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Hans O. Pjatnizki - Aufzeichnungen eines Bolschewiks (1925)
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Wieder im Ausland (1908-1912)

Ich hatte den Auftrag bekommen, den Transportapparat der Genossen in Lemberg kennen zu lernen, die sich das Ziel gesetzt hatten, den Süden Russlands mit revolutionärer sozialdemokratischer Literatur zu versorgen, die von neuem im Auslande zu erscheinen begann. Nur mit großer Mühe gelang es mir, die Lemberger Genossen ausfindig zu machen, denn der Treffpunkt, der mir von der Genossin Krupskaja in einem chiffrierten Brief mitgeteilt worden war, als ich im Kownoer Gefängnis saß, war nicht richtig dechiffriert worden (wir lasen Senatoritsche anstatt Lenartowitsche Straße). Nachdem ich mich mit der Organisation des Transports gründlich vertraut gemacht hatte, stellte ich fest, dass uns der Transport der Literatur pro Pud zu teuer zu stehen komme und dass in Russland zum Empfang der Literatur ein allzu komplizierter und allzu großer Apparat nötig sein werde. Außerdem war es ganz ungewiss, ob die Literatur auch wirklich schnell genug den Bestimmungsort erreichte. Als ich diese meine Ansicht dem Auslandsbüro des Zentralkomitees mitteilte, forderte man mich auf, nach Genf zu kommen. Unterwegs machte ich bei polnischen Genossen in Krakau halt. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, so traf ich dort den Genossen Ganetzki, dem ich alles mitteilte, was ich an Aufträgen für die polnischen Genossen hatte. In Krakau fand ich auch den Genossen Gurski, den ich seit der Flucht aus dem Kiewer Gefängnis nicht mehr gesehen hatte. In Wien kam ich morgens an, der Schweizer Zug aber ging erst nachmittags. Deshalb begab ich mich zu Ljowa (Anm.: Wladimirow), der sich in Wien niedergelassen hatte. Von ihm erfuhr ich, wer von unseren gemeinsamen Bekannten sich im Auslande aufhielt und was überhaupt in den ausländischen Parteikreisen vor sich ging. Es stellte sich heraus, dass sich unter den Bolschewiki in bezug auf die Stellungnahme zu den Wahlen zur Dritten Duma Meinungsverschiedenheiten ergeben hatten. In der Tat herrschte damals unter den Bolschewiki über diese Frage keine einheitliche Auffassung.
Ich entsinne mich, dass im Jahre 1907, kurz vor der zweiten Reichskonferenz der Partei, ein Sammelheft von Aufsätzen für und gegen die Beteiligung der Sozialdemokraten an den Wahlen erschienen war. Genosse Lenin war für, Bogdanow gegen die Beteiligung an den Wahlen. Nachdem die Partei aber einen Beschluss gefasst hatte, beteiligten sich die Bolschewiki geschlossen an den Wahlen. Für mich war es in jenem Augenblick unklar, warum diese Frage wieder aufgeworfen worden war, da wir bereits längst eine Fraktion in der 3. Duma hatten.
Auf der Reise von Wien nach Genf kam ich durch die Tiroler Alpen. Auch in späteren Jahren kam ich wiederholt durch die herrlichen und stillen Tiroler Berge, und immer wieder zogen sie mich durch ihre majestätische Schönheit und Ruhe an. Im Herbst 1908 aber, als ich nach der erschöpfenden und entnervenden Arbeit in Moskau und nach der letzten besonders schweren Haft nach Genf reiste, lösten die Alpen in mir ein Gefühl der Demut aus. Ich dachte damals: kann denn die Menschheit wirklich nicht ohne die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne Krieg und ohne Klassenkampf auskommen? Diese Stimmung hielt indessen nicht lange an. Kaum war ich in Genf angekommen, als ich auch schon die Tiroler Berge vergaß und mich über die Parteivorkommnisse der letzten sechs Monate zu informieren anfing.
In Genf traf ich Lenin, Krupskaja, M. J. Uljanowa, Sinowjew (den ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte), Innokenti, Viktor Taratuta (damals Sekretär des Auslandsbüros) und Otzow-Schitomirski. Dieser wohnte in Paris, und man hatte ihn extra nach Genf kommen lassen, damit er mir die Geschäfte übergeben solle. Mit Schitomirski war ich sehr befreundet. Als ich zur Zeit der Vorbereitung des 3. Parteitages wegen der Bespitzelung in Berlin meine Wohnung aufgeben musste, zog ich zu ihm. Er half mir bei meiner Arbeit; ich diktierte ihm meine deutschen Geschäftsbriefe und sehr oft auch die russischen, da ich eine sehr schlechte Handschrift habe. Vor meiner Abreise nach Russland im Jahre 1905 hatte ich ihm und Getzow alle Verbindungen des Transportapparates übergeben.
