Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
http://nemesis.marxists.org

Eine unsinnige Verhaftung (1908)

Im Jahre 1908 war ich wieder in meiner Heimatstadt. Die Reaktion des Jahres 1908, die mit ihrer Tatze alles Lebendige in der revolutionären Arbeiterbewegung umkrallt hielt, übte hier bereits unumschränkte Herrschaft aus. Die ganze Stadt war voll von Straschniki (Anm.: Landpolizisten.), die gerade eine Expedition in die litauischen Dörfer zu Ende führten; es verging kein Tag, ohne dass die Straschniki Bauern aus dem ganzen Kreis Wilkomir in die Stadt brachten. In Wilkomir selbst war alles zerschlagen worden. Es gab nicht einmal eine Organisation des „Bund", obwohl eine solche sogar in den schwersten Zeiten vor 1905 existiert hatte. Genossen, die noch vor kurzem Mitglieder ein und derselben Organisation waren, suchten einander geflissentlich aus dem Wege zu gehen. Gleich nach meiner Ankunft erkannte ich, dass meine Reise hierher, in dieses Loch, wo mich seit 1906 eine so stattliche Zahl von Spießern kannte, ein Fehler war Ich bedauerte schon, dass ich meinen Verwandten, die versprochen hatten, mir rasch einen Auslandspaß zu verschaffen, Glauben geschenkt hatte; denn ich sah nun, dass sie sogar vergessen hatten, mich von den Veränderungen in bezug auf die Polizeiverhältnisse in Kenntnis zu setzen. Der Fehler war aber nicht mehr gutzumachen, und ich bemühte mich deshalb, tagsüber der Straße fernzubleiben. Meine Verwandten liefen inzwischen in der Stadt umher und versuchten, die zur Reise ins Ausland notwendigen Dokumente aufzutreiben.
Etwa zehn Tage nach meiner Ankunft vernahm ich gegen Morgen starkes Klopfen an der Tür. Auf meine Frage, wer da klopfe, antwortete man, dass ein eiliges Telegramm für meinen Schwager, dem Inhaber der Wohnung, angekommen sei. Als ich darauf ersuchte, das Telegramm später zu bringen, versuchte man auf einmal, die Tür des Zimmers, in dem ich schlief, einzuschlagen. Diese Tür ging direkt auf die Straße hinaus. Ich begriff sofort, um was für ein „eiliges Telegramm" es sich handelte. Ich machte auf, und ins Zimmer stürzten die beiden in der Stadt stationierten Gendarmen, einige Straschniki, Polizisten und mehrere herbeigezogene Zeugen. Sofort platzten sie mit der Frage heraus: „Heißen Sie soundso?" Dabei nannten sie meinen richtigen Namen. Ich erklärte, dass ich Pokemunski heiße, entsprechend den Personalien des Passes, unter dem ich in Odessa gelebt hatte. Ich hatte mir nämlich schon früher, nachdem ich über die Lage der Dinge in der Stadt, im klaren war, überlegt, wie ich mich im Falle einer Verhaftung nennen sollte. Meinen wirklichen Namen anzugeben, hielt ich für unmöglich, da die Ochrana in Moskau über mich und meine Arbeit wohl unterrichtet war; das hätte mich vors Gericht nach Moskau gebracht, und dann wäre mir lebenslängliche Verbannung oder sogar Zwangsarbeit sicher gewesen. Ich beschloss deshalb, den Namen anzugeben, unter dem ich in Odessa im Gefängnis gesessen hatte, wobei ich ganz richtig in Erwägung zog, dass die Odessaer Gendarmerieverwaltung im Jahre 1906 nicht bei der Gemeindebehörde angefragt hatte, die mir anfangs 1905 (für 100 Rubel) den Pass ausstellte, der mir in Odessa bereits gute Dienste geleistet hatte. Die Gendarmen verlangten meinen Pass zu sehen, ich aber hatte ihn natürlich nicht da. Im Hause wussten alle, außer meiner Mutter, wie ich mich gegebenenfalls nennen wollte. Während der Haussuchung, die außerordentlich lange dauerte, kam meine Mutter ins Zimmer. Entsetzen packte mich. Ich dachte, sie würde mich sogleich bei meinem Namen rufen. Das geschah aber nicht. Sie stand schweigend da und sah zu, wie überall gesucht wurde und wie man mich schließlich abführte.
