkung des Vertreters der SD Polens und Litauens erschien, forderte Genosse Ljowa in seiner Eigenschaft als Mitglied der Technischen Kommission, ich sollte den „Sozialdemokrat" nicht mehr nach Russland versenden und statt dessen die „Informationsberichte" verbreiten, die die ausländische Technische Kommission herauszugeben begann. Im ganzen erschienen davon zwei Nummern. Ich weigerte mich natürlich, seine Forderung zu erfüllen, und schrieb darüber einen Brief an die Redaktion des „Sozialdemokrat", die das Schreiben abdruckte. Im Herbst des Jahres 1911 kam Genosse Ljowa, als er auf der Reise von Berlin nach Paris war, zu mir nach Leipzig. In Berlin hatte er anscheinend mit den „Treuhändern" über die Einstellung der Zuschüsse von Geldmitteln zum Druck und Vertrieb des „Sozialdemokrat" beraten. Nachdem er sich augenscheinlioh davon überzeugt hatte, dass ich den Versand des „Sozialdemokrat" nach Russland nicht einstellen wollte, erklärte er mir, dass die Technische Kommission keine Mittel mehr für den Transport bereitstellen werde.
Anfang November erhielt ich von Lenin einen Eilbrief mit der Aufforderung, unverzüglich nach Prag zu reisen und dort alles für die Parteikonferenz vorzubereiten. Dem Brief lag außerdem noch ein kurzes Schreiben an den tschechischen Sozialdemokraten Nemetz bei. Sofort reiste ich hin. Nemetz machte mich mit zwei tschechischen Sozialdemokraten bekannt — mit dem Verwalter des Volkshauses und seinem Vertreter. Zusammen mit ihnen wurden dann praktische Maßnahmen zur Vorbereitung der Parteikonferenz ausgearbeitet. Mit den Tschechen vereinbarte ich alles in bezug auf die Treffpunkte für die Genossen aus Paris und aus Leipzig und in bezug auf die telefonischen Gespräche aus Leipzig. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, kehrte ich zurück und berichtete dem Genossen Lenin von dem Ergebnis meiner Reise. Dann begann ich in Leipzig selbst alles zum Empfang der Delegierten aus Russland vorzubereiten.
Zu dieser Zeit waren die Delegierten in vielen Städten bereits gewählt, und wir erwarteten sie täglich. Mitte Dezember erhielt ich von Nathan, der an der Grenze in der Gegend von Suwalki tätig war, die Nachricht, dass mit unserer Parole an dem von ihm selbst angegebenen Treffpunkt vier Mann erschienen waren, die er über die Grenze zu mir befördert hatte. Ich wartete einen Tag, zwei Tage, ging mehrere Male täglich zum Treffpunkt, wo sie mich aufsuchen sollten, aber sie kamen nicht. Schließlich wurde ich sehr unruhig darüber (Anm.: Zu jener Zeit tummelten sich an der preußisch-russischen Grenze (auf deutscher Seite) Agenten deutscher Dampfschifffahrtsgesellschaften, die mit Hilfe der Gendarmen russische Emigranten zum Kauf von Schiffskarten zwangen. Die Gendarmen fingen die Russen ab, brachten sie in die Quarantäne (die Emigranten bezeichneten sie als „Dampfbad") und hielten sie sechs bis acht Tage fest. Auswanderer, die wirklich nach England oder Amerika wollten, wurden zur weiteren Beförderung in großen Gruppen nach den deutschen Hafenstädten abgeschoben. Wer aber keinen Auslandspaß hatte und weder nach England noch nach Amerika reisen wollte, wurde von den preußischen Gendarmen einfach nach Russland zurückgeschickt. Auf diese Weise wurde im Januar 1903 an der preußischen Grenze Genosse Noskow verhaftet und in den späteren Jahren noch andere Genossen. Ich hatte Angst, dass die von mir erwarteten vier Genossen in das „Dampfbad" geraten waren, obwohl unsere Genossen stets so über die Grenze geleitet wurden, dass sie keine Städte zu berühren brauchten, in denen Gendarmen und Agenturen von Dampfschifffahrtsgesellschaften waren.).