Als nun die Parteiorgane wieder im Ausland erscheinen sollten, hatte Schitomirski noch vor meiner Ankunft den Auftrag bekommen, alle alten Beziehungen wieder aufzunehmen. Das war ihm aber nicht gelungen, da er über keine persönlichen Bekanntschaften verfügte und hier nach einer mehr als zweijährigen Unterbrechung der Literatursendungen die Beziehungen sowohl zu den Deutschen als auch zu den Bauern auf der russischen Seite in persönlicher Weise angeknüpft werden mussten. Er hatte versucht, an die Grenze zu reisen und dort zu arbeiten, aber man hatte kein Vertrauen zu ihm. Auch die Versicherung, dass er früher immer mit mir zusammen gearbeitet habe, half ihm nichts. In Genf empfing mich Schitomirski in sehr herzlicher Weise, besorgte mir eine Wohnung und informierte mich gleichzeitig auch über alles, was er zur Ingangbringung des Transportapparates unternommen hatte. Auf meine Frage, warum er denn nicht in Berlin wohne, da doch von dort aus die Grenzen leichter zu erreichen seien und das Arbeiten einfacher wäre, erzählte er mir, was alles während meines Aufenthalts in Russland in Berlin geschehen war. Seinen Erzählungen zufolge sollte die Berliner Polizei eine Versammlung russischer Sozialdemokraten ausgehoben haben Jemand von den Anwesenden hätte dabei die Adresse unseres Literaturlagers und die Adresse des Hotels, in dem Genosse Kamo zu jener Zeit logierte, fortgeworfen. Bei der Haussuchung in unserem Lager seien einige Pakete mit Pistolen sowie Literatur gefunden worden. Bei dem Genossen Kamo habe man einen Koffer mit Doppelboden gefunden, in dem Dynamit versteckt war (Anm.: In der Anmerkung 1 zu dem Brief Axelrods an Martow vom 7. 12. 07, Nr. 62 und in der Anmerkung 1 zum Briefe Martows an Axelrod vom 5. 1. 08, Nr. 65. schreiben die Herausgeber der Korrespondenz zwischen Axelrod und Martow, dass der Sprengstoff zum Überfall auf das Bankhaus von Mendelsohn angefertigt worden war. (Siehe „Materialien zur Geschichte der Revolutionsbewegung", Band 1 „Briefe P. B. Axelrods und J. O. Martows", Russ. Rev.-Archiv, Berlin.) Diese Mitteilung der Herausgeber ist nicht richtig. Der Sprengstoff war. wie ich später feststellen konnte, für den Kaukasus bestimmt gewesen Der Genosse Kamo wurde lange Zeit in preußischen Gefängnissen festgehalten Um nicht nach Russland ausgeliefert zu werden, simulierte er ausgezeichnet eine Geistesstörung, so dass alle Spezialisten Deutschlands ihn für nicht normal erklärten. Trotzdem wurde er der Zarenregierung ausgeliefert, die ihn in eine Nervenheilanstalt steckte, aus der er wohlbehalten entkam. Genosse Kamo hat auch aktiv am Bürgerkrieg teilgenommen. Er ist vor kurzem im Kaukasus auf tragische Weise ums Leben gekommen.). Und da man — erklärte mir Schitomirski — bei dem Genossen Kamo auch eine Visitenkarte von ihm gefunden habe, so habe er Berlin verlassen müssen. Auch mir riet Schitomirski davon ab, nach Berlin zu gehen, weil es dort in polizeilicher Hinsicht schwerer als früher sei. In einem Hotel sei „Papachen" verhaftet und ausgewiesen worden, und mich suche man immer noch. Jetzt unterliegt es nicht mehr dem geringsten Zweifel, dass die Verhaftungen, die damals im Auslande unter den Bolschewiki vorgenommen worden waren, alle auf Schitomirski zurückzuführen sind, aber damals war er noch über jeden Verdacht erhaben.
Einige Tage nach meiner Ankunft in Genf ging ich zu einem Vortrag von Alexinski. An das Thema seines Referats erinnere ich mich nicht mehr, aber er redete viel von der 3. Duma und der Tätigkeit der sozialdemokratischen Dumafraktion. Nach seiner Meinung führte die Fraktion der 3. Duma keine klare proletarische Klassenlinie durch und diskreditierte nur durch die Reden ihrer Mitglieder unsere Partei. Daraus zog er den Schluss, dass der Fraktion ein Ultimatum gestellt werden müsste, mit einer Aufforderung, die Parteilinie streng innezuhalten. Im Falle einer Ablehnung dieser Forderung sollte die Fraktion aus der Duma abberufen werden. Nach dem Referat fand eine lebhafte Debatte statt, an der sich auch Menschewiki beteiligten. Sehr heftig trat dem Referenten Alexinski der Genosse Innokenti entgegen. Das war wohl das erste öffentliche Auftreten des Zentralkomitees oder der bolschewistischen Zentrale gegen einen Teil der