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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Wie ich die deutsche Arbeiterbewegung kennenlernte (1903-1912)

Bei meiner ersten Bekanntschaft mit den deutschen Arbeitern hatte ich den Eindruck, als lebten sie wie der liebe Gott in Frankreich. Die Arbeiter, die ich in den Versammlungen sah, waren — im Vergleich zu den russischen — ausgezeichnet gekleidet, tranken während der Versammlungen viel Bier und aßen mitgebrachte Stullen. Nicht übel waren auch die Wohnungen der Funktionäre, zu denen ich ins Haus kam. Fügt man noch all die Freiheiten hinzu, die sie damals hatten, so erhält man eine Vorstellung von dem „Ideal", das ich zu jener Zeit für das russische Proletariat ersehnte. Sehr bald aber blieb von meinem „Ideal" nichts übrig. Ich kam in die Berliner Arbeiterviertel und Arbeiterwohnungen, die sehr wenig denen glichen, die ich bis dahin zu sehen bekommen hatte. Die Wohnungen der Arbeiter bestanden aus einem Vorzimmer, das als Küche benutzt wurde, und einem kleinen Raum, in dem eine vier- bis fünfköpfige Familie wohnte. In diesen Wohnungen war auch die Einrichtung nicht gerade komfortabel. Trotz des industriellen Aufschwungs konnte man im Volkshaus, in dem alle Gewerkschaften Berlins ihre Büros hatten, stets viele Arbeitslose aus Berlin oder der Provinz treffen. Die Asyle waren von Obdachlosen überfüllt. Nicht viel besser war es um die Freiheiten in Preußen bestellt. In den von Sozialdemokraten einberufenen Volksversammlungen saßen neben dem Vorsitzenden Polizisten, die nicht selten aus ganz nichtigen Anlässen die Versammlungen schlossen, z. B. wenn der Vorsitzende sich weigerte, Frauen und Jugendliche aus dem Saal zu entfernen. Diese hatten nämlich nach dem Gesetz kein Recht, an öffentlichen politischen Volksversammlungen teilzunehmen. Man musste sich tatsächlich darüber wundern, wie blitzschnell die Polizei an Ort und Stelle war, wenn es galt, einen Saal, in dem eine von der Polizei geschlossene Versammlung stattfand, zu räumen. Obwohl von meinem naiven „Ideal" immer mehr verschwand, je mehr ich die deutsche Arbeiterbewegung kennen lernte, schien sie mir doch von kolossalen, ja geradezu gigantischen Dimensionen zu sein.
Die Sozialdemokratie war vor dem Kriege die einzige politische Partei des Proletariats in Deutschland. Sie hatte Ortsgruppen nicht nur in Städten mit Arbeiterbevölkerung. Ich habe auf meinen Reisen die ganze Gegend an der preußischrussischen Grenze mit ihrer Bauernbevölkerung kennen gelernt und gefunden, dass in allen diesen Ortschaften kleine sozialdemokratische Ortsgruppen bestanden, an die ich mich wenden konnte, wenn ich Unterstützung bei meiner Arbeit brauchte.
Die Sozialdemokratie Deutschlands hatte bereits im Jahre 1903 Hunderttausende von Mitgliedern und Millionen von Abonnenten der Parteipresse, denn jede Stadt mit einiger Industrie und Arbeiterbevölkerung hatte ihre eigene Tageszeitung. Die Partei verfügte über eigene große Druckereien und Verlagsanstalten, die wiederum ein Netz von Buchhandlungen in ganz Deutschland besaßen. Die deutsche Sozialdemokratie übte einen riesigen Einfluss auf die Arbeiter und die ärmere Stadtbevölkerung aus. Im Jahre 1903 bekam die Partei bei den Reichstagswahlen 3 Millionen Stimmen, trotzdem die Frauen und Soldaten nicht wählen durften und das Wahlgesetz eine Anzahl von Beschränkungen für die Arbeiter enthielt. Die Volksversammlungen, die von den Sozialdemokraten aus den verschiedensten Anlässen einberufen wurden, waren stets überfüllt, obwohl mitunter in Berlin allein zur gleichen Zeit bis 100 solcher Versammlungen stattfanden. Die Sozialdemokratie hatte in allen Parlamenten des Reichs ihre Vertreter — vom Reichstag, wo ein Viertel der Abgeordneten der Sozialdemokratie angehörte, bis zu den Landtagen, Provinziallandtagen und Gemeindeparlamenten.