Ich stellte fest, wann die Züge aus Berlin eintrafen, und beschloss, selbst zum Bahnhof zu gehen, in der Annahme, dass die Vermissten doch vielleicht noch auftauchen würden. Ganz früh begab ich mich zum ersten Zug nach dem Bayerischen Bahnhof. Gerade, als ich ankam, erblickte ich vier Männer, die den Bahnhof verließen, und erkannte sofort Landsleute. Sie hatten hohe Stiefel an, wie sie in Mitteldeutschland nicht getragen werden, und wenn ich nicht irre, sogar Gummischuhe. Außerdem trugen sie schäbige Wintermäntel und warme russische Mützen, die in Deutschland ebenfalls nicht getragen werden. Unter diesen Männern waren drei von kleinem Wuchs, während der vierte ziemlich lang und auch ziemlich behäbig war. Ich sagte mir, dass dies die erwarteten Genossen waren, musterte sie aber sehr genau, bevor ich sie ansprach. Auch die Angekommenen wurden nun auf mich aufmerksam. Schließlich trat ich auf sie zu und fragte, welche Straße sie suchten. Man erwiderte mir, dass mich das nichts anginge. Darauf fragte ich, ob sie vielleicht in die Zeitzerstraße wollten (die Straße, in der der Treffpunkt sich befand). Einer von ihnen antwortete, dass das nicht der Fall sei. Trotzdem beschloss ich, nicht von ihnen zu lassen, und ging ihnen nach. Nun fingen sie an, untereinander zu streiten. Der eine sagte, ich sei ein Spitzel, während die anderen der Ansicht waren, dass ich gekommen sei, um sie vom Bahnhof abzuholen. Schließlich trat einer von ihnen — ich glaube, es war Pawel Dogadow — auf mich zu und sprach mich an. Es stellte sich auch heraus,! dass es die Gesuchten waren. Ich begab mich mit den Angekommenen zum Genossen Sagorski, in dessen Wohnung ein Zimmer für sie bereit gestellt war. Es war alles Notwendige für sie vorbereitet worden, damit sie am Tage nicht auf die Straße zu gehen brauchten. Diese vier Genossen waren Delegierte zur Parteikonferenz. Zwei von ihnen waren Arbeiter aus Petersburg (Stephan Onufeijew und Salutzki), einer aus Kasan (Pawel Dogadow) und einer aus Nikolajew (Serebrjakow). Natürlich meldete ich ihre Ankunft sofort dem Genossen Lenin. Darauf erhielt ich von Lenin einen Brief, in dem er die Vermutung aussprach, dass der Moskauer Delegierte zur Parteikonferenz wahrscheinlich aufgeflogen war; da er aber ohne einen Delegierten aus Moskau die Parteikonferenz nicht eröffnen wolle, so bitte er mich, jemand nach Moskau zu schicken, damit dort Neuwahlen vorgenommen werden. Nach Empfang des Briefes des Genossen Lenin beschloss ich, den Genossen Lasar Selikson, der sich damals in Leipzig aufhielt, unverzüglich nach Moskau zu senden. Der Genosse Lasar, der in Leipzig als Holzpolierer arbeitete, erklärte sich damit einverstanden und trat am 1. Januar 1912 die Reise nach Moskau an. Einige Tage nach seiner Abreise erhielt ich von Nathan die Mitteilung, dass er zwei Personen, die sich auf unserem Treffpunkt eingefunden hatten, über die Grenze gebracht hatte und dass diese Personen direkt nach Paris abgereist seien. Nathan benachrichtigte mich regelmäßig von den Grenzübertritten, weil ich, und nicht die Genossen, die über die Grenze gingen, ihn bezahlten; diese Maßnahme war infolge der Beraubung unserer Genossen durch Schmuggler an den Grenzen notwendig geworden. Im gleichen Briefe teilte mir Nathan mit, dass der von ihm bestochene Gendarm zu ihm gekommen wäre und ihm erzählt hätte, dass ihm, dem Gendarmen, die Beobachtung der möblierten Zimmer übertragen worden sei, in die unsere Genossen zu kommen pflegten, um die russisch-deutsche Grenze zu überschreiten. Nun teilte mir Nathan eine neue Adresse und auch eine neue Parole mit und fügte hinzu, dass, selbst wenn jemand unter der alten Parole den alten Treffpunkt aufsuchen sollte, nichts geschehen würde, denn der Gendarm werde niemand verhaften, der zu ihm käme. Und es fanden