Bolschewiki. (Alexinski, Lunartscharski, Bogdanow, Ljadow und andere hatten sich zu einer besonderen Gruppe mit einer eigenen Zeitschrift, dem „Wperjod" [„Vorwärts"], zusammengeschlossen, nachdem die bolschewistische Zentrale zwischen sich und diesen Genossen einen Trennungsstrich gezogen und ihren Otsowismus-Ultimatismus (Anm.: Vor den Wahlen zur 3. Staatsduma (1907) entstand unter einem Teil der Bolschewiki eine Strömung für den Boykott dieser Wahlen, wobei die Motive für diese Taktik mechanisch aus der Zeit der Bulyginschen und der 1. Duma übernommen wurden. Nach der Wahl von Sozialdemokraten in die 3. Duma bildeten sich unter den Bolschewiki zwei Strömungen heraus. Die eine hielt es für notwendig, überhaupt auf die Ausnutzung der Dumatribüne zu verzichten und die Fraktion abzuberufen, (deshalb wurden sie Otsowisten getauft) und die andere forderte, dass man es erst noch einmal mit einem Ultimatum an die Fraktion versuchen solle (daher der Name Ultimatisten). Von der Auffassung ausgehend, dass nach der Niederlage der Revolution im Jahre 1905 die Hauptaufgabe der Partei in der Sammlung aller revolutionären Kräfte des Proletariats und der Ausnutzung aller legalen Möglichkeiten, auch der Dumatribüne, bestehe, kämpften die Bolschewiki mit dem Genossen Lenin an der Spitze aufs schärfste gegen diese Abweichungen.), ihren Machismus und ihre „Gottsucherei" verurteilt hatte. Das geschah Mitte 1909.) Der Genosse Innokenti gab in seiner Entgegnung zu, dass die Tätigkeit der Fraktion in der Duma keine besonders glückliche war, und verurteilte das Streben der Dumafraktion nach Unabhängigkeit vom Zentralkomitee der Partei, vertrat aber die Auffassung, dass man die Haltung der Fraktion nicht durch ein Ultimatum oder durch Abberufung ändern müsse, sondern dadurch, dass das Zentralkomitee die politische Richtung der Fraktion bestimme und an ihrer Tätigkeit offen Kritik übe. Ein Verzicht auf die Teilnahme an der Duma, führte er aus, würde eine schädliche Wirkung auf die Interessen der Arbeiterklasse Russlands haben, da für die Partei die Ausnutzung selbst der 3. Duma von großer Wichtigkeit sei. Die Erfahrung zeigte später, dass die Fraktion der 3. Duma am Schluss ihrer Wirksamkeit ihre ursprüngliche politische Linie immerhin etwas änderte und einige Bolschewiki, die zu ihr gehörten, der Genosse Poletajew z. B., haben der Partei große Dienste geleistet. Genosse Poletajew hat sehr viel zur Schaffung der „Swesda" und der „Prawda" beigetragen.
Nachdem ich mich mit allen Dingen vertraut gemacht hatte, die zum Transport von Literatur gehörten (Ich brachte in Erfahrung, in welcher Auflage der „Proletari" gedruckt wurde, welche Broschüren zum Versand nach Russland da waren, wie die Expedition eingerichtet war, usw.), wurde beschlossen, dass ich zur Übernahme des Transportapparates wieder nach Deutschland reisen und mich in Leipzig niederlassen sollte. Man gab mir den Auslandspaß eines Studenten Raschkowski, den ich aber sofort nach meiner Ankunft in Leipzig fortwerfen musste, da es sich herausstellte, dass Raschkowski selbst in Leipzig lebte und dass ich außerdem bei der polizeilichen Anmeldung den Mädchennamen der Mutter und ähnliche Details hätte angeben müssen, über die ich gar nicht unterrichtet war. Wäre es mir nicht gelungen, gleich nach meiner Ankunft in Leipzig festzustellen, dass Raschkowski dort wohnte, so hätte ich bei der polizeilichen Anmeldung infolge Angabe von sich widersprechenden Personalien verhaftet werden können.
Ende Dezember 1908 war ich auf einer Reise nach der Grenze in Leipzig abgestiegen. Da ich dort unter den deutschen Genossen Bekannte hatte, war es mir leicht, ein Zimmer und eine Adresse für Briefe zu finden, die ich sofort nach Genf mitteilte. Nach meiner Ankunft in Königsberg stieg ich beim Sekretär der sozialdemokratischen Organisation, dem Genossen Linde, ab. Von ihm und von Haase erfuhr ich, welche Veränderungen in den im Grenzgebiet gelegenen sozialdemokratischen Ortsgruppen vor sich gegangen waren; ich nahm von ihnen Empfehlungsbriefe an sozialdemokratische Genossen mit und reiste nach den früheren Grenzübertrittsstellen ab. Sehr schnell stellte ich mit Leichtigkeit alle früheren Verbindungen für den Literaturtransport und für Beförderung von Genossen über die Grenze wieder her.