Am Morgen begann ein tolles Hin und Her. Erst verhörte mich der Polizeikommissar, dann wurde ich dem Kreispolizeichef vorgeführt. Am nächsten Morgen kam dann aus Kowno der Gendarmerieoffizier Swjatschkin, der eine Photographie von mir mitbrachte, die noch im Jahre 1902 im Kiewer Gefängnis gemacht worden war. Man führte mich feierlich ins Arbeitszimmer des Kreispolizeichefs, in dem sich außer diesem der Gendarmerieoffizier und noch irgendein Beamter befanden. Swjatschkin erklärte mir, dass den Behörden alles über mich bekannt sei, dass sie schon längst auf mich gewartet und mich jetzt endlich fest in Händen hätten. Und um die Wirkung seiner Worte noch zu erhöhen, zeigte er mir meine Photographie. Als ich aber einen Blick auf die Photographie warf, fasste ich neuen Mut und fragte die Anwesenden, ob sie denn tatsächlich nicht sähen, dass es nicht mein Bild sei? Oder bekäme der Mensch im Alter wirklich einen kleineren Kopf? Im Jahre 1908 trug ich einen großen Bart, der mir ein sehr solides, gar nicht meinem Alter entsprechendes Aussehen verlieh, während das Kiewer Bild einen Knaben zeigte, der einen ungeheuer großen Kopf hatte. Die Anwesenden wussten nicht, was sie sagen sollten. Noch am selben Tage wurde ich von zwei Gendarmen nach Kowno gebracht. In der Stadt aber begann der reinste Hexentanz: der Gendarmerieoffizier vernahm meine Verwandten und eine ganze Reihe von Einwohnern. Ein Gendarm wurde sogar mit der Photographie zu meiner einige hundert Werst entfernt wohnenden Schwester geschickt. Trotzdem gelang es den Gendarmen nicht, eine Bestätigung für ihre Behauptungen zu bekommen. Der Kownoer Gendarm war in einem Gasthaus abgestiegen, wo er alle verhörte. Das Personal des Gasthauses erwies sich als sehr tüchtig: die Leute belauschten die Gendarmen und wussten daher im voraus, wer verhört werden sollte und wohin die Gendarmen zu gehen beabsichtigten. Alles teilten sie gleich meinen Verwandten mit, die dann ihre Maßnahmen trafen, damit die zum Verhör Zitierten mir nicht schadeten. Meine Verwandten hatten auch meine Schwester rechtzeitig benachrichtigt, damit sie mich auf der Photographie nicht erkenne. Ja, noch mehr: das Personal des Hotels erfuhr auch bald, wer mich verraten hatte. Der Spitzel war, wie es sich herausstellte, ein Borstenmacher Berel Gruntwagen, ein früherer Funktionär des „Bund". Am Vorabend der Verhaftung war ich ihm auf der Straße begegnet.
Die Insassen der Zelle des Kownoer Gefängnisses, in die ich gebracht wurde, empfingen mich in feindlicher Stimmung. Auf meine Frage nach den Gründen dieses Empfanges erwiderte man mir schroff, dass ich gekommen sei, um sie zu provozieren. Als aber die ernsteren Insassen der Zelle merkten, dass ich über ihre Nervosität und Schroffheit aufrichtig erstaunt war, zeigten sie auf die von mir mitgebrachten Esswaren und erklärten, dass sie im Hungerstreik stünden, weil das Regime im Gefängnis zu streng sei, und dass die Gefängnisverwaltung dadurch, dass sie mich hierher gebracht hätte, die Gefangenen provozieren wolle.