in der Tat keine Verhaftungen statt. Nun stellte sich heraus, dass die beiden Personen, die direkt nach Paris gefahren waren, der vermisste Moskauer Delegierte Philipp Goloschtschjokin und der Lockspitzel Matwej waren. Dieser Spitzel war es wahrscheinlich, der der Ochrana unseren Treffpunkt an der Grenze verraten hatte. Aus dem Briefe der Genossin Krupskaja über den „vermissten" Delegierten ersah ich, dass der Genosse Philipp von Spitzeln verfolgt worden war und deshalb nur mit Mühe bis nach Dünaburg kommen konnte, wo er eine Schwester zu wohnen hatte. Bei dieser traf er sich mit Matwej, der ebenfalls zur Parteikonferenz reisen wollte, da er dazu die Erlaubnis von dem Genossen Semjon Schwarz erhalten hatte. Genosse Schwarz war zu jener Zeit bereits verhaftet, wahrscheinlich ebenfalls infolge des Verrates von Matwej. Die Mitteilung Nathans über das Auffliegen des Treffpunktes, gleich nachdem Matwej unbehelligt die Grenze passiert hatte, beschleunigte noch die Absendung meines Telegramms über die Nichtzulassung Matwejs zu der Parteikonferenz, von der ich bereits erzählt habe.
Von dem Genossen Lasar erhielt ich die Mitteilung, dass es ihm gelungen war, eine Versammlung der in den legalen Moskauer Arbeiterorganisationen tätigen Genossen einzuberufen, und dass diese einen Delegierten zur Parteikonferenz gewählt hatten. Irgend eine illegale Organisation zu finden, war dem Genossen Lasar wegen der letzten Verhaftungen nicht gelungen. Nachdem Genosse Lasar aber dem neuen Delegierten die Parole, die Adressen usw. mitgeteilt hatte, wurde er verhaftet. Wahrscheinlich hat der neue Delegierte selbst diese Verhaftung veranlasst, denn es war ja kein anderer, als der Lockspitzel Malinowski.
Seine Ankunft teilte uns Malinowski durch ein Telegramm mit, das er bereits aus Deutschland an die Adresse richtete, die ihm angegeben worden war. In dem Telegramm bat er, die Parteikonferenz nicht vor seiner Ankunft zu eröffnen.
Nach der Ankunft der ersten vier Delegierten traf in Leipzig auch M. I. Gurwitsch (sein Deckname war ebenfalls Matwej) als Delegierter der Wilnaer und Dünaburger Organisationen ein. Schließlich, zu Beginn der Parteikonferenz, als ich bereits in Prag war, teilte man mir mit, dass noch ein Delegierter der illegalen Organisationen Tulas angekommen sei, nämlich Alja (Georg Romanow), von dem sich später herausstellte, dass er ein Spitzel war. Romanow hatte meine Adresse nicht bekommen und suchte deshalb den Genossen Bucharin auf, der sich damals in Deutschland (in Hannover) aufhielt. Genosse Bucharin hatte sich wahrscheinlich mit Paris in Verbindung gesetzt und auf diese Weise meine Leipziger Adresse erfahren. Die Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz beschloss, Romanow zuzulassen. Direkt nach Paris waren außer Philipp noch folgende Delegierte gekommen: aus Saratow, — Valentin (Genosse Woronski), aus Jekaterinoslaw — Sawwa (Sewin), ein Anhänger Plechanows, der Delegierte der Kiewer Menschewiki Viktor-Schwarzmann, dann Sergo-Ordschonikidse aus Tiflis und Suren-Spandarjan (Timofej) aus Baku. Die beiden letzten waren ebenfalls Mitglieder der Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz. Als ich in Prag eintraf, hatte die Tagung bereits angefangen, und ich kam gerade zur Debatte über den Bericht der Organisationskommission. Diese hatte nämlich den Delegierten vorgeschlagen, sich als Allrussische Parteikonferenz zu konstituieren, der das Recht zustand, die zentralen Körperschaften der Partei zu wählen. Die Organisations-Kommission hatte in der Tat alle Maßnahmen getroffen, damit auf der Konferenz in Prag Vertreter aller Gruppen und Richtungen zugegen sein sollten. Sie hatte Plechanow, Gorki, die Gruppe „Wperjod", die S. D. Polens und Litauens und andere antiliquidatorische Gruppierungen eingeladen.