Außerdem stand die Sozialdemokratie an der Spitze einer drei Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaftsbewegung, die faktisch unter ihrer Führung stand, nicht nur im Zentrum, sondern auch in der Provinz und in den Betrieben. In den Betrieben hatten die Gewerkschaften ihre Vertrauensleute, je einen für eine bestimmte Anzahl Verbandsmitglieder. Diese Vertrauensleute sammelten auch die Mitgliedsbeiträge und wurden meistens aus den aktiven Mitgliedern der Sozialdemokratie genommen. Gleichfalls in den Händen der Sozialdemokratie lagen die gesamten Konsum- und Produktivgenossenschaften der Arbeiter, die in allen Städten Deutschlands ihre Filialen hatten und erfolgreich mit dem Privatkapital konkurrierten, weil sie bessere Ware für den Massenbedarf lieferten als die privaten Händler. So war die deutsche Sozialdemokratie durch die Gewerkschaften, hauptsächlich aber durch deren Vertrauensleute mit der Arbeiterschaft der Betriebe eng verknüpft. Einen nicht geringen Dienst bei der Herstellung des Kontaktes mit den Arbeitermassen leisteten der deutschen Sozialdemokratie außer der Tagespresse der Partei noch die Volkshäuser mit ihren Cafés und Restaurationen, ferner die ungeheure Zahl kleiner Bierhallen, deren Besitzer aktive Parteimitglieder waren. Man muss nämlich berücksichtigen, dass die Deutschen — auch die Arbeiter — die meiste freie Zeit in Restaurationen, Bierhallen und Cafes zu verbringen pflegen. Dort finden die Versammlungen der gewerkschaftlichen, politischen, genossenschaftlichen und sonstigen Organisationen statt, dort treffen sich die Arbeiter, diskutieren über alles mögliche, lesen Zeitungen usw.
Zu jener Zeit führte das Bürgertum gegen die Sozialdemokraten den Kampf auch dadurch, dass es ihnen keine Räume für Partei- und Volksversammlungen zur Verfügung stellte. Versammlungen unter freiem Himmel aber waren verboten. Das zwang die Partei, ihre eigenen Volkshäuser mit den Mitteln der Arbeiterschaft zu bauen. Gebaut wurden sie von Partei-, Gewerkschafts- und Genossenschaftsorganisationen. Gleichzeitig förderte die Partei die Eröffnung von Bierhallen durch Parteimitglieder. Meistens wurden damals die Parteimitglieder zu Gastwirten, die von den Unternehmern gemaßregelt worden waren. Und diese sozialdemokratischen Gastwirtschaften bilden auch heute noch einen starken Stützpunkt der SPD, die jetzt Lakaiendienste für die Bourgeoisie verrichtet.
Wenn man nun berücksichtigt, dass in keinem einzigen Lande — von Russland abgesehen — eine in allen ihren Verzweigungen so mächtige Arbeiterbewegung existierte wie in Deutschland, so wird es klar, warum ich zu einem so leidenschaftlichen Bewunderer der deutschen Sozialdemokratie der Vorkriegszeit wurde. Mehr als einmal ersehnte ich in meinen Träumen, dass auch in Russland eine so machtvolle Arbeiterbewegung entstehe.
