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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Woljsk (1913-1914)

Die russische Grenze überschritt ich mit dem Pass des Studenten B. London. Als ich aber in Warschau ankam, erhielt ich von dem Gen. Sagorski den Pass, unter dem ich im Jahre 1907 in Moskau als P. M. Sanadiradse (als Adliger) aus dem Gouvernement Kutais gelebt hatte. Der Pass war nicht besonders gut, aber ich hatte eben keinen anderen. Ob ich irgendeinen Auftrag an die Warschauer Organisation der Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens hatte (sie stand damals auf seiten der Raslomowzy), weiß ich nicht mehr. Allerdings habe ich dort einige Genossen aufgesucht: die Genossen Bronski und Chamski. Von Warschau reiste ich nach Kiew, wo ich mich mit den Genossen Petrowski und Rosmirowitsch treffen sollte. Während ich vor einer Musikalienhandlung stand und darauf wartete, dass der Laden geöffnet wurde, von dessen Verkäufer ich erfahren sollte, wie ich Rosmirowitsch finden konnte, erblickte ich plötzlich die Genossin 0. D. Kamenewa. Von ihr erfuhr ich, dass der Verkäufer, auf den ich wartete, verhaftet worden war. Dann erklärte sie mir, wie ich die von mir gesuchten Genossen finden könnte. Im Laufe des Tages fand ich auch die Genossin Rosmirowitsch, der ich mitteilte, dass Genosse Petrowski sich nach Poronin begeben müsse, da Ende September 1913 eine Sitzung des Zentralkomitees zusammen mit den sechs bolschewistischen Dumaabgeordneten und den verantwortlichen Funktionären der Gebietsorganisationen stattfinden sollte. Außerdem teilte ich mit, wie viel Genossen aus Kiew und den benachbarten Städten zusammen mit Petrowski zu dieser Beratung kommen sollten: die Betreffenden hatte Genosse Petrowski auszuwählen. Ferner gab ich an, aus welchen Städten Genossen zur Parteischule kommandiert werden sollten, die man in Galizien in der Nähe Poronins zu eröffnen beabsichtigte. Der Genosse Petrowski selbst war zu jener Zeit nicht in Kiew. Nachts reiste ich nach Poltawa zum Genossen Ljubitsch (Sammer), der in der Semstwo tätig war. Er war aber gerade nach Charkow gefahren. Ich reiste deshalb ebenfalls von Poltawa nach Charkow zum Genossen Muranow, der damals Mitglied der vierten Duma (als Arbeiter-Abgeordneter des Gouvernements Charkow) war. Ich war genötigt, über eine Woche lang in Charkow zu warten, bis ich mit dem stark bespitzelten Muranow zusammenkommen konnte. Um ihn zu sehen, musste ich auf irgend einem nicht weit von der Eisenbahn gelegenen Berg in der Umgegend Charkows übernachten. Nachts kam Genosse Muranow an. Er war aus der Stadt gewissermaßen mit einer Extralokomotive gereist, denn er hatte als Eisenbahner sehr gute Beziehungen zu den Eisenbahnern. Ich überbrachte ihm den Auftrag, der mit dem Auftrag für den Genossen Petrowski ungefähr gleichlautend war. Am nächsten Morgen reiste ich nach Moskau ab und zwar über Pensa, wo ich gern einige Tage bei meinen Freunden, den Itins, bleiben wollte. Unterwegs erkrankte ich an der Ruhr, und zwar so stark, dass ich mich nur mit Mühe zu den Itins hinzuschleppen vermochte. Diese Krankheit, die mich beinahe ins Jenseits befördert hätte, fesselte mich anderthalb Monate lang an das Krankenbett. Als ich dann nach Moskau kam, erhielt ich durch den Genossen Krassin, der damals technischer Direktor bei Siemens und Schuckert war, eine Stellung als Elektromonteur dieser Firma. Man kommandierte mich zur Montage auf die in Bau befindliche Zementfabrik „Asserin" ab, die sieben Werst von der Stadt Woljsk entfernt war. Als ich zur Arbeit ging, hatte ich ein bisschen Angst, denn ich war nicht davon überzeugt, dass ich mich bei der Anlage von elektrischem Licht für eine Fabrik bewähren würde. Ich hatte zwar Erfahrung in der Montage für Wohnungen, aber das war etwas ganz anderes, als eine Neuanlage in einem Betrieb. Ich hatte aber beschlossen, die