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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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DIE PARIAS DER REISFELDER

Auch im Norden herrscht der Tagelöhner auf dem Arbeitsmarkt vor. Die Zahl der festen Landarbeiter, die wie das Vieh in den Kasernen der festungsähnlichen Pachthöfe, der Casinali, gehalten werden und die ganz der Willkür des Verwalters ausgeliefert sind, der selbst darüber bestimmt, ob und wann der Landarbeiter in seiner „Freizeit" den Gutshof verlassen kann, geht zurück. Auch bei den Hundelöhnen, die sie erhalten, ist ihre feste Anstellung für die Besitzer zu teuer. Die Herren ziehen es vor, Tagelöhner mit unbeschränkter Arbeitszeit einzustellen, wann sie sie brauchen. Wovon diese Leute in der Zwischenzeit leben, ist ihnen gleichgültig. Hier im Norden ist es auch schon häufig zu Aufstandsbewegungen dieser Sklaven gekommen. Unter den Kommunisten, die allmonatlich zu Dutzenden vom Ausnahmegericht zum Schutze des Staates verurteilt werden, nimmt in der letzten Zeit die Zahl der Landarbeiter aus den nördlichen Provinzen zu.
Hier im Norden gibt es Zustände, die in ihrer Furchtbarkeit noch weit über das graue Elend hinausgehen, in dem die Massen der Landarbeiter und Tagelöhner im Süden leben. In einzelnen Teilen der Po-Ebene wächst Reis, der infolge seiner guten Qualität weltberühmt ist. Das Zentrum der Reiskultur ist das kürzlich in den Stand einer Provinz erhobene Gebiet um Vercelli. Fährt man mit der Eisenbahn von Mailand nach Turin, so sieht man auf beiden Seiten der Strecke unabsehbare Wasserflächen. Es sieht aus, als sei das Land von einer schweren Überschwemmung heimgesucht. Aber das sind nur die Reisfelder. Sie müssen im Frühjahr unter Wasser gesetzt werden. Ist die Erde genügend aufgeweicht, so beginnt die wichtigste Arbeit beim Reisbau, die Säuberung und das Versetzen der Stecklinge. Diese Arbeit muss unter Wasser ausgeführt werden. Sie beginnt im Mai
und muss für die ganze riesige, mit Reis bedeckte Fläche in etwa § einem Monat durchgeführt werden. 150000 Hektar sind gegenwärtig ungefähr in der Po-Ebene mit Reis bestellt. Die Reiskultur ist sehr ergiebig. Die 150000 Hektar Reisland produzieren eine Menge, die gleich der Durchschnittsproduktion von 600000 Hektar Getreideland ist. Das ganze Reisland gehört einigen wenigen Großgrundbesitzern, wird aber praktisch von den mächtigen Generalpächtern bewirtschaftet. In der Nachkriegszeit ist in Gestalt dieser Generalpächter eine starke, neue Bourgeoisie herangewachsen. Sie stellte eine der festesten Stützen der faschistischen Bewegung in jenen Gebieten dar. Diese eigentlichen Herren des Reisbaues, die es verstanden haben, durch eine Herabsetzung ihrer Abgaben an den Großgrundbesitzer und eine ständige Senkung der Löhne ihre Einkünfte außerordentlich zu vermehren, haben in der letzten Zeit immer neue technische Verbesserungen eingeführt. Bei gleichbleibender Aussaatfläche wuchs der Reisertrag von Jahr zu Jahr um viele Hunderttausende von Doppelzentnern.
Für die Saisonarbeit im Frühjahr sind etwa 130000 Arbeitskräfte notwendig. Die an Ort und Stelle vorhandene Landbevölkerung reicht bei weitem nicht aus, insbesondere da die „Mondariso", die Arbeit im Wasser, fast ausschließlich von Frauen ausgeübt wird. Nach altem Brauch steigen im April und Mai Zehntausende von Frauen von den Hügeln und Bergen Emiliens, Friauls und des Aostatales in die Reisgebiete hinunter. Sie gehen nicht allein. Sie werden von „Korporalen" geführt, von gewinnsüchtigen Werbern, die es gegen hohes Entgelt unternehmen, die unerfahrenen Bauersfrauen zu transportieren, sie zu vermieten und in den Baracken zwischen den Reissümpfen unterzubringen. Mit den Frauen gehen die Säuglinge und kleinen Kinder, die sie ja nicht anderthalb Monate lang zu Hause allein lassen können. In den Baracken zusammengepfercht, schlecht ernährt und den „Korporalen" in jeder Beziehung ausgeliefert, hausen hier die Frauen wochenlang und arbeiten vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang, bis an die Knie im Wasser, gebückt und mit den Händen unter Wasser im Schlamm wühlend, auf den überschwemmten Reisfeldern.
