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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Wie wir von dem Februarumsturz erfuhren (1917)

Am Abend des 9. März 1917 war ich in einer fürchterlichen Stimmung. Den ganzen Tag über hatte ich Trübsal geblasen, hatte mein Zimmer nicht verlassen und lag nun im Dunkeln auf meinem Bett, antwortete nicht, wenn jemand klopfte und ließ keinen Menschen herein. Als es bereits spät abends war, vernahm ich plötzlich hastige Schritte und dann energisches Klopfen an der Tür. Ohne mein „Herein" abzuwarten, tauchte in der Tür der frühere politische Verbannte (jetzt Bauer) Genosse Foma Goworek auf, der gar nicht in unserem Dorfe wohnte, und teilte mir erregt mit, dass in Russland die Revolution ausgebrochen sei. Ich erklärte ihm, dass ich heute nicht zum Scherzen aufgelegt sei. Darauf erwiderte er ganz ernst, dass die Frau eines Verbannten aus Potschet in Kansk gewesen sei und dort einem großen Meeting beigewohnt habe, an dem auch Soldaten teilgenommen hätten. Die Einwohner der Stadt hätten einander zur Freiheit gratuliert und ihre Häuser mit roten Fahnen geschmückt. Sofort versammelten wir alle Verbannten und berieten, wie wir am schnellsten und sichersten erfahren könnten, was eigentlich in Russland und in den großen Städten Sibiriens vor sich ging. Man beschloss, Verbannte auf alle Landstraßen hinauszuschicken, um von den vorbeifahrenden Bauern zu erfahren, was sie in Kansk und in Aban gesehen hatten; ferner wollte man die Zeitungen einsehen, wenn die Bauern welche bei sich haben sollten. Für den Fall aber, dass in der Nacht niemand etwas Positives erfahren würde, beschloss man, Foma nach Kansk zu schicken, damit er sich dort nach allem eingehend erkundige. Aber nachts bekamen wir schon die Flugblätter der aus den Gefängnissen befreiten Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, die aufforderten, sich um den „öffentlichen Wohlfahrtsausschuss" zu sammeln. In dem Flugblatt wurde auch gesagt, dass der Zarismus gestürzt sei und die Macht sich in den Händen eines Dumaausschusses befinde.
In dieser Nacht konnte niemand von den Verbannten schlafen. Man beriet die Frage der Entwaffnung der Straschniki (Polizeibeamten) und der Verhaftung des Kreispolizeichefs, dessen Ankunft sowohl vom Straschnik als auch von der Dorfbevölkerung bereits seit über einer Woche erwartet wurde. Auch überlegten wir hin und her, was nun in der Gemeinde getan werden sollte. Die brennendste Frage aber war die, wie man aus diesem Loch herauskommen und sich der revolutionären Bewegung in Russland anschließen könne. Zu allen diesen Fragen wurden die unsinnigsten Vorschläge gemacht. So z. B. forderte man auf, eine Rundreise durch die Dörfer zu machen und alle dort wohnenden Straschniki durchzuprügeln und zu verhaften, obwohl einige dieser Dörfer 150 bis 200 Werst von uns entfernt in der Nähe von Bogutschany lagen, wo es zehnmal mehr Verbannte gab als bei uns. Und das Merkwürdigste war, dass solche Vorschläge gerade von Genossen gemacht wurden, die vor der Revolution selbst vor jedem Zusammenstoß mit unserem harmlosen Straschnik gezittert hatten.
Am Morgen gelangten wir in den Besitz eines Flugblattes, in dem auch die Mitglieder der Provisorischen Regierung aufgezählt waren. Mir fiel sofort auf, dass der „Sozialist" Kerenski unter den kadettischen und oktobristischen Büffeln vom Schlage der Gutschkow und Miljukow allein dastand. Ich dachte mir damals gleich, dass Kerenski bei uns die Rolle eines Blitzableiters gegenüber den revolutionären Massen spielen werden müsse, so wie sie 1848 in Frankreich Louis Blanc gespielt hatte, und ich konnte mir kaum denken, dass die Petersburger revolutionären Arbeiter ihn auf diesen Posten gestellt hatten, da sie ihn zu wenig kannten. Mir war es ganz klar, dass man jetzt nicht mehr gegen den Zarismus, sondern gegen die Bourgeoisie zu kämpfen haben würde Unklar war mir nur damals, wie weit die Bourgeoisie während des Krieges erstarkt war und ob es gelingen werde, schnell genug unsere bolschewistische Partei zusammenzufassen, die allein in der Lage war, die breiten Massen des Proletariats um sich zu sammeln und ihnen den richtigen Weg im Kampfe gegen die Bourgeoisie zu zeigen. Die Hauptfrage für mich war: wer wird rascher imstande sein, seine Kräfte zusammenzufassen: das Proletariat unter der Führung der Partei oder die Bourgeoisie? Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass die Sozialrevolutionäre nach dem Februarumsturz die erste Geige spielen und dass die Menschewiki mit ihnen einen Block bilden würden, obwohl es vollkommen klar war, dass innerhalb der Sozialdemokratie die Frage der Hegemonie des Proletariats oder der Bourgeoisie in der Revolution wieder auftauchen werde. Unsere Partei verstand es, ihre Organisation am raschesten auszubauen. Durch ihre Taktik sammelte sie nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bauern um sich und schlug nicht allein die Bourgeoisie aufs Haupt, sondern auch das Kleinbürgertum in Gestalt der Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Narodniki u. a.