Gegen die Konstituierung in diesem Sinne trat der Delegierte aus Jekaterinoslaw Sawwa (Sewin), sehr scharf auf. Auch Malinowski erklärte, dass er gegen den Vorschlag der Kommission stimmen würde, da er ein entsprechendes Mandat von seinen Moskauer Wählern erhalten hätte, was ihn indessen nicht daran hinderte, am nächsten Tage für die Konstituierung der Konferenz als Allrussische Parteikonferenz zu stimmen. Sawwa hat, soweit ich mich erinnern kann, bei der Abstimmung über diese Frage sich der Stimme enthalten.
Außer den von mir erwähnten Genossen nahmen an der Parteikonferenz noch die Genossen Lenin und Sinowjew als Redakteure des Zentralorgans teil (Genosse Sinowjew hatte auch ein Mandat von der Moskauer Parteiorganisation), dann Genossin Krupskaja, Kamenew (der erst nach der Eröffnung der Parteikonferenz eintraf) und Genosse Alexandrow (Semaschko) vom „Zentralausschuss der Auslandsgruppen zur Unterstützung der Bolschewiki".
Die Tagungen fanden die ganze Zeit in dem tschechischen sozialdemokratischen Volkshaus statt. Nebenbei bemerkt, wurde dieses Volkshaus nach der Spaltung der tschechischen Partei im Jahre 1920 von den tschechischen Sozialdemokraten mit Hilfe der Polizei besetzt, obwohl die gewaltige Mehrheit der Parteimitglieder sich der Komintern angeschlossen hatte. Die Delegierten aßen im Restaurant des Volkshauses und wohnten bei tschechischen Arbeitern, Mitgliedern der Partei. Die Konferenz dauerte sehr lange, etwa zwei Wochen. An die Tagesordnung kann ich mich nicht genau erinnern. Die Parteikonferenz behandelte die Frage der Liquidatoren und stellte sie außerhalb der Partei, behandelte die politische Lage, die Wahlen zur vierten Duma und die Arbeit der Fraktion der dritten Duma (die Konferenz stellte eine Besserung der Arbeiten der Fraktion fest), ferner organisatorische Fragen und die Versicherungskampagne. In der zu dieser Frage angenommenen Resolution wurde das Versicherungsgesetz der dritten Duma einer eingehenden Kritik unterzogen; es wurden darin bis ins einzelne die Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie bestimmt, die später die Sowjetmacht tatsächlich verwirklichte. Die Parteikonferenz beschäftigte sich außerdem mit der illegalen sozialdemokratischen Presse, den Formen der Unterstützungsaktion im Ausland, der Hungersnot, der imperialistischen Politik des Zarismus in Persien und China, dem Zentralorgan der Partei und nahm Wahlen zu den zentralen Körperschaften der Partei vor. Die Konferenz nahm sehr aufmerksam die Berichte der verschiedenen Parteiorganisationen Russlands entgegen. Auf Grund dieser Berichte wurde die Notwendigkeit festgestellt, die Arbeit zur Schaffung von illegalen Zellen zu steigern und Verbindungen zwischen diesen Zellen und den revolutionären Sozialdemokraten in allen legalen Arbeiterorganisationen herzustellen, und zwar durch Zusammenfassung der revolutionären Sozialdemokraten zu Fraktionen innerhalb eines jeden Berufes.
Aus den Berichten der Delegierten der verschiedenen Parteiorganisationen und aus dem Bericht des Vertreters der Organisationskommission zur Einberufung der Parteikonferenz bekam man ein klares Bild von jenen Anstrengungen, die die damals bestehenden wenigen bolschewistischen Organisationen machten, um ja nicht den Kontakt mit den Arbeitern in den Betrieben zu verlieren. Aber auch die Ochrana ließ auf die Arbeiter ihre Spitzel los, die vorgaben, energische Bolschewiki zu sein, und, sobald die Arbeit der Organisationen in Gang kam und die Beziehungen zu den Arbeitern in den Betrieben hergestellt waren, die besten Genossen denunzierten.
Die in Freiheit gebliebenen Genossen mussten dann alles wieder von neuem organisieren.