Arbeit um jeden Preis zu erlernen: also musste ich es probieren. Als ich beim Genossen Krassin war, richtete er an mich die Frage, ob ich nur verdienen oder auch etwas lernen wollte. Er erläuterte dann seine Frage dahin, dass ich, falls mir am ersten gelegen sei, in Moskau bleiben könnte, falls ich es aber auf das zweite abgesehen hätte, unbedingt in eine entlegene Gegend auf Montage reisen müsste, wo mich nichts von der Arbeit ablenken würde. So sehr ich auch in Moskau zu bleiben wünschte, wählte ich doch die Provinz, um etwas zu lernen. Genosse Krassin hatte Recht gehabt. Die Fabrik, auf die ich gesandt wurde, sollte nach den neuesten Errungenschaften der ausländischen Technik eingerichtet werden, und die Arbeit kochte dort geradezu. Es arbeiteten schon sehr viele Monteure dort — Russen und Deutsche. Für jeden Zweig der komplizierten elektrotechnischen Arbeit gab es besondere Monteure mit eigenen Meistern an der Spitze, die die Hilfskräfte verteilten, das Material verwalteten, Material ausgaben und die Arbeit anwiesen. An der Spitze der ganzen von Siemens und Schuckert übernommenen Arbeit stand der deutsche Techniker Gasser. Die Ingenieure wohnten in Woljsk und ließen sich selten im Betrieb sehen. Ich hatte nie gedacht, dass es zur Erzeugung des Zements so komplizierter Maschinen und einer solchen Mechanisierung der Produktion bedurfte. Der gesamte komplizierte Produktionsprozess war mechanisiert mit Ausnahme des Einschüttens der Kreide in die nassen Mühlen, der Aufstellung der leeren Fässer zur Füllung mit fertigem Zement und der Schließung der vollen Fässer.
Ich kam im ganzen Betrieb herum und interessierte mich auch für die Nebenerzeugnisse, denn ich hatte in fast allen Räumen elektrisches Licht anzulegen. Ich arbeitete Tag und Nacht, wobei ich im Gegensatz zu den anderen Monteuren mich nicht auf Anweisungen an die Hilfsarbeiter beschränkte, sondern selbst mit Hand anlegte, selbst auf die gefährlichsten Stellen kletterte und die schwersten Arbeiten verrichtete. Mit mir zusammen arbeiteten etwa fünfzig ungelernte Arbeiter und Schlosser. Ich hatte jetzt mit einem Material zu arbeiten, das ich früher nie gesehen hatte. Aber ich arbeitete nicht aus Angst vor dem Unternehmer, sondern aus Liebe zur Arbeit. Als der Techniker Gasser bemerkte, dass ich in freien Stunden anderen bei der Arbeit zusah, ließ er mich unter seiner Aufsicht kleinere Motore, Dynamomaschinen usw. aufstellen. Auch hier machte ich große Fortschritte. Ich und N. Mandelstamm, der dort als Obermonteur für die elektrischen Lichtanlagen tätig war, verließen die Arbeitsstätte als letzte. In dieser Fabrik arbeitete ich vom Oktober 1913 bis Anfang April 1914. Man verdiente dort nicht schlecht: die Firma zahlte 18 Kopeken pro Stunde und für Überstunden sowie Arbeiten an Feiertagen 50% mehr — also 27 Kopeken pro Stunde und außerdem noch 1,50 Rubel Tagegeld. Die Arbeit im Betrieb hatte mir viel gegeben: erstens hatte ich arbeiten gelernt und zweitens gesehen, wie die russischen Arbeiter und Bauern leben und arbeiten, von denen ich lange Zeit infolge meines Aufenthalts im Auslande getrennt war. Und ich muss sagen: den Arbeitern in der Fabrik „Asserin" ging es ebenso wie den Arbeitern der benachbarten Zementbetriebe von Seiffert und Gluchooserski ziemlich schlecht. Es gab damals bei uns im Betrieb ständige und nur vorübergehend angestellte Arbeiter. Die vorübergehend angestellten Arbeiter wurden beim Bau des Betriebs beschäftigt, die „Ständigen" waren für die Produktion selbst bestimmt. Als ich ankam, war der Betrieb bereits in Gang, obwohl er noch nicht voll arbeitete. Die nur vorübergehend angestellten Arbeiter arbeiteten unter der Leitung von Monteuren der verschiedensten Firmen, wurden aber von der Administration der Fabrik „Asserin" eingestellt und entlohnt, und nicht von den Firmen, die die Ausrüstung des Betriebes übernommen hatten.