Nach Leipzig zurückgekehrt, ging ich vor allen Dingen an die Organisation der ausländischen Seite der Arbeit. Im Gebäude der „Leipziger Volkszeitung" stellte man mir eine Dachkammer zur Verfügung; ich richtete dort ein Lager unserer Literatur ein und bereitete alles für den Versand vor. Alle Packmaterialien bestellte ich durch die Expedition der Zeitung. Die technischen Leiter der „Leipziger Volkszeitung" — Max Seifert und Lehmann — erlaubten mir, unsere Literatur, die zuerst aus Genf und später aus Paris kam, auf ihren Namen abzusenden. Ihre Anschriften benutzte ich auch für Geldsendungen und Auslandsbriefe. Für Briefe aus Russland wurden mir eine Menge Adressen von Funktionären der Leipziger sozialdemokratischen Ortsgruppe zur Verfügung gestellt, die fast alle bei der „Volkszeitung" beschäftigt waren. Die Adressaten brachten nun die aus Russland kommenden Briefe täglich dem Genossen Max Seifert, und ich holte sie mir ebenfalls alltäglich von ihm ab. Konnte ich es einmal nicht, so brachte sie mir mein Wirt, der ebenfalls ein aktiver Sozialdemokrat war und geschäftlich mehrmals am Tage bei Max Seifert zu sein pflegte. Nun brauchte ich nur noch Treffpunkte für die aus Russland und aus dem Auslande kommenden Genossen sowie einige Wohnungen ausfindig zu machen. Aber auch mit dieser Aufgabe war ich bald fertig. Den Treffpunkt für die Genossen, die im Ausland lebten, richtete ich im Volkshaus ein. Dort gab es auch eine Art von Hotel, wo die ankommenden Genossen ein paar Tage bleiben konnten. Dieses Hotel war sehr gut. Für die Genossen aber, die länger bei mir bleiben mussten, war es zu teuer, und so hatte ich für sie eine Reihe von Zimmern in Privatwohnungen ausfindig gemacht, für die ich an den Tagen, an denen sie bewohnt wurden, bezahlte. Als Treffpunkte für die aus Russland Kommenden hatte ich ebenfalls bestimmte Privatwohnungen ausgesucht. Mit diesen Treffpunkten stand ich stets in telefonischer Verbindung durch meinen Wirt, der ein Telefon im Hause hatte. Von 1909 bis 1912 suchten mich zahlreiche Genossen auf, von denen viele jetzt zu den aktivsten Funktionären unserer Partei und der Sowjetmacht gehören. Man muss berücksichtigen, dass sowohl die Genossen, die mit dem Literaturversand zu tun hatten, als auch diejenigen, die mich aufzusuchen pflegten, für die sächsische Polizei nichts anderes als Verbrecher waren. Sie wohnten unangemeldet, und auch ich selbst musste eine geraume Zeit ohne polizeiliche Anmeldung leben, bis ich mir einen geeigneten Auslandspaß verschafft hatte.
Von der Leipziger Russischen Kolonie, die ziemlich groß war und sich hauptsächlich aus Studenten der nationalen Minderheiten Russlands zusammensetzte, hielt ich mich möglichst fern. Nur mit Max und Alexandra Saweljew, die damals in Leipzig studierten, traf ich mich des öfteren. Schlecht war es um die Organisation des Transportapparates in Russland selbst bestellt. Unweit der deutsch-russischen Grenze Literatur abzuholen, diese nach irgendeiner größeren russischen Stadt zu schaffen und dann von dort in allen möglichen Formen an die Ortsgruppen zu versenden — war im Jahre 1909 eine sehr schwere Sache. Das Zentralkomitee setzte mich mit einigen Genossen in Verbindung, die in Wilna wohnten (Sascha — Alexander Strumin —, der vor kurzem verhaftet und wegen Mitarbeit an der Ochrana in Wilna unter Anklage gestellt wurde, ferner Sonja Krengel) und den Auftrag hatten, die erwähnte Funktion zu übernehmen. Nun setzte ich diese Genossen in Verbindung mit den Leuten, von denen sie die Literatur empfangen sollten, und begann diese abzusenden, ohne zu warten, bis der Apparat der Transportorganisation in Russland fertig sein werde. Aus verschiedenen Gründen war es den Wilnaern nicht gelungen, die ihnen übertragene Aufgabe zu lösen, und ich musste infolgedessen den Versand der Literatur nach Russland (wenigstens in geringen Mengen) wieder mittels „Panzer" und Koffer mit Doppelböden aufnehmen. Auf diese Weise gelang es mir damals beträchtliche Mengen Literatur in Spezialkoffern nach Russland zu befördern. Die heimreisenden Genossen brachten die Drucksachen nach Petersburg und Moskau bzw. nach den Zielpunkten ihrer Reise. Sehr oft wurde auch alles den Wilnaern zugeschickt, die dann die weitere Verbreitung in Russland selbst besorgten.
Schließlich verlangte ich, dass mir für die Transportarbeit innerhalb Russlands ein verantwortlicher Genosse mit Unternehmungsgeist zugeteilt werde, der nicht einfach dasitzen und warten sollte, sondern selbst imstande sein musste, an die Grenze zu reisen und mit den Schmugglern zu verhandeln, die für uns arbeiteten. Für diese Arbeit wurde Genosse Sefirllja (Sergej Moissejew) bestimmt, der zu Beginn des Sommers 1909 zu mir nach Leipzig kam. Wir arbeiteten den weiteren Arbeitsplan aus, worauf er nach Russland reiste, um den dortigen Apparat zur Weiterleitung der Literatur in Gang zu bringen. Im Juni desselben Jahres kam Genosse Sefir wieder zu mir nach Leipzig, und wir reisten beide nach Tilsit, wo wir bereits von den Leuten erwartet wurden, die es übernommen hatten, die Literatur nach Russland zu schaffen. Der Genosse Sefir erhielt von den Schmugglern die Adressen, unter denen man sie in Russland finden konnte, und reiste sofort dorthin ab. Nun ging die Sache auf einmal vorwärts.