In den Jahren unmittelbar nach dem Kriege haben diese Reis-
Kulis unter Führung der Landarbeitergewerkschaft in zähen Kämpfen Schritt für Schritt eine langsame Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen durchgesetzt. Eine der ersten „Taten" der Faschisten von Vercelli war die Zerstörung der Landarbeitergewerkschaft, die Organisierung einer faschistischen Zwangsgewerkschaft und der Abschluss eines neuen „Vertrages", der eine sofortige Senkung der Löhne um zehn bis dreizehn Prozent brachte. Für die Grundherren kamen goldene Tage. Die Bodenpreise stiegen, in Goldlire berechnet, um mehr als das Doppelte. Im selben Maße ging der Anteil der Löhne an den Produktionskosten zurück. Hatten die Löhne (nach den Angaben eines von den Faschisten anerkannten Berichtes von S. Pugliese) im Jahre 1912 27,3 Prozent betragen, so waren sie im Jahre 1925 bereits auf 21,5 Prozent gesunken. Da niemand ernsthaft die Arbeitsbedingungen der Landarbeiter verteidigte, gingen die Unternehmer zu immer neuen Angriffen vor. Im Jahr 1927 erfolgte eine weitere starke Lohnsenkung, durch die die Löhne von durchschnittlich dreiundzwanzig auf achtzehn Lire pro Tag gesenkt wurden. Die Versuche der Landarbeiter, sich durch Streikbewegungen gegen diese Willkür zur Wehr zu setzen, wurden grausam unterdrückt.
Im August vorigen Jahres ordnete die Regierung für das ganze Land neue Lohnkürzungen an, durch die die Löhne „der gesteigerten Kaufkraft der Lira angepasst werden sollen". Am 16. Dezember verkündete Mussolini eine weitere Kürzung der Beamtengehälter und forderte Industrie und Landwirtschaft auf, auch bei sich durch eine acht- bis zwölfprozentige Lohnkürzung „die Gestehungskosten der Produktion herabzusetzen". Die Besitzer der Reiskulturen ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie forderten eine sofortige neue gewaltige Herabsetzung der Löhne.
Als die erste Kunde von diesen Plänen nach Vercelli und in die Bergdörfer drang, wo die Frauen sich schon wieder zur Reise in die Reissümpfe bereitmachten, brandete eine Welle der Empörung auf. In vielen Orten erklärten die Frauen, unter diesen Umständen auf die traditionelle „Frühjahrsreise" zu verzichten. Die „Monda" stand vor der Tür. Wenn die Felder nicht unbestellt bleiben sollten, musste etwas geschehen. Da traten die faschistischen „Gewerkschaften" auf den Plan und strengten vor dem Arbeitsgericht eine Klage gegen die Unternehmer an. „Die Opfer, die die Arbeitermassen durch die vorhergehenden Lohnkürzungen bereits gebracht haben, dürfen nicht aus Gründen der Menschlichkeit gesteigert werden durch Löhne, die noch unter den bereits erreichten und in einzelnen Fällen schon fünfzig Prozent betragenden Kürzungen liegen", schrieb die zentrale Gewerkschaftszeitung „Il Lavoro Fascista" in ihrer Nummer vom 12. April in einem Artikel, der den Titel trägt: „Ein Prüfstein für das Arbeitsgericht."
„Wir erwarten mit Sicherheit, dass die wirtschaftlichen Interessen der Massen nicht wieder den Forderungen einzelner Gutsbesitzer geopfert werden ... Dass das Unglück gleichmäßig verteilt wird, ist menschlich. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass die Arbeiter, nachdem ihr Familienbudget auf Zahlen gesunken ist, die genau die Hälfte der Einkünfte früherer Zeiten ausmachen, schon alles geopfert haben, was zu opfern ist und noch einiges darüber hinaus."
So endete dieser Artikel. Unter Berufung auf die von ihnen eingeleitete Aktion machten sich die faschistischen Gewerkschaftsbürokraten daran, die Frauen zur Abreise in die Reisgegenden zu bewegen. Sie taten ein Übriges, indem die sich bemühten, die „Korporale" auszuschalten, an deren Stelle sie ihre eigenen Funktionäre setzten. Die Masse der Frauen ließ sich überreden. Den großen Versprechungen der Faschisten vertrauend, ließen sie sich zu vorläufigen Löhnen anwerben, die allerdings auch unter dem vorjährigen Lohnniveau lagen. Die Faschisten versprachen ihnen die Auszahlung der Lohndifferenz, sobald das Arbeitsgericht seinen Spruch gefällt haben würde, der, wie sie sagten, natürlich mit ihren Vorschlägen übereinstimmen würde. So lagen die Dinge, als ich Mitte April Vercelli aufsuchte. Es war ein scheußlicher regnerischer Tag. Ich verließ die Stadt mit ihren Plätzen, auf denen Gruppen Arbeitsloser herumstanden, und ging an dem drohenden, in ein Zuchthaus verwandelten mittelalterlichen Kastell vorbei auf das Sesiatal zu. Hinter der Brücke schwenkte ich nach Osten in der Richtung auf Mortara ab. Rechts und links lagen die unabsehbaren Spiegelflächen der überschwemmten Reisfelder. Unterwegs machte ich die Bekanntschaft eines wandernden Händlers, der, durchnässt wie ich, sein schweres Bündel in den nächsten Ort schleppte. Von ihm erfuhr ich in großen Zügen die Lage. Im ersten Ort, dessen Namen ich vergessen habe, machten wir halt. Anstatt in ein Cafe oder in ein Restaurant zu gehen, lud er mich ein, ein Glas Wein bei einem ihm bekannten Bauern zu trinken. Wir wurden freundlich aufgenommen, und bald kam ein Gespräch in Gang. Wie an anderen Orten, so fanden sich auch hier schnell zahlreiche Nachbarn ein. Unter ihnen waren besonders viele Frauen. Im Gegensatz zum Süden, wo die Frauen fast durchweg schweigend im Hintergrunde standen, wenn wir Männer uns über die bösen Zeiten unterhielten, nahmen die Frauen lebhaft an der Unterhaltung teil. Man sah sofort, dass sie in dieser Gegend eine bedeutende Rolle in der Produktion spielen.
Die Empörung über die neuen drohenden Lohnkürzungen war allgemein. Aber die Meinungen waren verschieden. „Es sind die Fremden, die uns alles verderben! Was brauchen diese Weiber von so weit herzukommen, um uns das Brot fortzunehmen? Und dazu kriegen sie noch eine Lira mehr am Tage, man kocht für sie, sie können ihre Kinder in die Krippe bringen und haben keine Hauswirtschaft am Halse." Andere Frauen widersprachen: Was nützt schon die eine Lira Zulage? Was die Frauen dem „Korporal" geben müssen, macht ja allein schon mehr aus, und dazu kommt noch die Reise! Und ob sie vielleicht gern anderthalb Monate lang von Mann und Kindern weggehen möchten?
Einige Männer waren wieder der Ansicht der ersten Frau: Anstatt der fremden Weiber sollte man doch lieber Männer von hier beschäftigen, die sowieso arbeitslos wären. Auch diese Meinung fand Widerspruch: Es bestände doch noch Hoffnung, dass die Kunstseidenfabriken und die Webereien wieder voll arbeiten würden. Hätten die Männer aber erst einmal Arbeit als Landarbeiter angenommen, so verlören sie ihre Qualifikation und würden nicht so bald wieder in ihrem eigentlichen Beruf Arbeit finden.
Geteilt waren die Meinungen auch über den Ausgang der Verhandlungen betreffs der Löhne. Die einen erinnerten an den bösen Streich, den die faschistischen Gewerkschaften den Reisarbeitern im Jahre 1927 gespielt hatten. Auch damals hatten sie eine Klage beim Arbeitsgericht eingereicht und gegen die Lohnkürzungen protestiert. Auch damals hatten sie „provisorische" Löhne vorgeschlagen und die Annahme ihrer Klage durch das Arbeitsgericht versprochen. Um die Massen zu beruhigen, hatten die faschistischen Bürokraten große Versammlungen abgehalten und den Arbeitern das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Nachher hatte sich herausgestellt, dass sie mit den Unternehmern gemeinsames Spiel getrieben und nur beabsichtigt hatten, die Leute an Ort und Stelle zu bringen und hinzuhalten. Inzwischen organisierten sie ihre Kräfte zur Niederwerfung etwaiger Unruhen. Als die Arbeiter ihre Tätigkeit begonnen hatten, führten die Unternehmer einfach die geplanten Kürzungen durch. Und dabei blieb es. Das Arbeitsgericht ließ nichts mehr von sich hören. Es kam zu großen Unruhen; geheime Versammlungen wurden in den Feldern abgehalten. Aber dann setzte auch schon der Gegenangriff der Faschisten ein, und die Bewegung wurde mit Gewalt niedergeschlagen. Würde es jetzt anders kommen? „Aber können die denn wagen, uns noch einmal so mitzuspielen? Wovon sollen wir denn noch leben? Wo sollen wir denn noch hin?"