Die zeitweiligen Arbeiter bestanden in der Hauptsache aus der Proletarierjugend jener Gegend und den Bauern des Pensaer Gouvernements. Wir hatten sehr viele von diesen Bauern im Betrieb. Sie erhielten für den zehnstündigen Arbeitstag fünfzig Kopeken. Sehr oft ließen N. Mandelstamm und ich einige dieser vorübergehend angestellten Arbeiter auf ihren Wunsch auch zur Nachtschicht im Betrieb (obwohl wir recht gut wussten, dass sie nachts nicht arbeiteten), um ihren Verdienst zu erhöhen. Für Nachtarbeit wurde der doppelte Lohn gezahlt. Diese Arbeiter lebten in entsetzlichen, unhygienischen Verhältnissen. Man konnte an ihren Hütten kaum vorbeigehen — so einen stinkenden Geruch verbreiteten sie. Für einen Teil der gelernten Arbeiter, die bei der Herstellung des Zements beschäftigt waren, hatte man Holzkasernen errichtet, in denen auch die Monteure wohnten. Irgendwelche Organisationen oder kulturelle Institutionen gab es im Betrieb nicht, ebenso wenig in Woljsk, wenn man nicht gerade die Kinos der damaligen Zeit für Kulturstätten ansehen will. Von diesen Kinos gab es drei oder vier in Woljsk. An Sonn- und Feiertagen hörte man überall in der Nähe der Fabrik Gegröle und Geschimpfe von Betrunkenen. Die ortsansässige Jugend und ein Teil der hinzugereisten Arbeiter vertranken an den Feiertagen nicht nur ihren ganzen Verdienst, sondern auch ihre Stiefel, Filzstiefel und Jacken. Danach mussten sie einige Monate arbeiten, um sich neue Kleider anschaffen zu können. Eines Tages beschloss die Administration, den Tagelohn um 10 Kopeken zu kürzen und die Überstunden für ungelernte Arbeiter einzuschränken. Unter der Führung von Arbeitern, die bei den politisch organisierten Monteuren arbeiteten (es waren unser im ganzen vier: drei Bolschewiki — N. N. Mandelstamm, Petrow, ich und ein Menschewik, dessen Name ich vergessen habe), traten die zeitweilig angestellten Arbeiter in den Streik. Wir beschlossen, mit Streikbrechern nicht zu arbeiten, und erklärten unseren Vorgesetzten außerdem, dass wir nicht mit anderen Hilfskräften arbeiten können, da die Streikenden mit der Arbeit bereits vertraut seien, während man Streikbrecher erst noch anlernen müsste. Es erschien natürlich auch die Polizei, aber die Arbeiter gewannen den Streik.