Dass es in diesem Gefängnis streng zuging, hatte ich sofort bei der Visitation gemerkt: ich wurde nackt ausgezogen, und die Gefängnisbeamten suchten überall, wo man nur irgend etwas verstecken konnte. Sobald ich den Grund des „freundlichen" Empfanges erfahren hatte, der mir von den Zelleninsassen bereitet worden war, warf ich alle Lebensmittel fort und erklärte mich mit den Hungernden solidarisch. Bald schloss sich unser ganzer Korridor dem Streik an und schließlich alle Politischen. Man nahm uns die Betten, die Matratzen und alle Sachen fort, was der Karzerstrafe gleichkam. So mussten wir auf dem kahlen Fußboden liegen, nicht nur nachts, sondern auch am Tage, denn einige von uns, darunter auch ich, lagen bereits am dritten Tage vollkommen erschöpft da. Der Hungerstreik ging verloren, und das Regime wurde noch brutaler, denn im Gefängnis saßen damals zusammen mit den politischen Gefangenen recht verschiedenartige Elemente, darunter auch Bauern, die nicht gewohnt waren, freiwillig zu hungern. In dem Gefängnis der jetzigen Hauptstadt der „Demokratischen Volksrepublik Litauen" saßen damals viele nationalistisch gestimmte Intellektuelle und Bauern, die sich gegen ihre polnischen Gutsbesitzer erhoben hatten, außerdem auch der angebliche „heimliche Präsident" der angeblichen „Litauischen Republik" samt seinem Sohn. Das ganze Kownoer Gouvernement war geradezu überschwemmt von Straschniki, und alle Landkommissare und Landjäger hatten sich in politische Untersuchungsorgane verwandelt. Die Untersuchungsmethoden waren bei allen gleich einfach: man verhaftete einen oder mehrere Bauern irgendeines Dorfes und misshandelte die Betreffenden so lange, bis sie alles, was die Landkommissare und Landjäger wollten, bestätigten. Sobald die verhafteten Bauern „freiwillig" ihre Genossen verrieten, wurden diese ebenfalls sofort verhaftet und riesige Prozesse eingeleitet. Alle Kreis- und Gouvernementsgefängnisse, alle Arrestzellen der Polizeibüros waren überfüllt von Bauern, die auf die oben beschriebene Art verhaftet worden waren. Kurzum, der Unterhalt der riesigen Menge von Straschniki hatte sich „bezahlt" gemacht. Es gab genug Arbeit für sie. Außer den Bauern saßen damals im Gefängnis viele litauische, polnische, jüdische und russische Arbeiter. Meistens waren das Leute, die auf Grund einer Denunziation persönlicher Feinde zufällig ins Gefängnis gekommen waren. Es gab darunter aber auch ernste litauische Genossen, die von den Lockspitzeln in ihren Organisationen verraten worden waren. Ihre Namen sind leider meinem Gedächtnis entfallen. Später, nach dem Verlassen des Kownoer Gefängnisses bin ich keinem mehr von ihnen begegnet.
Bald nach meiner Einlieferung ins Gefängnis rief man mich zur Vernehmung. An dieser Vernehmung nahmen Gendarmen teil, die erklärten, dass sie mich genau wiedererkennen. Sie behaupteten nämlich, bei meinem Bruder in Kowno oft Haussuchungen vorgenommen und mich bei diesen Gelegenheiten gesehen zu haben. Die Sinnlosigkeit und Verlogenheit dieser Behauptungen war offenbar, denn ich hatte meinen Bruder seit 1899 nicht wieder besucht. Derselbe Swjatschkin, der nach meiner Verhaftung mit meiner Photographie angekommen war, begann mir nunmehr mit Zwangsarbeit zu drohen, zu der ich als namenloser Vagabund verurteilt werden würde, suchte mich durch eine bevorstehende Konfrontation mit meinem Bruder einzuschüchtern und dergleichen mehr. Offen gestanden: das ließ mich keineswegs kalt, denn ich wusste nicht, wie mein Bruder auf ein Wiedersehen mit mir reagieren würde. Das Verhör führte jedoch zu keinem Ergebnis und ich wartete immer auf die Konfrontation, die jedoch nicht stattfand, da die Gendarmen anscheinend jede Hoffnung aufgegeben hatten, den Beweis zu liefern, dass ich der von ihnen Gesuchte sei. Man ließ mich ein paar Monate lang in Ruhe. Ich befand mich während dieser ganzen Zeit in einem Zustand der Ungewissheit. Meinetwegen machte ich mir wenig Sorgen: es war mir schließlich gleichgültig, ob ich sofort unter meinem richtigen Namen in die Verbannung kommen würde oder erst nach der Zwangsarbeit, die mir als Landstreicher drohte. Sehr beunruhigte mich folgender Gedanke. Ich sagte mir: wenn es der Polizei gelingen sollte, meine Identität nachzuweisen, so würden alle meine Verwandten, die behauptet hatten, ich sei Pokemunski, völlig schuldlos verhaftet und wahrscheinlich nach Sibirien verbannt werden.