Natürlich entgingen mir auch nicht die Fehler der deutschen Arbeiterbewegung. So z. B. schlossen die Gewerkschaften mit den Unternehmern langfristige Tarifverträge über Arbeitstag, Arbeitslöhne und Arbeitsbedingungen ab, die die Arbeiterschaft an Händen und Füßen fesselten. Ja noch mehr: im Jahre 1905 sprach sich der Reichskongress der Gewerkschaften, der in seiner Mehrheit aus Sozialdemokraten bestand, gegen den politischen Generalstreik als Kampfmittel aus (die großen russischen Streiks von 1905 hatten diese Frage auch in Deutschland akut gemacht), kurz darauf aber nahm der deutsche Parteitag mit überwiegender Mehrheit eine Resolution für den Generalstreik an. So entstand ein Riss zwischen der Partei in ihrer Gesamtheit und den Sozialdemokraten, die in den Gewerkschaften tätig waren. Das war bereits ein Sieg der an der Spitze der deutschen Gewerkschaften stehenden Opportunisten. Ich war jedoch damals fest davon überzeugt, dass die Partei so stark und ihre Autorität unter der Arbeiterschaft so groß war, dass es ihr gelingen musste, die deutschen Proletarier in den Kampf gegen den Opportunismus in den eigenen Reihen zu führen und den Opportunismus auszurotten. Natürlich wäre das der Partei gelungen, wenn sie nur den Willen dazu gehabt hätte. Aber sie wollte das eben nicht. Die Partei war vollkommen legal und hatte sich dieser Legalität so sehr angepasst, dass sie nicht einmal zu demonstrieren wagte, wenn die Polizei es verbot; sie ließ in aller Ruhe die Willkür der Polizei über sich ergehen, wenn es dieser einfiel, wegen irgend einer Lappalie Versammlungen aufzulösen.
Es tat einem weh, mit ansehen zu müssen, wie die Berliner Sozialdemokraten auf eine Demonstration zum Friedhof der Märzgefallenen nur deshalb verzichteten, weil die Polizei diese Demonstration nicht erlaubte. Die eifrigsten Besucher dieses Friedhofs an den Tagen der Märzgefallenen waren die russischen Sozialdemokraten, die damals in Berlin wohnten.
Durch diese Unterwürfigkeit unter das Gesetz um jeden Preis erzogen die deutschen Sozialdemokraten die Arbeiterschaft zu einer übermäßigen Legalität, und es gab nur sehr wenige Parteimitglieder, die sich noch an das Sozialistengesetz (Anm.: Das Sozialistengesetz wurde von Bismarck im Reichstag eingebracht und am 19. Oktober 1878 angenommen.
Die unmittelbare Veranlassung zum Sozialistengesetz waren die zwei Attentate auf den König Wilhelm: das erste verübte der Klempner Hedel am 11. März 1878, das zweite Dr. Nobling am 2. Juni desselben Jahres. Dieser verwundete den König schwer. Allen war klar, dass Bismarck die Attentate benutzen wollte, um den wachsenden Einfluss der deutschen Sozialdemokratie auf die Arbeiterklasse zu paralysieren.
Das Sozialistengesetz drängte die deutsche Sozialdemokratie in die Illegalität. Es wurde verboten, Parteizeitungen herauszugeben, Partei- und Volksversammlungen abzuhalten, sozialdemokratische Literatur zu verbreiten, Geld für die Partei zu sammeln und der Sozialdemokratischen Partei und ihren Organisationen als Mitglied anzugehören
Die deutsche Sozialdemokratie gab ihr Zentralorgan im Ausland heraus. Im Ausland wurden auch die Parteitage abgehalten. Trotz der Verfolgungen hatte die Partei sehr große Erfolge zu verzeichnen, was die während des Sozialistengesetzes stattgefundenen Reichstagswahlen bewiesen. Am 25. Januar 1890 wurde das Sozialistengesetz vom Reichstag aufgehoben (mit 169 gegen 98 Stimmen), da die Sozialdemokratie trotz der Verfolgungen eine außerordentlich starke Tätigkeit unter den Arbeitern entfaltete. Dadurch zwang sie die Bourgeoisie zur Aufhebung des Sozialistengesetzes.) erinnerten. Diejenigen aber, die sich noch gut darauf besinnen konnten und jene Zeiten selbst durchgemacht hatten, hielten sich beinahe für Märtyrer, wenn beispielsweise auf dem Dachboden des Hauses, das sie bewohnten, eine Haussuchung stattgefunden hatte oder wenn sie durch die preußische Polizei kurz vor Weihnachten — man denke nur! — aus Preußen nach Sachsen abgeschoben wurden, nach einem Lande, das in vier Stunden mit der Eisenbahn von Berlin zu erreichen ist. (Diese zwei Dinge blieben mir im Gedächtnis fest haften, und zwar aus einem Gespräch, das ich mit zwei Funktionären der Berliner Organisation hatte: mit dem Vorsitzenden des Buchbinderverbandes Silier und dem Kupferstecher Peterson.) Die Erziehung der Mitglieder der deutschen Sozialdemokratie zur Legalität machte sich übrigens auch bei manchen deutschen Kommunisten stark bemerkbar, die von der SPD herübergekommen waren.