Von allen Verbindungen, die wir damals hatten, behielten wir nur die solidesten: den Schmuggler Ossip, einen litauischen Bauer, der einen ziemlich großen Hof hatte, und Nathan, einen Einwohner von Suwalki. Der erste holte mit seinen Leuten die Literatur in Paketen aus der Druckerei von Mauderode in Tilsit ab und brachte sie in die Dörfer, die in der Nähe der Eisenbahnstationen Schaulen und Radsiwilischki auf der ehemaligen Kowno-Libauischen Eisenbahnlinie lagen. Dort wurde die Literatur bereits von Genossen des russischen Transportapparates abgeholt. Ossip nahm nicht viel — 18 bis 22 Rubel pro Pud, dafür aber brachte er nie weniger als vierundeinhalb Pud über die Grenze (3 Pakete von je anderthalb Pud, die so eingepackt waren, wie ich es bei der Schilderung meiner Arbeit vor 1905 bereits beschrieben habe.) Das war sein Minimum (1904 und 1905 transportierte er bis zu zehn Paketen auf einmal), aber die Prozedur der Beförderung von Tilsit in ein russisches, weit von der Grenze gelegenes Dorf war doch eine ziemlich umständliche. Obwohl Ossip am zuverlässigsten von allen arbeitete, war diese Grenzstelle für uns doch von geringer Bedeutung, denn wir schafften von hier aus hauptsächlich unser periodisches Organ „Proletari" nach Russland, das zwar nicht regelmäßig erschien, immerhin aber vom langen Liegen an der Grenze viel an Aktualität einbüßte. Nathan dagegen schaffte die Literatur sehr schnell über die Grenze, beschränkte sich aber jedesmal auf ein Paket von anderthalb Pud. Wir nannten diese Beförderung „Express"; denn im Laufe von einigen Tagen brachte er unser Paket aus Goldap in Preußen, wohin wir die Literatur sandten, nach Grodno oder unweit davon. Für einen solchen Transport gaben wir gern auch 35—40 Rubel pro Pud aus. Nathan selbst, den ich von Zeit zu Zeit sah, machte den Eindruck eines Menschen, der halb Idealist und halb Schmuggler war. Mit uns arbeitete er ehrlich zusammen und leistete uns große Dienste. Obwohl wir zum Grenzübertritt eine gute Stelle zwischen Schtschutschin und Grajewo hatten, schmuggelten wir unsere Genossen von und nach Russland auch mit Hilfe Nathans über die Grenze. Da Grodno und Augustowo, die sie passieren mussten, sehr belebte Punkte waren, so hatte das den Vorteil, dass die Genossen unbemerkt hindurchreisen konnten.
Beide Grenzstellen arbeiteten mit einem kleinen Apparat. Für den „Expresstransport", der damals hauptsächlich in Tätigkeit war, wurde in Grodno eine Genossin stationiert (K. J. Lebit — die Frau P. Lebits, mit dem ich zusammen im Odessaer Gefängnis gesessen hatte; er selbst war 1910 auch einige Monate lang beim Transport in Grodno tätig gewesen). Sowohl die Organisation als auch alle Verbindungen, von denen ich oben sprach, bestanden unverändert bis 1913, obwohl inzwischen in Russland bereits die legale Zeitung „Prawda" zu erscheinen begann.
Die ausländische Parteiliteratur gelangte nun in großen Mengen und regelmäßig nach Russland. Der Transportapparat arbeitete ununterbrochen bis Mitte 1910. Der Genosse Sefir hatte sein Hauptquartier in Minsk aufgeschlagen, (in der Korrespondenz pflegten wir Minsk stets als Morschansk zu bezeichnen), musste aber sehr oft geschäftlich nach Moskau und Petersburg reisen. Im Sommer 1910 wurde er in Moskau verhaftet. Wir begannen uns nach einem Stellvertreter umzusehen, da der Transportapparat durch die Verhaftung Sefirs nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Da erhielten wir einen Brief von Matwej Brindinski (der, wie sich später herausstellte, ein Lockspitzel war), in dem er uns mitteilte, dass er auf Verlangen des Genossen Nogin, der damals im Russischen Büro des Zentralkomitees tätig war, ins Ausland kommen werde. Der Brief Matwejs gefiel mir nicht. Er hatte ihn mit einer besonders präparierten Tinte geschrieben, aber unchiffriert; er teilte in dem Schreiben mit, dass er dann und dann Petersburg verlassen werde und dass wir ihn erwarten sollten. Zu diesem Zweck gab er eine Beschreibung seines Äußern. Ich habe damals sofort von diesem Brief dem Genossen Mark (Ljubimow) Mitteilung gemacht, der in Paris lebte und den ganzen technischen Apparat des Auslandsbüros des Zentralkomitees leitete. Mark äußerte sich damals dahin, dass Matwej diesen Brief nur aus Unerfahrenheit so geschrieben hätte. Als Matwej eintraf, stellte es sich heraus, dass Makar-Nogin ihn zum Stellvertreter Sefirs bestimmt hatte. Außer dem Genossen Nogin empfahlen ihn auch die Genossin M. J. Tomskaja und andere. Matwej arbeitete seit 1909 als Berufsrevolutionär; nach seiner