Schließlich holte man mich wieder zum Verhör. Sobald ich das feierliche Äußere, unter dem die Vernehmung vor sich gehen sollte, bemerkt hatte, begriff ich, dass die Gendarmen einen Trumpf gegen mich auszuspielen gedachten und war auf der Hut. Hinter der Tür, an der ich vorbeiging, waren Zeugen versteckt. Nach einer Reihe von Fragen, wollte Swjatschkin wissen, in welchen Städten Russlands ich mich aufgehalten hatte. Da ich auf seine Frage keine Antwort gab, begann er selbst die Städte aufzuzählen. Zum Schluss nannte er auch Cherson. Ich erwiderte schroff, dass ich dort nie gewesen sei. Der Gendarm machte fast einen Sprung vor Freude. Es stellte sich heraus, dass er beim Wehrkommando in Wilkomir eine alte Photographie von Pokemunski gefunden hatte. Ohne lange zu überlegen, erwiderte ich ihm, dass ich als einziger Sohn, meiner Eltern vom Militärdienst überhaupt befreit gewesen wäre und das Wehrkommando nie betreten hätte. Das Bild aber, sagte ich, sei offenbar nicht das meine. Ohne eine Photographie wären damals die Papiere, aus denen hervorging, dass ich nicht Soldat zu werden brauchte, gar nicht angenommen worden. Da ich aber zu jener Zeit nicht in Wilkomir gewesen sei, so müsste ihm also eine fremde Photographie in die Hände gefallen sein. Der Gendarm erklärte mir, dass er mir drei Tage Frist zur Angabe meines richtigen Namens gebe; sollte ich nach dieser Frist immer noch nicht meinen wirklichen Namen nennen, so würde man mich als Landstreicher vors Gericht stellen. Eine Woche später sandte man mich per Schub ab, ohne mir zu sagen, wohin. Es stellte sich bald heraus, dass ich wieder nach Wilkomir gebracht wurde. Von Janow aus ging es zu Fuß weiter. Einige Landsleute erkannten mich, die sofort meine Verwandten davon in Kenntnis setzten, dass ich per Schub reiste. Kurz vor der Stadt begegneten mir bereits Bekannte. Sobald ich wieder im Gewahrsam der Polizeiverwaltung war, kam mein Schwager zu mir und brachte einen Haufen Briefe aus Moskau, Rostow und dem Ausland. Die Dummköpfe von der Gendarmerie hatten überall herumgeschnüffelt, um zu beweisen, dass ich nicht Pokemunski sei, sie hatten aber ganz und gar vergessen, die auf die Adresse meines Schwagers eingehende Korrespondenz zu überwachen: es wären ihnen dabei chiffrierte Briefe in die Hände gefallen, die allein schon genügt hätten, um einen neuen Prozess gegen mich einzuleiten. Mein Schwager teilte mir auch mit, dass die Recherchen der Gendarmen keinen Erfolg gezeitigt hatten und versprach mir, den Grund, weshalb man mich hierher gebracht hatte, in Erfahrung zu bringen und mir mitzuteilen. Die Erlaubnis, mich zu sehen, hatte mein Schwager für 1 Rubel bekommen. Es wurde mir ein wenig leichter zu Mute. Abends erhielt ich einen Zettel mit der Nachricht, dass man mich in eine Gemeinde bringen werde, aus welcher der wirkliche Pokemunski stamme, dass aber alles unternommen werde, damit diese Gemeinde mich als Pokemunski anerkenne.