Ich konnte auch noch andere nicht geringe Sünden in der Taktik der deutschen Sozialdemokratie feststellen. Um ja nicht gegen die Gesetze zu verstoßen, leisteten sie vor dem Kriege keine propagandistische Arbeit unter den Soldaten der kaiserlichen Armee — ganz zu schweigen von ihrem Verhalten während des Krieges — und erklärten diese Stellungnahme damit, dass die Sozialdemokratie in der Lage sei, unter der Jugend vor und nach der Dienstzeit zu arbeiten. Ja noch mehr: uns Russen empörte der Standpunkt, den aktive Sozialdemokraten und Arbeiter, die in der kaiserlichen Armee gedient hatten, dem Militärdienst gegenüber einnahmen: sie rechneten die Zeit, die sie in der Armee verbracht hatten, zur glücklichsten ihres Lebens und erzählten davon mit einem Stolz, als ob es sich nicht um eine kaiserliche, sondern um eine Rote Armee — um die Armee des siegreichen deutschen Proletariates gehandelt hätte.
Trotz aller Mängel, die ich in der Leitung der deutschen Arbeiterbewegung wahrnahm, war ich fest davon überzeugt, dass der ununterbrochen vorsichgehende Klassenkampf in Deutschland die Taktik der deutschen Sozialdemokratie gerade richten werde, denn ich hielt die Funktionäre und Führer der SPD, denen die Arbeitermassen Gefolgschaft leisteten, für ehrliche und aufrichtige Anhänger des revolutionären Marxismus, für Männer, die der Arbeiterbewegung wirklich treu ergeben waren.
Erst in Leipzig, in den Jahren 1909—1912, kam ich dazu, die Tätigkeit einer Ortsgruppe genau kennen zu lernen. Die Generalversammlung des Wahlkreises wählte den Vorstand. Ständig arbeitete nur der Sekretär. Dieser hatte einen Apparat zur Einziehung der Mitgliedsbeiträge, der aus Kassierern bestand, die die Parteimitglieder in den Wohnungen aufsuchten und die fälligen Mitgliedsbeiträge einzogen Die Flugblätter wurden ebenfalls in die Wohnungen getragen. Einzelne Gruppen von Parteimitgliedern erhielten den Auftrag, bestimmte Straßen zu bearbeiten. Organisatorisch sehr interessant war die Kampagne zu den Reichstagswahlen im Jahre 1911. Jede Mitgliedergruppe (an der Spitze jeder Gruppe stand ein Bevollmächtigter des Bezirksvorstandes) hatte die Wahlpropaganda in bestimmten Straßen durchzuführen. Zu diesem Zweck erhielten die Gruppen vollständige Verzeichnisse aller Wahlberechtigten der ihnen zur Bearbeitung zugewiesenen Straßen mit genauen Angaben von Beruf und Adresse eines jeden Wählers. Auf Grund dieser Listen wurden die Arbeiter, kleinen Angestellten und Handwerker festgestellt. Für diese Wählerkategorien wurde dann Material über die Wahlen in Briefumschläge gesteckt und an die Wähler per Post versandt oder ins Haus getragen. Einige Tage darauf gingen die Mitglieder der Gruppen in alle Wohnungen, in die man Drucksachen gesandt hatte, und versuchten durch mündliche Agitation die Wirkung des gedruckten Materials zu vertiefen und zu festigen. — An dieser Wahlarbeit habe ich auch teilgenommen.
Viele kommunistische Parteien Westeuropas könnten auch jetzt — neben der Arbeit in den Betriebszellen — diese Agitationsmethode bei den verschiedenen Kampagnen anwenden.
Die Leipziger Organisation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands führte bereits damals das Prinzip der einheitlichen zentralen Leitung aller Formen der Arbeiterbewegung in Leipzig und Umgegend durch.
Der Bezirksvorstand berief vertrauliche Versammlungen der Funktionäre ein. Diese Versammlungen wurden nicht nur vor der Polizei, sondern auch vor der Mitgliedschaft geheim gehalten. In diesen Versammlungen wurden Berichte der Leiter der Gewerkschaften, der Genossenschaften, der Krankenkassenvertreter und der Vertreter des Bezirksvorstandes erstattet. Ferner wurden hier die Kandidaten zu allen obengenannten Organisationen und Körperschaften aufgestellt und in Resolutionen zu allen Fragen Stellung genommen. Hier wurde auch bestimmt, wer sprechen, wer Vorschläge für den Vorsitz in den Versammlungen oder für die Wahlen zum Bezirksvorstand machen und wer in offiziellen Versammlungen Resolutionen einbringen sollte. In Leipzig bezeichnete man solche Sitzungen mit dem Stichwort: „Kamorra".
Viele russische Genossen, die damals durch Leipzig kamen, schimpften immer über die deutschen Sozialdemokraten, und es schien mir damals, dass sie das nur deshalb taten, weil sie die deutschen Sozialdemokraten nie bei der Arbeit gesehen hatten. Als im Sommer 1912 Genosse Lenin in Leipzig war, äußerte er sich im Laufe einer Unterhaltung mit mir sehr scharf über die deutsche Sozialdemokratie wegen ihrer Passivität, weil sie den Kampf gegen die Opportunisten in ihren eigenen Reihen nur in Worten, nur während der Parteitage führe, und weil die Resolutionen der Parteitage bloß auf dem Papier blieben. Genosse Lenin war schon zu jener Zeit der Ansicht, dass die deutsche Sozialdemokratie vollkommen vom Opportunismus durchfressen war und in ein bürgerliches Deutschland hineinwuchs. Auch damit war ich nicht einverstanden. Es stellte sich aber dann heraus, dass die SPD so sehr mit dem kaiserlichen Deutschland der Bourgeoisie verwachsen war, dass sie sich selbst im November 1918 daran klammerte, als sie vom aufständischen Proletariat an die Spitze der Revolution gestellt wurde. Und wäre es nur auf die deutsche Sozialdemokratie angekommen, nicht aber auf die deutsche Arbeiterklasse, so hätten wir in Deutschland auch heute noch eine Monarchie. Als ich im August 1914, im Gefängnis zu Samara, während des Verhörs von dem Gendarmen erfuhr, dass Plechanow für den Krieg war und dass die deutsche sozialdemokratische Reichstagsfraktion einstimmig die Kriegskredite bewilligt hatte, empfand ich einen stechenden Schmerz. Die Stellungnahme Plechanows war mir weniger unerwartet gekommen, als die der deutschen Sozialdemokratie. Denn der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ihre Parteitage hatten ja stets die badische und hessische Landtagsfraktion verurteilt, weil diese dem Etat ihrer Länder zustimmen wollten. Hier aber stimmte mit einem Male die ganze Reichstagsfraktion für die Kriegskredite, das heißt für den Krieg, obwohl die „Verteidigung" des Vaterlandes gar nicht von den sozialdemokratischen Stimmen abhing, weil die Bürgerlichen im Reichstag über drei Viertel der Stimmen verfügten. Damals begriff ich, dass die deutsche Sozialdemokratie in der Tat weder revolutionär noch international war. Und heute scheint es mir, dass die deutsche Sozialdemokratie, auch wenn es keinen Krieg gegeben hätte, allmählich zu der Arbeitsgemeinschaft mit den bürgerlichen Parteien gekommen wäre, die sie heute praktiziert. Für eine so große und starke Partei, wie es die deutsche Sozialdemokratie vor dem Kriege war, gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder schon damals für die Eroberung der Macht durch das Proletariat zu kämpfen oder mit der Bourgeoisie zu einem Kompromiss zu kommen. Die erste Möglichkeit verschmähte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sogar im Jahre 1918, als die Macht in ihre Hände gefallen war.

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