Ihnen zu Hilfe kamen stets Bolschewiki aus der Leningarde, Berufsrevolutionäre, die aus Gefängnissen und aus der Verbannung geflohen waren. Die Arbeit pflegte dann aufs neue in Schwung zu kommen, bis wieder Verhaftungen einsetzten — und das wiederholte sich in den verschiedensten Städten immer wieder und wieder.
Trotz alledem gelang es der Ochrana nicht, die lokalen Organisationen der Bolschewiki zu vernichten. Die Arbeiter hatten zu den Bolschewiki großes Vertrauen, wie es die folgenden Jahre (1913—1914) deutlich zeigten.
Zu den menschewistischen Liquidatoren kamen die Arbeiter nicht, und, obwohl die Polizei nur selten gegen die Menschewiki mit Repressalien vorging, wurden sie von den Arbeitern doch nicht unterstützt.
Aus den Berichten der Organisationskommission ging hervor, dass viele Organisationen zur Parteikonferenz Delegierte gewählt hatten, (Ural, Sibirien usw.) aber sowohl die Delegierten als auch die Parteiorganisationen, die sie gewählt hatten, waren aufgeflogen.
Während der Parteikonferenz arbeiteten einige gewählte Kommissionen.
Die Parteikonferenz tagte zu einer Zeit, wo es bereits klare Anzeichen für einen neuen Aufstieg der Arbeiterbewegung gab. Ich erinnere mich noch gut, welch lebhaften Widerhall der Bericht einer Prager deutschen Zeitung fand, der einen Zusammenstoß zwischen Arbeitern und Polizei in Riga schilderte. Die Zeitungen teilten mit, dass die Belegschaft einer Fabrik, in der Frauen beschäftigt waren, in den Streik getreten war, und dass die Werkleitung daraufhin die Tore geschlossen hatte, so dass die Streikenden nicht aus der Fabrik hinaus konnten. Als die Arbeiter der Nachbarbetriebe davon erfuhren, zertrümmerten sie die Tore dieser Fabrik und befreiten die streikenden Frauen. Dabei kam es zu einem Zusammenstoß mit der Polizei. Am Morgen — vor der Eröffnung der Sitzung — zeigte ich die Zeitung dem Genossen Lenin. Gleich nach Eröffnung der Sitzung übersetzte er den Bericht ins Russische und fügte hinzu, dass die Zeiten der schwärzesten Reaktion allem Anschein nach bereits vorbei seien.
Ich möchte hier noch von zwei unbedeutenden Tatsachen erzählen, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind. Als die Frage des Zentralorgans behandelt wurde, trat ich scharf gegen die Redaktion auf, weil diese mitunter vergaß, dass der „Sozialdemokrat" nicht nur für die Genossen im Ausland geschrieben wurde, die über alle inneren Parteistreitigkeiten ohnehin gut unterrichtet waren, sondern hauptsächlich für die Genossen in Russland. Zum Beweis zitierte ich einige Stellen aus dem „Sozialdemokrat", die schroffe persönliche Angriffe gegen den Vertreter der SD Polens und Litauens in der Redaktion des „Sozialdemokrat" enthielten. Ich fragte, wer denn derartige Methoden im Zentralorgan einführe. Der Artikel, von dem ich sprach, war nicht gezeichnet. Den Vorsitz führte an dem Tage Philipp. Als ich mit dem Zitieren des Aufsatzes fertig war, rief mich der Vorsitzende zur Ordnung wegen des unkameradschaftlichen Tones der Angriffe, die ich mir erlaubt hätte. Er hatte nämlich nicht gemerkt, dass es nicht meine Worte waren und dass ich nur das von mir beanstandete Zitat vorgelesen hatte. Genosse Lenin erklärte daraufhin, dass der zitierte Aufsatz von ihm stamme. Der Vorsitzende wurde verlegen und die Parteikonferenz brach in lautes Lachen aus.
Ich schlug vor, den „Sozialdemokrat" in eine wissenschaftliche Monatsschrift, in der Art wie die deutsche „Neue Zeit" zu verwandeln, da für den einfacheren Leser bereits eine „populäre Arbeiterzeitung" im Auslande und die „Swesda" in Russland vorhanden waren. Obwohl mein Antrag abgelehnt wurde, äußerte die Versammlung doch den Wunsch, dass in der Folge im „Sozialdemokrat" mehr Aufsätze propagandistischen Charakters erscheinen sollten.
Die Wahlen ins ZK waren geheim, aber jeder Teilnehmer der Parteikonferenz wusste, welche Kandidaturen aufgestellt waren. Als unter den Kandidaten auch Malinowskis Name genannt wurde, begann ich, gegen ihn zu agitieren. Ich glaube, dass ich sogar auf der Parteikonferenz gegen ihn aufgetreten bin. Lenin dagegen agitierte für Malinowski. Als vor der Abgabe der Wahlzettel die Sitzung unterbrochen wurde, fragte mich Lenin, warum ich eigentlich gegen Malinowski agitiere. Ich erwiderte darauf, dass Malinowski nicht in der Parteiarbeit stehe, dass ihn keine illegale Moskauer Organisation gewählt habe, dass man ihn noch zu wenig kenne und dass er eigentlich durch Zufall zur Parteikonferenz gekommen sei. Dabei erinnerte ich den Genossen Lenin daran, wie er 1903 einen Fehler beging, als er sich für die Kooptierung Konjagins ins ZK einsetzte. Dieser Konjagin, der vorher die Rolle eines steinharten Bolschewikis spielte, wurde nach seiner Kooptierung im Jahre 1904 zu einem heftigen Anhänger der Versöhnungspolitik. Lenin wollte mir nicht recht geben und glaubte, in Malinowski einen tüchtigen und sehr fähigen Parteiarbeiter gefunden zu haben. Damals dachte natürlich noch kein Mensch daran, dass Malinowski ein Spitzel sein könnte. Er erwies sich in der Tat als ein tüchtiger und fähiger Parteiarbeiter. Nach der Parteikonferenz reisten Lenin, Sergo, Timofej, Philipp, Viktor und Malinowski (sie alle und außerdem der Genosse Sinowjew waren ins ZK gewählt worden) nach Leipzig. Nachdem alle Genossen aus Prag weiter befördert worden waren, kehrte auch ich nach Leipzig zurück.
Nach meiner Rückkehr erhielten wir die Nachricht, dass die Mitglieder der dritten Duma, die Genossen Poletajew und Schurkanow, in Berlin eingetroffen waren. Die Dumafraktion war ebenfalls nach Prag eingeladen worden, aber ihre Delegierten hatten sich verspätet. Ihre Adresse teilten sie uns nicht mit, man konnte sie jedoch brieflich unter „postlagernd" erreichen. Als Lenin von der Ankunft der Dumaabgeordneten erfuhr, bat er, die beiden nach Leipzig zu rufen. Ich hielt es nicht für möglich, unsere Leipziger Adresse in einem postlagernden Briefe mitzuteilen, und schickte deshalb den Genossen Sagorski nach Berlin, der die beiden Dumamitglieder dort fand und mit ihnen am Tage darauf nach Leipzig fuhr. Ihre Ankunft rief eine große Unruhe hervor. Lenin wollte nicht, dass Schurkanow, der damals zu den „Parteitreuen Menschewiki" gehörte, erfahre, dass Malinowski ins ZK gewählt worden war; deshalb mussten bald Sitzungen des ZK mit Poletajew, aber ohne Schurkanow, bald mit Poletajew und Schurkanow, dafür aber ohne Malinowski abgehalten werden. Schurkanow durfte natürlich nicht wissen, dass man auch ohne ihn tagte. Die Tagungen fanden im Hause der „Leipziger Volkszeitung" statt, und zwar im Arbeitszimmer des damaligen Leiters, des Genossen Seifert. Gleich am ersten Abend, als ich mich mit den Dumaabgeordneten Poletajew und Schurkanow in einem Cafe traf, merkte ich, dass wir bespitzelt wurden. Das versetzte mich in große Unruhe. In Leipzig befanden sich damals das ganze russische ZK und die meisten Delegierten der Parteikonferenz, die auf ihre Beförderung nach Russland warteten. Vor meiner Rückkehr aus Prag war ich nicht bespitzelt worden, also musste die Bespitzelung infolge der Parteikonferenz hervorgerufen worden sein. Aber von dieser wussten außer den Teilnehmern nur drei Genossen, die mir bei verschiedenen Arbeiten geholfen hatten. Am nächsten Tage begab ich mich zu Malinowski und Timofej, die beide in einem Vorort Leipzigs in einem kleinen Gasthaus wohnten, das einem Sozialdemokraten gehörte. Kaum hatte ich die Straßenbahn verlassen, als ich bemerkte, dass das Gasthaus bespitzelt wurde. Als wir zu dritt herauskamen (wir mussten zu einer Sitzung des ZK, an der auch die Dumadelegierten teilnahmen), folgte uns der Spitzel. Wir mussten viel hin- und herfahren, bis es uns gelang, den Burschen loszuwerden. Unterwegs sprach Malinowski dauernd über die Freude, die ihm Leipzig mache, da es ihn an Russland erinnere, wo er genau so mit den ihn verfolgenden Spitzeln verfahre. Trotz der Bespitzelung war ich überzeugt, dass die Ochrana den Tagungsort der Parteikonferenz und die Namen der Teilnehmer nicht kannte. Dass unter den Teilnehmern zwei Lockspitzel waren, fiel natürlich keinem Menschen ein.