Am nächsten Morgen führte man mich und noch einen Handwerker durch die ganze Stadt, und zwar in der Richtung nach Dünaburg. Unterwegs sah ich mit eigenen Augen die Folterkammern, in denen man die Bauern und die kriminellen Verbrecher misshandelte, um sie zu Geständnissen zu zwingen, dass sie rebelliert, an geheimen Verbindungen teilgenommen, Diebstähle verübt und dergleichen mehr getan hätten, während sie in Wirklichkeit an alledem meistens ganz unschuldig waren. Vor einer solchen Folterkammer mussten wir Halt machen, und dort erzählten uns Gefangene, die soeben selbst die Schrecken eines solchen „Verhörs" durchgemacht hatten, welcher Methoden man sich bei der „Untersuchung" bediente. Einen Augenblick lang glaubte ich, dass man mich hierher gebracht hätte, damit ich gestehe, wer ich sei. Nachdem aber ein Landjäger und sein Gehilfe uns gemustert hatten, wurden wir zu meiner Freude weitertransportiert. Ich und mein Weggenosse ahnten nicht, dass wir noch dem Polizeihauptmann vorgeführt werden sollten, der der Schrecken der ganzen Gegend war.
Drei Tage und zwei Nächte dauerte unser Weg. Am Abend des dritten Tages, es war an einem Sonnabend, langten wir in dem schmutzigen Städtchen Uzjany an, das an der Schmalspurbahn Ponewjesh—Swenzjany liegt. Auf dem Hofe, der zu dem Hause des Polizeichefs gehörte, befand sich auch seine Kanzlei und etwas abseits davon ein einzelnes Häuschen, anscheinend ein altes Bad, das man in ein Arresthaus umgewandelt hatte. Dieses Arresthaus war leer.
Man führte uns beide durch den Vorraum in eine kleine dunkle Zelle mit einem kleinen Fensterchen. Am Sonntag wurde beim Polizeihauptmann gekneipt. Zu uns drang der Lärm trunkener Stimmen herüber; es wurde getanzt und gesungen. Am gleichen Tage erzählte uns der Wächter, der uns das Essen brachte, von den „Kunststücken" die der Chef und sein Vertreter zu praktizieren pflegten. Die Misshandlungen und Durchpeitschungen wurden im ersten Zimmer vorgenommen, durch das die Verhafteten in die Zelle gelangten, die wir augenblicklich bewohnten. Der Wächter zeigte uns auf der Bank vertrocknetes Blut, das von den Durchpeitschungen herrührte, und erzählte bei dieser Gelegenheit, dass man sich über den Polizeichef beschwert hätte, dass jemand sogar zur Untersuchung hierher gekommen sein soll, dass aber schließlich doch alles beim alten geblieben sei und der Polizeichef die Misshandlungen der Gefangenen fortsetze.
Am Sonntag abend wurde es uns unheimlich zu Mute in der dunklen Zelle: die trunkenen Stimmen, die vom Hofe herüberdrangen, kamen immer näher. Die ganze Nacht hindurch erwarteten wir einen Überfall, aber man ließ uns aus irgendeinem Grunde ungeschoren. Am Montag, als es noch dämmerte, wurde mein Weggenosse geholt. Die Tür unserer Zelle war kaum geschlossen worden, als plötzlich ein unmenschliches, Mark und Bein durchdringendes Schreien zu hören war. Der arme Teufel erhielt Prügel, weil die Administration des Kownoer Gefängnisses ihn auf eine falsche Marschroute abgeschoben hatte: statt ihn per Eisenbahn über Wilna nach Dünaburg zu befördern, hatte man ihn über Wilkomir, Onikscht und Uzjany nach Dünaburg gesandt. Der „weise" Polizeigewaltige entschied sofort, dass mein unfreiwilliger Gefährte selbst den „falschen" Weg gewählt hatte, um die Flucht zu ergreifen, und prügelte den armen Teufel, bis er das Bewußtsein verlor. Nachdem er zurückgekehrt war, wurde ich gerufen. Ich beschloss, mich zu widersetzen, und biss die Zähne zusammen. In der Dunkelheit suchte ich zu erspähen, von welcher Seite man über mich herfallen würde. Aber ich wurde ganz einfach in ein helles Zimmer geführt. Dort saß der Polizeihauptmann und ihm gegenüber standen an der Wand fünf alte Männer, unter ihnen auch Litauer. Der Beamte befahl mir zu schweigen und begann, die Alten zu verhören. Diese erklärten, dass ich in der Tat der Sohn des nach Amerika ausgewanderten Pokemunski sei; ich sei allein in Russland zurückgeblieben, sie kennten mich recht gut, und ich sähe meinem Vater sehr ähnlich. Ich hatte diese Menschen nie in meinem Leben, nicht einmal im Traum gesehen und war eben noch so sehr davon überzeugt gewesen, dass man mich zur Folterung führte, dass ich zuerst überhaupt nicht begriff, was eigentlich vor sich ging, als ich vor dem Polizeichef stand. Erst am nächsten Morgen erklärte mir der Polizeichef, es sei mein Glück, dass man mich erkannt habe, weil ich sonst nicht mit heiler Haut davongekommen wäre. Als man mich zurückführte, trat ein unbekannter Mensch auf mich zu und überreichte mir 5 Rubel. Da begriff ich, dass jemand von meinen Freunden diese ganze Geschichte eingefädelt hatte.