Flucht aus der Verbannung in Tobolsk war er in Petersburg und Moskau tätig, anfangs als Sekretär und Organisator verschiedener Bezirke, später als Bevollmächtigter und Leiter des Passbüros des Zentralkomitees. Nach der Verhaftung des Genossen Sefir ernannte ihn das Russische Büro des Zentralkomitees zum Leiter des Transports in Russland. Ich setzte Matwej mit den Genossen in Verbindung, die bereits beim Transport in Russland gearbeitet hatten. Nach Russland zurückgekehrt, nahm er sich den Genossen Valerian (Saleschski) zum Stellvertreter, und Genosse Valerian war es, der tatsächlich die ganze Arbeit machte, während Matwej nur die Korrespondenz mit mir und dem Russischen Büro des Zentralkomitees und seinen Bevollmächtigten führte. Der Wohnort Matwejs war Dünaburg, Genosse Valerian aber wohnte in Gomel und in Nowosybkowo. Zu Beginn der Tätigkeit Matwejs ging alles ganz gut: die Literatur traf ein und wurde pünktlich in Russland verbreitet. Aber später bekamen die Organisationen in Russland die Literatur entweder gar nicht oder recht selten, obwohl wir die Literatur an die Grenze schafften und alles von dort abgeholt wurde. Ich zahlte den Schmugglern nämlich erst, nachdem ich von ihnen und von Matwej die Nachricht bekam, dass die Literatur von der Grenze abgeholt worden war. Wegen dieser Unregelmäßigkeiten rief ich Matwej wiederholt ins Ausland. Er kam, wir arbeiteten Pläne aus, wie man die Literatur am schnellsten und sichersten befördern könne, und in der ersten Zeit nach Matwejs Rückkehr nach Russland klappte auch alles einigermaßen. Dann aber begann die Literatur von neuem irgendwo zu verschwinden. Später stellte es sich heraus, dass der Hauptteil der hinüberbeförderten Literatur von Matwej an die Moskauer Gendarmerieverwaltung und ans Polizeidepartement geschickt worden war. Im Jahre 1911 schrieb ich ihm, dass wir die ganze Transportorganisation in Russland wegen ihrer Untätigkeit auflösen würden, wenn die Maiflugblätter, die vom Zentralorgan herausgegeben worden waren, nicht rechtzeitig diesen und jenen Organisationen zugestellt werden sollten. Das Ergebnis war erstaunlich: die ganze Auflage war zur rechten Zeit an Ort und Stelle. Ende 1911 forderte ich auf Grund des Materials, das sich bei mir angehäuft hatte, die Enthebung Matwejs von seinem Posten. Obwohl ich keine direkten Beweise gegen ihn hatte, beschuldigte ich ihn des Spitzeltums und verlangte, dass er nicht zur Teilnahme an der Parteikonferenz vom Jahre 1912 zugelassen werde.
Ich glaube, es dürfte nicht überflüssig sein, wenn ich dem Leser erkläre, wie ich auf den Gedanken kam, dass Matwej ein Lockspitzel war. Über den ersten seltsamen Brief, den ich von ihm aus Petersburg bekam, habe ich bereits erzählt. Dieses Schreiben hatte bei mir einen üblen Eindruck hinterlassen. Ferner befremdete mich, dass der russische Transportapparat nicht aufflog, dass die Literatur zwar immer richtig in Russland eintraf, aber die Ortsgruppen nicht erreichte und irgendwohin verschwand Und schließlich: als ich mit der Auflösung der russischen Organisation gedroht hatte, da war das Maiflugblatt schnell und pünktlich den Organisationen zugestellt worden. Auch wunderte es mich, dass Matwej stets mit Auslandspässen versehen ins Ausland kam, denn in den Jahren der schlimmsten Reaktion konnte nicht jeder illegale Funktionär sich den Luxus eines Auslandspasses leisten. Im August 1911 war Matwej bei mir in Leipzig. Zur gleichen Zeit kam auch Genosse Mark aus Paris zu einer gemeinsamen Beratung. Vor der Abreise übergab mir Matwej seine Abrechnung. In dieser Abrechnung war unter den Ausgaben ein Posten von 100 Rubel enthalten, den Matwej jemand zurückgegeben haben wollte. Auf meine Bemerkung hin, dass in diesem Falle die 100 Rubel ja auch unter den Einnahmen vermerkt sein müssten, nahm Matwej, ohne im geringsten verlegen zu werden, die Abrechnung wieder an sich, und am nächsten Tag figurierten die 100 Rubel bereits unter den Einnahmen, dafür aber hatten sich die Ausgaben um 140 Rubel vermehrt. Diese Geschichte empörte mich außerordentlich. Ich nahm die Abrechnung nicht an und forderte ihn auf, mir eine ordnungsmäßige Abrechnung mit allen Belegen einzusenden. Es war mir nun so klar, dass Matwej nicht ganz sauber war, dass ich mich zu dem Genossen Rykow begab, der sich in Leipzig aufhielt und zusammen mit Matwej nach Russland reisen wollte, und ihm den Fall mit der Abrechnung erzählte. Ihm sagte ich, dass ich gegen seine Reise mit Matwej sei, und Matwej teilte ich mit, dass Rykow in Leipzig bleiben werde.