Die Sitzungen der Vertreter des ZK mit den Dumaabgeordneten verliefen glatt, und die Abgeordneten begaben sich mit mir und Timofej nach Berlin, um auf Beschluss des ZK Kautsky aufzusuchen, dem als „Treuhänder" die bolschewistischen Geldmittel übergeben worden waren. Wir sollten ihm mitteilen, dass eine Allrussische Parteikonferenz stattgefunden habe, die ein ZK gewählt hatte, an das nun das ganze Eigentum sowie die Geldmittel überzugehen hätten, die seinerzeit Kautsky als „Treuhänder" von den Bolschewiki auf Grund des Beschlusses des Plenums von 1910 abgeliefert worden waren. Auch Lenin begab sich nach Berlin, um das Ergebnis unserer Verhandlungen mit Kautsky zu erfahren. Wir sprachen mit dem „Treuhänder" sehr lange, aber die Unterredung verlief erfolglos, da er sich zunächst über die Stellungnahme aller anderen Strömungen der russischen Sozialdemokratie zur Januarkonferenz klar werden wollte. Nach der Klärung dieser Frage, sagte er, wolle er uns sofort eine Antwort auf die Forderungen des ZK zukommen lassen. Abends trafen wir uns mit dem Genossen Lenin im Restaurant und berichteten ihm über die Verhandlungen mit Kautsky, worauf er sich nach dem Bahnhof begab, um nach Paris abzureisen. Die Dumamitglieder blieben in Berlin, ich und Timofej aber kehrten nach Leipzig zurück. Alle Delegierten der Parteikonferenz erreichten wohlbehalten ihre Heimatsorte in Russland, wovon sie mich in Kenntnis setzten. Der Pünktlichste unter ihnen war der Lockspitzel Alja Romanow, der schon an der Grenze die Mitteilung absandte, dass er wohlbehalten angekommen sei.
Die Parteikonferenz hatte eine gewaltige Bedeutung. Sie stellte die zentralen Körperschaften der Partei wieder her, die bis zur Parteikonferenz im April 1917 bestanden. Das ZK und die Redaktion des Zentralorgans, die im Januar gewählt worden waren, traten mit allen Organisationen in Russland in Kontakt, schufen in Petersburg eine Tageszeitung, die „Prawda", leiteten und überwachten die Tätigkeit der bolschewistischen Dumafraktion. Das ZK und die Redaktion des Zentralorgans der Partei, die auf der Januarkonferenz des Jahres 1912 gewählt worden waren, haben in der Tat organisatorisch und theoretisch in den Jahren 1912 bis 1914 die gesamte russische Arbeiterbewegung geleitet.
Im Sommer 1912 siedelte Lenin und mit ihm die Redaktion des Zentralorgans von Paris nach Krakati über, um leichter und schneller auf alle Ereignisse reagieren und die Bewegung in Russland leiten zu können. Während ihrer Reise nach Krakau verbrachten Genosse Lenin, Genossin Krupskaja und ihre Mutter einige Tage in Leipzig. Damals unterhielten wir uns viel über die deutsche Sozialdemokratie. Ich verteidigte sie in jeder Weise. Lenin aber nahm ihr gegenüber schon damals einen ziemlich skeptischen Standpunkt ein. Nach 1917 machte Lenin mich wiederholt aufmerksam auf die Taten „meiner Freunde", der deutschen Sozialdemokraten. |
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