Wir waren in Fedino vollkommen isoliert und wussten deshalb auch nichts über die wirkliche Lage an den Fronten. Infolgedessen war es für mich und viele andere Verbannte nicht ganz klar, welchen Ausgang der Krieg nach der Februarrevolution nehmen werde, trotzdem ich auch nach dem Umsturz im Februar entschiedener Kriegsgegner geblieben war. Als ich auf meiner Rückreise nun in die Nähe von Kansk kam, sah ich, wie die Soldaten massenweise zu Fuß nach Hause liefen, und wie von Kansk bis nach Moskau alle Bahnhöfe und Züge von Soldaten voll gestopft waren, die einfach die Front verlassen hatten. Sie hörten gierig den aus Sibirien zurückkehrenden politischen Verbannten zu, die gegen den Krieg sprachen, und gingen auseinander, sobald jemand vom Krieg bis zum siegreichen Ende zu reden anfing. Ich begriff damals, dass die Massen den Krieg satt hatten und dass der Krieg deshalb von keiner langen Dauer sein werde.
Am 10. März borgte ich mir das Reisegeld und verließ Fedino. Das ganze Dorf begleitete mich. Als ich nach Potschet kam, fand ich dort zwei Depeschen aus Pensa und Moskau vor mit der Amnestienachricht und der Aufforderung, zur Arbeit nach Moskau zu kommen. Ferner war bereits eine Geldüberweisung für mich da. In einem Wagen erreichte ich am Morgen des 12. März Kansk. In Kansk bestand bereits ein Soldatenrat. Eine Versammlung des Arbeiterrats sollte am Tage meiner Ankunft stattfinden. In Kansk brodelte es wie in einem Kessel. Überall liefen Soldaten unter Führung von Kommissaren umher, nahmen Verhaftungen vor und hielten Haussuchungen ab; im Sowjet herrschte ein Tohuwabohu, und der Vollzugsausschuss tagte ununterbrochen. Ich dachte damals: wenn hier, in einem so entlegenen Nest, das Leben so kocht, wie muss es da erst in Petersburg oder in Moskau zugehen? Ich beschloss, ohne Säumen nach Moskau zu reisen, und fuhr noch in der gleichen Nacht in einem Zuge ab, der von Amnestierten vollgepfropft war. Unterwegs sandte ich eine Anfrage an das ZK in Petersburg, wohin ich fahren und welche Arbeit ich übernehmen sollte. Am 18. März, am Tage meiner Ankunft in Moskau, ging ich sofort in den Moskauer Sowjet, wo ich gleich alte Genossen: Smidowitsch, Nogin und andere vorfand. Auch im Moskauer Parteikomitee war ich am selben Tage — dort traf ich die „Semljatschka" — und außerdem in der Gebietsvertretung des ZK. Alle diese Organisationen befanden sich im gleichen Gebäude, in der Kapzowschen Schule. Als ich die Antwort des ZK erhielt, in der ich aufgefordert wurde, nach Petersburg zu kommen, war ich bereits unter den Moskauer Eisenbahnern tätig. Deshalb beschloss ich, die angefangene Arbeit fortzusetzen und in Moskau zu bleiben.
Nach der Februarrevolution begann ein neues Kapitel in der Geschichte des Kampfes unserer Partei gegen den Einfluss der Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf die Arbeiterklasse, gegen den Weltkrieg und für die Diktatur des Proletariats. Ich begann mit allen meinen Kräften und mit aller Energie an der Verwirklichung der Aufgaben zu arbeiten, vor die die Revolution unsere Partei und die Arbeiterklasse gestellt hatte.

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