Genosse Rykow wurde sofort nach seiner Ankunft in Moskau verhaftet. Die bei ihm vorgefundenen chiffrierten Adressen dechiffrierte die Polizei und nahm eine Unmenge Verhaftungen vor. Die Moskauer Zeitungen schrieben damals, dass Genosse Rykow endlich ertappt worden sei und nunmehr vors Gericht gestellt werden würde. Sofort nach der Verhaftung schrieb mir Matwej, dass man den Genossen Rykow wahrscheinlich nach Sibirien bringen werde. Nachdem Genosse Rykow nach Russland abgereist war, teilte mir Genosse Sagorski mit, dass Matwej dem Genossen Rykow bei der Chiffrierung der Adressen geholfen hatte. Ich sagte mir gleich, dass Matwej, nachdem er Rykow verraten hatte, vor den Folgen, die diese Verhaftung für ihn, Matwej, haben konnte, offenbar erschrocken war und daher darauf bestanden habe, dass man den Genossen Rykow nur nach Sibirien abschiebe. Und als ich schließlich 1912 von dem zur Januarkonferenz gekommenen Delegierten der Wilnaer und Dünaburger Parteiorganisationen, dem Genossen Gurwirtsch, erfuhr, dass Matwej im Oktober 1911 in Dünaburg verhaftet und sofort freigelassen worden war, worüber er selbst mir nichts mitgeteilt hatte, da stand es für mich endgültig fest, dass er ein Lockspitzel war. Ich telegraphierte sofort an die Genossin Krupskaja und ersuchte sie, den Kerl nicht zur Konferenz zuzulassen. Ich hatte zufällig erfahren, dass er sich zu dieser Konferenz nicht über Leipzig, sondern direkt nach Paris begeben hatte, um ja nicht mit mir zusammenzutreffen, da er wohl schon fühlte, dass ich ihm nicht recht traute. Der Brief, den ich gleich nach dem Telegramm abschickte und in dem alle von mir geschilderten Tatsachen enthalten waren, hatte wahrscheinlich seine Wirkung nicht verfehlt, denn Matwej wurde zur Konferenz nicht zugelassen. Er protestierte gegen meine Beschuldigungen, und die Sache wurde zur Klärung Burzew übertragen, der die Richtigkeit der erhobenen Beschuldigungen prüfte. Vor meiner 1913 erfolgten Abreise nach Russland wurden ich und der Genosse Sefir (Moissejew) von Burzew in der Sache Matwejs vernommen. Sowohl Sefir als auch ich waren fest davon überzeugt, dass der Bursche ein Lockspitzel war.
Im Jahre 1917 gelang es auf Grund der Dokumente der Moskauer Ochrana, die M. A. Zjawlowski unter dem Titel „Bolschewiki" veröffentlichte, festzustellen, dass Matwej eine große Rolle gespielt hatte und seit 1909 einer der gemeinsten Lockspitzel war. Er beschränkte sich nicht auf den Verrat vieler Literaturtransporte, auf die Verhaftung vieler Mitglieder des Zentralkomitees und der russischen Organisationen, sondern lieferte sogar politische Berichte über den Bolschewismus. Übrigens glaube ich, dass nicht er selbst, sondern die Gendarmen diese Berichte auf Grund seiner Angaben abfassten. Matwej war meiner Ansicht nach ein politischer Analphabet.
Dieser eine Spitzel Matwej hatte also eine große Menge von Parteimitteln vernichtet, eine Unmasse Anstrengungen der Parteifunktionäre zuschanden gemacht und die Arbeiter der Möglichkeit beraubt, ihre revolutionäre Literatur zu lesen!...
Nach der Beseitigung Matwejs Ende Dezember 1911 setzte ich mich mit dem Genossen Valerian in Verbindung. Wir wechselten die Treffpunkte, ein wenig auch das Personal, und der Transport begann wieder gut zu funktionieren. Seit 1912, d. h. seit dem Wiederaufleben der Arbeiterbewegung in Russland und dem legalen Erscheinen der „Prawda", verlor der Transport seine Bedeutung, und der Bezug von Literatur aus dem Ausland wurde immer geringer.
Da ich hier meine Arbeit in Leipzig schildere (1909 bis 1912), so dürfte es nicht überflüssig sein, kurz auf die Entstehung und Tätigkeit der Leipziger „Gruppe zur Unterstützung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" in dieser Periode einzugehen.
Ich erwähnte bereits, dass ich mich nach meiner Ankunft in Leipzig von den dort studierenden Russen fernhielt. Emigranten gab es dort nur sehr wenige. Das waren hauptsächlich Arbeiter, die in den Betrieben und Fabriken arbeiteten. Mit ihnen kamen wir später in engen Kontakt. Die Studenten hatten ihren eigenen Klub, eine Bibliothek, einen Lesesaal und eine Speisehalle, in der immer Russen anzutreffen waren. Die einzigen Genossen, die mich mit den Studenten hätten in Verbindung bringen können, waren die Saweljews. Aber sie reisten bald nach meiner Ankunft auf ein halbes Jahr nach München. Mitte Sommer 1909 kam N. S. Marschak nach Leipzig und begann die russischen Studentenorganisationen zu besuchen. Unter den Studenten gab es Anhänger der Mehrheit und der Minderheit der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Mitglieder der polnischen Sozialdemokratie und des „Bund".