Während meines Aufenthalts in Woljsk setzte ich mich sowohl mit dem russischen als auch mit dem ausländischen Büro des ZK in Verbindung. Mit der Genossin N. Krupskaja korrespondierte ich regelmäßig über Pensa. Aus Leningrad bekam ich die „Prawda", unsere Zeitschrift „Prosweschtschenje" und die gesamte bolschewistische Literatur über Fragen der Sozialversicherung. Ich erhielt alles durch die Expedition der Zeitung „Woljskaja Schisnj", der ich später noch einige Zeilen widmen werde. In ganz Russland wurde damals eine Versicherungskampagne geführt. Die dritte Duma hatte ein Gesetz angenommen, wonach die Arbeiter in Fällen von Krankheit usw. versichert werden sollten. Auch in dieser Frage bestanden zwischen uns und den Menschewiki große Meinungsverschiedenheiten. Sowohl wir als auch die Menschewiki führten eine große, breit angelegte Kampagne in den Tageszeitungen durch und gaben viele Broschüren heraus. Ja es bestanden sogar periodische Zeitschriften beider Richtungen über Versicherungsfragen. Die drei im Betrieb tätigen Bolschewiki beschlossen in einer Besprechung, die in meinem Zimmer stattgefunden hatte, eine Versammlung der gelernten Arbeiter der Fabrik „Asserin" einzuberufen, um zu den Versicherungsfragen Stellung zu nehmen. Ich begann, die klassenbewussteren Arbeiter unter den Teilnehmern der Versammlung mit unserer Versicherungsliteratur und der „Prawda" zu versorgen. Diese Arbeiter wandten sich in der Folge häufig an mich und den Genossen Mandelstamm, wenn sie irgend etwas erklärt haben wollten. Der Kontakt zwischen uns und diesen Arbeitern wurde sehr eng, leider konnten wir aber unter ihnen keine Parteigruppe schaffen, da wir infolge Beendigung unserer Arbeit Woljsk verlassen mussten. Wenn mich aber das Gedächtnis nicht trügt, so haben wir doch den einen oder anderen dieser Arbeiter mit dem Genossen Wardin in Verbindung gebracht, der zusammen mit dem Genossen Antoschkin zu jener Zeit in Woljsk wohnte und unter Polizeiaufsicht stand. In allen drei Betrieben der Stadt Woljsk arbeiteten etwa zwanzig Monteure der Moskauer Filiale von Siemens und Schuckert. Außer uns vier organisierten Sozialdemokraten gab es unter ihnen zwei Arbeiter, die uns nahe standen. An den Sonn- und Feiertagen kamen wir sechs dann in der Wohnung irgendeines in Woljsk wohnenden Monteurs zusammen. Die übrigen Kollegen waren Spießer. Ihre freie Zeit schlugen sie mit allerlei Fadheiten und Gemeinheiten tot und verbrachten sie meistens in Gastwirtschaften. Sie verdienten nicht schlecht, in Woljsk hatte man aber keine andere Möglichkeit, Geld auszugeben, als in den Gastwirtschaften. Es kam auch vor, dass die Monteure sich versammelten, für politische Gespräche war jedoch kein Boden vorhanden, obwohl zu jener Zeit die Arbeiterbewegung in Russland von Tag zu Tag anwuchs. Dafür aber pflegten die Monteure bei solchen Gelegenheiten über alle Vorkommnisse in den Betrieben und über alle Zusammenstöße mit der Administration zu sprechen. Über diese Dinge und über den ganz unzureichenden Arbeiterschutz in den Zementfabriken (wir hatten einige Unglücksfälle mit tödlichem Ausgang zu verzeichnen, die nur auf das Fehlen von Schutzvorrichtungen vor den Tag und Nacht laufenden Maschinen zurückzuführen waren) begannen die Moskauer Monteure kleine Notizen für die in Woljsk erscheinende kleine Tageszeitung „Woljskaja Schisnj" zu schreiben. Auf diese Weise lernten wir, die politisch organisierten Monteure, die Redaktion der für einen so entlegenen Ort recht radikalen Zeitung kennen. Eines Tages entfaltete ich die eben erhaltene Nummer der „Woljskaja Schisnj" (die Redaktion begann aus eigener Initiative, mir die Zeitung durch das Büro unserer Fabrik zuzusenden) und fand in dem Blatt einen großen Lobartikel auf die Fabrik „Asserin". Neben einer richtigen Beschreibung der neuesten Maschinen stieß ich auf offenbar erlogene Feststellungen, wie die, dass es in dem Betrieb keinen Staub gäbe, dass die Fabrik eine gut funktionierende Schule, ein Krankenhaus und ein Bad besäße, dass für die Arbeiter ausgezeichnete Wohnungen gebaut worden wären und dergleichen mehr. Uns Monteuren war es klar, dass der Artikel von der Direktion unseres Betriebes stammte, denn kein anständiger Mitarbeiter der Zeitung hätte je schreiben können, dass es im Betrieb keinen Staub gebe. Man brauchte nur an einer der nassen Mühlen vorbeizugehen und wurde vom Kopf bis zu den Füßen mit einer grauen Flüssigkeit bespritzt, während man in der Nähe der Kohlenmühle sich sofort in einen Schornsteinfeger verwandelte. Die ganze Umgebung aber war von dem dicken grauen Staub der Zementmühle bedeckt, obwohl ein oder mehrere Staubsauger ständig in Tätigkeit waren. Ohne diese wäre es wohl überhaupt unmöglich gewesen zu atmen. Außerordentlich sauber und sogar hübsch war es nur in den Räumen, wo die Kraftmaschinen standen. Was nun aber die Schule, das Krankenhaus, das Bad usw. anbetraf, so war das alles nur geplant, während es vorderhand nur „ausgezeichnete" Baracken gab. Wir waren über den Artikel empört, weil es sich dabei um eine für jene Zeit recht anständige Zeitung handelte, und schrieben eine Berichtigung. Die Redaktion aber wollte diese nicht veröffentlichen, ohne vorher mit uns Rücksprache genommen zu haben. Genosse Petrow und der menschewistische Genosse begaben sich zu dieser Besprechung. Nach ihrer Rückkehr erfuhr ich, dass der Redaktion auch die Genossen Mgeladse — Wardin und Antoschkin angehörten. Wardin kannte ich gar nicht, an den Genossen Antoschkin aber erinnerte ich mich aus der Literatur der Jahre 1905—1906, kannte ihn aber persönlich auch nicht. Als Genosse Wardin von mir erfuhr, sprach er den Wunsch aus, mich kennen zu lernen, was mir durchaus nicht angenehm war, da ich wusste, dass er Georgier war. Dass er Mitglied unserer Partei war, ahnte ich damals nicht einmal; aber selbst die Parteizugehörigkeit hätte wenig an der Sache geändert, denn niemand von meinen näheren Bekannten außer dem Genossen N. N. Mandelstamm („Michail Mironowitsch"), mit dem ich seit 1906 bis 1913 wiederholt zusammen für die Partei gearbeitet hatte und den ich persönlich sehr gut kannte, wusste, dass Sanadiradse nicht mein wirklicher Name war. Seit der Zeit fing ich an, seltener in die Stadt zu gehen, um ja nicht mit dem Genossen Wardin zusammenzutreffen. Aber das half nichts. Eines Tages kam Genosse Wardin zu uns in den Betrieb und suchte mich selbst auf. Sofort begann er mit mir in Gegenwart der anderen Genossen georgisch zu sprechen. Ich sagte ihm, dass es besser wäre, wenn wir russisch sprechen, da ja die russischen Genossen sonst nichts verstünden. An diesem Abend fühlte ich mich ziemlich schlecht, aber im großen und ganzen ging es. Genosse Wardin unterhielt sich mit mir über die georgische Parteiliteratur jener Zeit. Jordania hatte damals gerade einige Artikel gegen die Liquidatoren veröffentlicht. Da ich über Parteiliteratur und Parteiangelegenheiten ziemlich gut Bescheid wusste, fiel es mir sehr leicht, diese Unterhaltung zu führen. Kurzum, ich fing an, den Genossen Wardin zu besuchen, und lernte den Genossen Antoschkin kennen. Wir kamen öfter zusammen, Genosse Wardin aber blieb fest davon überzeugt, dass ich ein waschechter Georgier sei (Anm.: In der Verbannung im Jahre 1916 traf Genosse Wardin einen georgischen Genossen, der nicht weit entfernt von mir lebte. Dieser Genosse, Dmitri Geliadse, zeigte ihm eine Gruppenphotographie von Verbannten, auf der Genosse Wardin mich erkannte. Da aber jeder der Genossen mich anders nannte, so wandten sie sich schließlich an mich mit der Frage, wer ich denn in Wirklichkeit sei. Und erst da überzeugte sich Genosse Wardin davon, dass ich kein Georgier bin.). Was die Berichtigung des erwähnten Artikels betrifft, so zeigten wir einfach den Redakteuren der „Woljskaja Schisnj" den Betrieb, und sie überzeugten sich selbst von der Richtigkeit unserer Einwände.
Schließlich war die Montage beendet, und ich kehrte Ostern 1914 nach Moskau zurück. Das Büro von Siemens-Schuckert wollte mich fast noch am selben Tage zu Reparaturen und zur Montage in das bei Moskau gelegene Textilgebiet senden, da vor den Osterfeiertagen die Textilfabriken für kurze Zeit geschlossen worden waren. In dieser Zeit wurden die Reparaturen an den alten und die Montage der neuen elektrotechnischen Maschinen vorgenommen. Aber ich weigerte mich entschieden, dahin zu reisen, weil ich das Leben in abgelegenen Provinznestern satt hatte. Mich lockte Petersburg, wo bereits fieberhaft gekämpft wurde. Ich hatte beschlossen, dorthin zu reisen. Es tat mir aber leid, eine Stelle zu verlieren, bei der ich manches gelernt hatte und noch viel lernen konnte. Ich stellte daher folgende Bedingung: entweder sollte man mir Arbeit in einer großen Stadt geben oder mich entlassen. Die Direktion entschied sich für das erste und schlug mir vor, zusammen mit dem deutschen Techniker Gasser nach Samara zu reisen, wo man eine städtische elektrische Straßenbahn anlegte und wo ich in der Stadt selbst meine Arbeitsstätte hatte. Dieses Angebot nahm ich an. In Moskau verbrachte ich nur wenige Tage. Um die Moskauer Genossen zu treffen, besuchte ich die Vorträge und Konzerte, die zur finanziellen Unterstützung des Moskauer Parteikomitees im Gebäude des Moskauer Künstlervereins in der Bolschaja Dmitrowka 15a (jetzt ist es das Gebäude des Moskauer Parteikomitees) veranstaltet wurden. Dort traf ich alte Bekannte und Freunde: Anna Karpowa, Sinaida Jaschnowa, die Genossin Konstantinowitsch, die ich von Paris her kannte und natürlich auch den Spitzel Romanow (Georg), der mich sofort darüber auszufragen begann, ob ich nach Moskau gekommen sei, um mich parteipolitisch zu betätigen usw. Den Genossen Gljebow (Manzew), den ich hatte sehen wollen, konnte ich nicht treffen. Seine Frau hatte ich an einem solchen Abend gesehen, er aber war nicht dagewesen. In den wenigen Tagen, die ich in Moskau verbrachte, traf ich noch einige andere Genossen: Karpow, Bogdanow und Malzmann (Anm.: Dieser „Revolutionär" lachte mich 1918 aus, weil ich Mitglied der Partei blieb und nach wie vor für sie arbeitete. „Nur solche Dummköpfe, wie Sie, arbeiten jetzt noch. Sehen Sie denn nicht, dass die Lage hoffnungslos ist?" sagte er damals zu mir.), der mit mir zusammen aus dem Kiewer Gefängnis geflohen war; aber es gelang mir nicht, irgendwelche Verbindungen zu der bolschewistischen Ortsgruppe in Samara aufzutreiben. Ich musste mich mit einigen Privatadressen begnügen.
Nachdem ich das Werkzeug für die bevorstehende Arbeit gewechselt hatte, reiste ich nach Samara ab.

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