Aber es gab auch Skeptiker.
„Ihr werdet schon sehen, es kommt wieder genauso. Und wieder werden wir nichts machen können. Versucht doch mal zu streiken! Dann würde die kleine Frühjahrsreise vielleicht für manchen zu einer Reise ins Mittelländische Meer werden!" Das war eine Anspielung auf die als Strafe für jede Lohnbewegung drohende Verbannung. Die Verbannung erfolgt auf die im Mittelländischen Meer liegenden Inseln.
An diesem Punkte ging die Unterhaltung ganz ins Politische über. Es waren die Tage der spanischen „Revolution". Ich konnte damals feststellen, in wie viel höherem Maße, auch trotz des Fehlens wirklicher politischer Klarheit, selbst diese Landarbeiter den Sinn einer proletarischen Revolution verstanden hatten. Als ich Italien verließ, hatte das Arbeitsgericht seinen Spruch noch nicht gefällt. Erst in Deutschland erfuhr ich den Ausgang des „Kampfes" aus den Zeitungen. In seiner Nummer vom 28. April 1931 schrieb der „Corriere della Sera":
„Als Abschluss des bekannten Streits zwischen dem Verband der Gutsbesitzer von Vercelli und der Provinzialunion der faschistischen Landwirtschaftsgewerkschaften über die Festsetzung der Löhne der Arbeiter des Gebiets von Vercelli hat die ,Magistratur dei Lavoro' (das Arbeitsgericht) heute den Spruch gefällt, der mit Gültigkeit bis zum nächsten 10. November folgende Tarife festsetzt:
Für Männer: 1. Gruppe: gewöhnliche Frühjahrsarbeit, Stundenlohn Lire 1,25; 2. Gruppe: Spezialarbeiten 1. Ordnung Lire 1,40; 3. Gruppe: Spezialarbeiten 2. Ordnung Lire 1,30. Für Frauen: 1. Gruppe: gewöhnliche Frühjahrsarbeiten Stundenlohn Lire 0,65; 2. Gruppe: Spezialarbeiten 1. Ordnung Lire 1,10, in der Gruppe der Spezialarbeiten 2. Ordnung Lire 0,90. Zuschläge: Für Männer: Dungstreuen Lire 0,90 täglich. Streuen von Kunstdünger Lire 3,75 pro Doppelzentner ohne Berechnung auf den Tag. Reisaussaat, doppelte Tour Lire 1,20 pro Arbeitstag; Reisaussaat, einfache Tour Lire 0,90 pro Arbeitstag. Jäten pro Feld Lire 0,30.
Für Frauen: Arbeit unter Wasser Lire 0,85 täglich. Der Spruch erklärt den Tarif von Lire 1,15 stündlich für Männer und Lire 0,65 für Frauen, der schon in Ausführung der Anordnung des Ministeriums der Korporation vom 9. März 1931 angeordnet wurde, für definitiv."
Das Ungeheuerliche ist geschehen! Wieder sind die Arbeiter betrogen worden. Wieder hat das Arbeitsgericht die Forderungen der Unternehmer bewilligt. Wieder sind die „provisorischen Löhne", die nach den Versprechungen der Faschisten später durch Nachzahlungen ergänzt werden sollten, rückwirkend bestätigt worden!
Aus den Reissümpfen von Vercelli sind keine Nachrichten über Aktionen der so schändlich betrogenen Arbeiter an die Öffentlichkeit gedrungen. Nur in einer Reihe von Orten, wo die Frauen noch nicht zur Arbeit abgereist waren, ist es wieder zur Verweigerung der Abreise gekommen. Aber die Faschisten haben nicht lange gefackelt. Sie haben die Frauen durch Gendarmen aus den Häusern holen und per Schub an ihre Arbeitsstellen bringen lassen!

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