Auf Veranlassung von N. Marschak wurde nun eine Gruppe gebildet, der die Saweljews, der Marschak, ich, die Studenten Brachmann und Brodski und außerdem die Menschewiki London und Rjasanski beitraten. Die Bundisten und die Mitglieder der „Sozialdemokratie Polens und Litauens" hatten bereits ihre Unterstützungsgruppen. Zu der Gruppe des „Bund" gehörten: Spectator (Nachimsohn), die Eheleute Bakst, Rabinowitsch und andere; zu der polnischen Gruppe: Radek, Bronski, Mucha und andere. Nach der Konstituierung unserer Gruppe gründeten die Menschewiki eine eigene Unterstützungsgruppe. Ich erinnere mich noch an Pjotr Ramischwili, Kaplun, Babajew (den Kaukasier) u. a. Nach der Auslandstagung des Plenums des Zentralkomitees der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu Beginn des Jahres 1910, als zwischen allen Teilen der Partei ein Abkommen (darüber später!) getroffen worden war, traten die Mitglieder der menschewistischen Gruppe mit Ausnahme von Pjotr Ramischwili in unsere Gruppe ein. Bei ihrem Eintritt hatten wir uns damit einverstanden erklärt, dass die Mittel, die von der Gruppe aufgebracht wurden, nicht an das Auslandsbüro, sondern direkt nach Russland abgeführt werden sollten. In Leipzig bestanden also drei sozialdemokratische Organisationen. Da keine einzige von ihnen die Mehrheit der russischen Studenten hinter sich hatte, so musste man, um Einfluss zu gewinnen und in alle studentischen Körperschaften sozialdemokratische Vertreter zu entsenden, einheitliche sozialdemokratische Kandidatenlisten aufstellen. Das zwang uns schließlich, eine ständige Körperschaft aus Vertretern aller drei Gruppen zu bilden, um innerhalb der Russenkolonie geschlossen vorgehen zu können, denn ohne die Studentenorganisationen hätten die Unterstützungsgruppen gar nicht existieren können. In der Tat war die Veranstaltung von geselligen Abenden, Referaten usw. auf legalem Wege nur unter der Flagge eines russischen Studentenvereins möglich. Unter den Studenten gab es eine starke Gruppe, die die Unabhängigkeit der Studentenvereine von den sozialistischen Gruppen verteidigte. Als die Gruppe zur Unterstützung der Bolschewiki organisiert wurde, nahm ich sogleich an ihren Arbeiten teil, besuchte aber die studentischen Organisationen selten und trat auf ihren Veranstaltungen nie als Redner hervor.
Was tat die Unterstützungsgruppe für die Partei? Sie verfolgte das Parteileben, veranstaltete Diskussionsabende, an denen Parteifragen durchgesprochen und zu denen Sozialdemokraten aller Richtungen eingeladen wurden. Ich erinnere mich noch an das Referat des Genossen Rykow über das Liquidatorentum in der russischen Sozialdemokratie im Jahre 1911 und an das Referat des Genossen Lunatscharski über innere Parteifragen im Jahre 1912. Die Gruppe veranstaltete auch Vortragsabende. In Leipzig sprach Genosse Lenin im Februar 1912 über Tolstoi, im gleichen Monat hielt Genosse Lunatscharski einen Vortrag über ein literarisches Thema. Ferner organisierte sie Versammlungen aus Anlass des 1. Mai oder der Wiederkehr des 22. Januar, an denen alle Sozialdemokraten teilnahmen, und schließlich vertrieb sie unter den Studenten und vermittels der sozialdemokratischen Buchhandlungen Parteiliteratur: die im Ausland erschienenen Broschüren und die Zeitungen „Proletari", „Sozialdemokrat" und die Petersburger „Swesda". Außerdem veranstaltete die Gruppe Geselligkeitsabende, die stets zur Auffüllung der Parteikasse beitrugen, und sammelte für die Unterstützung der Verhafteten und der Emigranten. Alle drei Gruppen hatten in Leipzig zweifelsohne einen großen ideellen Einfluss auf die dort studierenden Russen.
Ich muss noch hinzufügen, dass ich mit Hilfe der Studenten sowohl der Mitglieder der Gruppe als auch der Sympathisierenden oft in „Panzern" Literatur nach Russland sandte. Als z. B. gleich nach der Januarkonferenz im Jahre 1912 ein Bericht über diese Konferenz erschien, sandte ich ihn aus Leipzig sofort mit dem Mitglied unserer Gruppe, dem Genossen London, nach Russland. Auch nahm ich oft von den Studierenden ihre Pässe und brachte damit verantwortliche Parteigenossen nach Russland. Der Leipziger Unterstützungsgruppe traten sofort nach ihrer Ankunft bei: der Genosse Sagorski, die Genossin Pilatzkaja und der Genosse Lasar (Selikson, jetzt Mitglied der Zentralen Kontrollkommission und Leiter der Arbeiter- und Bauerninspektion in Leningrad). Die Leipziger Unterstützungsgruppe hatte während der ganzen Zeit ihres Bestehens eine kompakte Mehrheit alter Bolschewiki in ihren Reihen und stand sowohl mit der bolschewistischen Zentrale als auch mit anderen ausländischen Gruppen zur Unterstützung der Bolschewiki in engem Kontakt.

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