Nachdem nun die Gemeinde bestätigt hatte, dass ich Pokemunski sei, ließen die Gendarmen von mir ab. Dafür aber nahm mich die Polizei in ihre Obhut. Ich wurde beschuldigt, dass ich zur Einberufung an meiner statt einen Ersatzmann geschickt hätte, was nach den zaristischen Gesetzen streng bestraft wurde. Man klagte mich also an, weil wirklich Pokemunski sich gestellt hatte und nicht ich! Dann schleppte man mich zum Wehrkommando, und dieses beschloss, mich vor Gericht zu stellen. Der Richter aber entließ mich gegen eine Kaution von 100 Rubel. So war ich nach dieser dummen Verhaftung endlich wieder in Freiheit. Diese Haft war die kürzeste während meiner ganzen revolutionären Tätigkeit, dafür aber kam sie mir in materieller Hinsicht und in bezug auf meine Nerven sehr teuer zu stehen. Ich war körperlich unglaublich heruntergekommen. Nach der Befreiung reiste ich sofort nach Kowno. Dort ließ ich mir für einige Zeit einen Pass geben, denn ich wollte nach Odessa zu dem Genossen Orlowski (W. W. Worowski), den aufzusuchen, ich vom Auslandsbüro des ZK der Partei beauftragt worden war. Ich besprach mit ihm die Frage der Zustellung und Verbreitung der Parteiliteratur und machte ihn mit meinem Mitangeklagten, Genossen Lebit, bekannt.
Von Odessa aus reiste ich dann im Auftrag des Auslands-Büros des Zentralkomitees im November 1908 über Kamenetz-Podolsk nach brauchte.
Zugleich lehnte es der Vorstand der SPP und L ab, in das Organisationskomitee des „Augustblocks" einzutreten, und an der Konferenz, die dieser im August 1912 nach Wien einberufen hatte, teilzunehmen.
Da ich der Ansicht war, dass wir durch die Vertreter der Ortsgruppen der Sozialdemokratie Polens und Litauens einen Druck auf den Vorstand der „Sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens" hätten ausüben können, damit dieser an den zentralen Körperschaften der RSDAP mitarbeite, so erklärte ich mich mit den Argumenten des Genossen Lenin nicht einverstanden. Darauf erklärte mir Genosse Lenin, dass ich in diesem Falle nicht länger an der Arbeit eines Bevollmächtigten der zentralen Körperschaften der Partei teilnehmen könnte, und da dies mit meinem Wunsch, in einen Betrieb zu gehen, zusammenfiel, wurde vereinbart, dass ich nach Moskau oder Petersburg reisen und mich den dortigen Ortsgruppen zur Verfügung stellen sollte. Ich bekam die Petersburger Adresse des Genossen A. Jenukidse (mit Moskau hatte ich selbst Beziehungen) und reiste zunächst nach dem Süden Russlands, um einen Auftrag des Auslandsbureaus des Zentralkomitees auszuführen.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur