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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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VOLK UND FASCHISMUS

Vom Februar bis zum Mai 1924 war ich zum letzten Mal vor meiner jetzigen Reise in Italien. Damals wurde die Reorganisation der schwerverfolgten Kommunistischen Partei und des Kommunistischen Jugendverbandes, die bis dahin nach altem, sozialdemokratischem Prinzip in Ortsgruppen aufgebaut waren, auf der Grundlage der Betriebszellen durchgeführt. Fast genau sieben Jahre waren seit jenem letzten Besuch vergangen, als ich am 3. März 1931 wieder italienischen Boden betrat. Der Eintritt vollzog sich ohne Schwierigkeit. Es scheint, dass man nicht einmal meine Papiere genau geprüft hat. Ich kam ohne festen Plan. Ich hatte noch keine Vorstellung davon, wie ich es anfangen würde, um hinter die Kulissen des Faschismus zu dringen. Ich wollte zunächst einfach im Leben untertauchen, wollte sehen, horchen, fühlen, was los war, und dann die ersten oberflächlichen Eindrücke einer genaueren Prüfung unterziehen. Es dauerte nicht lange, bis ich mir darüber klar war, wie ich die Sache anfangen musste. Unter dem 10. März finde ich in meinem Tagebuch, dessen Blätter ich jeden Abend mit der Post nach Deutschland schickte, um nie etwas bei mir zu haben, folgende Eintragung: „Wo ist der Faschismus? Das Leben der Massen geht in den alten traditionellen Bahnen. Der Volkscharakter scheint unverändert. Wo Massen zusammen sind, besonders bei kleinen Festlichkeiten, in den Kneipen und Cafés, sieht man keine Veränderung gegen frühere Jahre. Das Volk ist ganz unter sich. Der Faschismus sitzt darauf: ein Netz rechtlich privilegierter und ausgehaltener Aufpasser über dem Volk. Keine Spur von Wurzeln im Volk, ja kaum einmal Fühlhörner, die in die Massen hineinragen. Das Verhältnis ist: Überwachung, vorsichtige Beobachtung und manchmal ein Anbiedern mit asketisch-aufopfernder Geste. Was für ein Gegensatz zu Russland!"
Das war der Niederschlag der ersten, planlos gewonnenen Beobachtung bei meinen Wanderungen in die ersten Wohnviertel der kleinen Leute, in die Dörfer.
Meinen ersten Aufenthalt nahm ich an der Riviera. Ich hatte damit gerechnet, dass ich in den Badeorten in dieser Gegend als einer unter Tausenden von Deutschen und Engländern am leichtesten und ohne besondere Nachforschungen die nötige Aufenthaltserlaubnis bekommen würde. Tatsächlich erhielt ich das Papier, das mich für den ganzen weiteren Aufenthalt legalisierte, im Laufe von wenigen Minuten.
Der Weg nach Rapallo hatte mich über Genua geführt. Während des einen Tages, den ich mich in der großen Hafenstadt aufhielt, mied ich die Fremdenviertel und die modernen Stadtteile und strich in den Gassen am Hafen und an den Docks herum, saß in Cafés, besuchte die kleinen Restaurants, wo man für wenig Geld gebratene Fische und anderes Seegetier bekommt, stand auf den Marktplätzen zwischen den streitenden Verkäufern und Hausfrauen herum, mischte mich unter die Menschen, die, ohne die Absicht, etwas zu kaufen, mit großem Interesse den Anpreisungen eines Camelot zuhörten und Neuigkeiten austauschten. Von früher her war mir die starke „Öffentlichkeit" des politischen Lebens in Erinnerung. Straße und Café, Politik und Privatleben, die neuesten Skandalgeschichten und die letzten Kammerdebatten - alles quirlte und strudelte früher ineinander über. Man konnte dieser ewig lebendigen „öffentlichen Meinung" schwer entgehen. In ihr schienen auch die Klassen unterzugehen. Witzworte über das neueste Stadtereignis, den neuesten politischen Skandal, die Mietpreise und die Wetteraussichten flogen von Mund zu Mund zwischen Vertretern aller Schichten. Von all dem war nichts mehr zu merken. Das Leben selbst zeigte wenig Veränderung. Neu war nur die außerordentlich große Zahl von Männern, jüngeren und älteren, die an allen Straßenkreuzungen, auf den Plätzen und Kais herumstand und -saß. Diese Gruppen von Leuten, deren Gesten und Gesichtern man die lange Arbeitslosigkeit ansah, waren schweigsam. Wahrscheinlich hatten sie sich, einander tagaus, tagein an denselben Stellen begegnend, längst alles erzählt, was zu erzählen war. Um sie herum wimmelte das lärmende Leben von früher.
Aber aus allen Gesprächen, die ich auffing und an denen ich teilnahm, war die Politik verschwunden. Politische Fragen schienen nicht mehr zu existieren. Wo sich Vertreter des neuen politischen Regimes, Milizionäre in Uniform oder Leute mit dem Parteiabzeichen, fast ausnahmslos gut angezogene, sehen ließen, verstummten die Gespräche: eine eisige Isolierschicht schien diese Leute zu umgeben. Aber auch da, wo sie unter sich zusammenstanden, wo man nach ein paar beiläufigen Worten an der Theke des Cafés oder im Restaurant mit ihnen ins Gespräch kam, gab es keine Politik.
Diese Leute mit dem Abzeichen traf man nur in ganz bestimmten Gegenden: in den Zentren des großen öffentlichen Lebens, in den feinen Geschäftsstraßen, in denen gut angezogene Leute und Ausländer promenierten, in den besseren Cafés und Restaurants oder an den Stellen, wo Kapital und Arbeit zusammenstoßen: vor den Kontoren der Hafenbüros, an den Stellen, wo sich Gelegenheitsarbeiter zum Dienst anboten, an den Bahnhöfen, wo Arbeitsuchende vom Lande in der Stadt ankommen. Ich ließ es bei diesem ersten, noch nicht zu deutenden Eindruck. Einen Tag später, in Santa Margherita und Rapallo, wiederholte er sich. Ich geriet zunächst in die Fremdenviertel. Auf der Strandpromenade, auf dem Bummel, unter den Galerien, am Platz, in den feinen Cafés - dasselbe Gemisch von einheimischen guten Bürgern, Fremden und Faschisten. Aber hier hatte alles das noch mehr den Charakter einer Kulisse. Hier regte sich noch mehr die Neugier: Was ist hinter der Kulisse?
Ich erhielt einen Fingerzeig durch einen Artikel über den „Kampf gegen die Tuberkulose in den Bergstädten", den ich zufällig beim Lesen der Lokalzeitung fand. Er schilderte den Gesundheitszustand der Landbevölkerung des Chiavarese, jener Täler, die von der Küste und ihren Kurorten in das hügelige Landinnere führen. Der Bericht sprach von einer Sterblichkeit von 11,45 Prozent an Tuberkulose in dieser Gegend.
Richtig, wenn man hier unten in den Kurorten herumspazierte, vergaß man ganz, dass dort hinten, jenseits der Abhänge, die mit Zypressenhainen und prächtigen Villen zum Meere abfallen, noch Tausende und Zehntausende von Bauern leben, für die dieses Land kein Kurort, sondern Grundlage ihrer ständigen Existenz ist.
So machte ich mich auf und wanderte über den Monte Castello in das Hinterland. Die Zone der Gärten und Parks, die noch zum Kurort gehört, war bald durchschritten. Die Abhänge sind sorgfältig in kleinen Terrassen ausgebaut, mit kunstvoll aufgebauten Steinmauern am unteren Rand. Näher zum Meere zu liegen villenartige Häuser verstreut, in Gärten mit Frucht- und Zierbäumen, Mimosen, Pflaumen, Pfirsichen und Mandeln und weit ausgedehnten Blumenbeeten. Weiter oben folgen dann die schier unübersehbaren Olivenhaine, die von Rebenwänden durchzogen sind. Aber dann hören die Terrassen auf; ein Saum von Pinien schließt die bebaute Zone ab. Von der kahlen Höhe öffnet sich der Blick in. das Hinterland, in die Täler der Lavagna und der Sturla. Die Landschaft ähnelt fast unserer deutschen Mittelgebirgslandschaft und nur die großen Kastanienhaine, die sich den Abhang hinunterziehen, und die zahllosen Klöster, Kirchen und Kapellen, die überall zwischen den kleinen Dörfern, Feldern und Waldstücken hervorschimmern, erinnern einen daran, dass man in Italien ist.
Und dann kam die Überraschung. Ich stieg in die Dörfer hinunter. Die ersten Häuser - leer. Die Fenster vernagelt oder gähnend leere Löcher. Die Feldterrassen in der Umgebung der Häuser verwildert und verkommen. Diese verfallenden, verlassenen Felder und Häuser begleiteten mich ein gutes Stück, bis ich auf die ersten Feldarbeiter und die ersten bewohnten Häuser stieß. Die Leute, die ich traf, waren alte Männer. In der Nähe der bewohnten Häuser spielten Kinder, und hin und wieder begegnete man einer alten Frau. Und auch hier zwischen den bewohnten Häusern plötzlich schwarze Fensterhöhlen, verwachsene, ungepflegte Weingehege, vergessene, verfaulte Kohlstrünke. Ich hatte damals noch keine Erfahrung in der Herstellung der Verbindung mit den Leuten und suchte deshalb die winzige Osteria auf, die zugleich einziger Kramladen des Dorfes war. Der Inhalt des Ladens gab eine Vorstellung von dem Verbrauch der Bewohner. Den größten Raum im Laden nahmen Kisten mit verschiedenen Sorten von Nudeln und Makkaroni ein. Auf Etageren lagen uralte, steinharte Käselaibe. Dann gab es noch Seife, Stricke, Petroleum und ein paar Bonbons und schließlich viel, sehr viel Stockfisch.
Bald hatte ich erfahren, wie es in diesen Dörfern steht: Sie sterben aus. Die leeren Häuser, die ich gesehen hatte, sind im Laufe der letzten Jahre verlassen worden. Jahr für Jahr wird die Zahl der verlassenen Häuser größer. Aus den noch bewohnten beginnt die Jugend zu verschwinden, und mit den Händen der alten Männer und Kinder lässt sich das Land nicht mehr recht bearbeiten. Und vor allem: es bringt nichts ein. Das Öl wird vom Großhändler immer schlechter bezahlt. Den hiesigen Wein will niemand kaufen: Die Fremden unten wollen bessere Weine. Auch die Kastanien isst niemand mehr. Selbst die Einwohner hier wissen nichts mehr mit ihnen anzufangen.
Tausende und aber Tausende sind nach Amerika ausgewandert, nach Südamerika vor allem. Andere sind hinuntergezogen an die Küste oder in die Ebene. Selten kommt einer der Auswanderer zurück, und wenn, dann zieht er nicht hier hinauf. Drüben in Amerika oder unten in den Städten hat er sich ans Geldausgeben gewöhnt, und was gibt es hier oben schon auszugeben? Früher war es noch schön hier oben.
„Wir haben gut verdient" (es waren alte Männer, die mir das erzählten), „aber jetzt ist alles hin. Unsere alten Kräfte reichen nicht aus. Wenn das so weitergeht, lebt in zehn Jahren hier niemand mehr."
In den anderen Dörfern an den Abhängen dieser Täler zeigte sich genau dasselbe Bild.
Unter den Zurückbleibenden aber wütete die Tuberkulose. Ist das zu verwundern, wenn man die dunklen, feuchten Höhlen von Wohnungen sieht und erfährt, wovon die Menschen leben: von Nudeln und Stockfisch, weißen Bohnen, Kohl und Brot - und das alles in mehr als kärglichen Portionen?
Wieder fiel mir auf, dass von Politik im eigentlichen Sinn des Wortes in den Gesprächen, die ich führte, nicht die Rede war. Die Worte: Regierung oder auch Faschisten wurden nie erwähnt. Dieser Ausflug in das düstere Hinterland der schönen Riviera war die erste Begegnung mit dieser so krassen Teilung des Landes in zwei Welten, in „zwei Nationen". Aber ich brauchte gar nicht diese weite Wanderung zu machen. Unten in der Stadt selbst war schon diese gleiche Trennung der Welten zu spüren. Man musste nur einmal abbiegen in die Neben-
Straßen, und der „Kurort" war verschwunden: Man befand sich in einer Kleinstadt, in einem Dorf, dessen Bewohner ihr eigenes, in sich abgeschlossenes Leben führten. Wenn man in einer der kleinen Kneipen saß, wo die Handwerker aus den umliegenden Gassen verkehren, die von den Bergen kommenden Bauern absteigen und auch der eine oder andere kleine Handlungsreisende einkehrt, hatte man vergessen, dass man in Rapallo ist. Niemals taucht hier ein Fremder oder auch nur ein besserer Italiener, niemals ein Faschist auf. Es ist eine andere Welt. Das waren meine ersten Versuche, hinter die Kulissen zu blicken. Hier fand ich die Methode meiner weiteren Arbeit. Ich wusste jetzt: Wenn ich die Stellen vermied, wo die beiden Welten, die der Besitzenden und die der Werktätigen, sich berühren, wenn ich es verstand, die eine und die andere der zwei Nationen, in die auch dieses Land zerfällt, für sich aufzusuchen, konnte ich mich in jeder dieser Welten frei bewegen und jede für sich kennenlernen. Und dann blieb mir nur noch übrig, mich mit der „dritten Nation" zu befassen, mit den Faschisten, die, isoliert, aber als Kontrolleure und Sklavenhalter im Dienste der Besitzenden tätig, zwischen diesen beiden Welten stehen. Es war klar, dass ich die Hauptaufmerksamkeit der Welt der Ausgebeuteten und Unterdrückten würde zuwenden müssen. Im weiteren Verlauf meiner Reise hat sich übrigens mein erster Eindruck von der „Isolierung" der Faschisten, davon, dass sie „nur auf dem Volkskörper drauf sitzen", verändert. Ganz so einfach ist es nicht. Sie dringen auch in die werktätigen Massen selbst ein. Sie tun es erstens in ihrer Eigenschaft als Aufpasser und Hüter der „Ordnung". Sie sind ferner überall da, wo sich Lohnarbeiter und Arbeitgeber begegnen, wo um den Preis der Arbeitskraft und die Arbeitszeit gekämpft wird. Sie sind da, wo die Werktätigen versuchen, ein Stückchen „höheren Lebens" abzubekommen, in den größeren Cafés und Weinstuben, die auch von Arbeitern besucht werden. Und schließlich gelingt es ihnen auch hier und da, in die Reihen der Werktätigen selbst einzudringen, beziehungsweise Arbeiter und Bauern in ihre faschistische Organisation zu ziehen. Dies geschieht auf der Grundlage einer planmäßigen Trennung und Gegenüberstellung der Menschen, einer Methode, die die faschistische Politik mit einem ganzen
System von Bevorzugungen und Benachteiligungen anwendet. Aber als Grundtatsache bleibt doch die Trennung der beiden Welten, die im heutigen Italien so schroff ist, wie vielleicht in wenig anderen Ländern.
Nach diesen Erfahrungen konnte ich meine Reise antreten, die mich über Rom nach Sizilien und bis nach Tripolis hinunter führte und dann über Kalabrien und Apulien, durch die Abruzzen und Toskana in die Po-Mündung und die Po-Ebene hinauf bis nach Turin brachte.
Auf diesem langen Wege habe ich mich mit Hunderten von Arbeitern und Bauern in stundenlangen Gesprächen unterhalten, habe Großgrundbesitzer und Fabrikanten aufgesucht und Faschisten aller Grade kennengelernt. Die ersten Beobachtungen hatten mir den Weg gezeigt. Die erste Erfahrung mit Arbeitern und Bauern machte mir weiter Mut.
Es war in Palermo. Ich wandte mich auf der Straße an zwei Arbeiter, die von der Arbeitsstelle diskutierend nach Hause gingen, Sie hatten Lohntag. Der Lohn wurde auf offener Straße, gleich an der Baustelle, wo gearbeitet wurde, ausgeteilt. Eine merkwürdig erregte Stimmung - die Stimmung, die ich später überall wiedergetroffen habe, wo Arbeit und Kapital zusammenstießen - lag über der Gruppe der ihre Lohntüten in Empfang nehmenden Arbeiter. Ich sprach die zwei Männer, die sich bereits von der Gruppe losgelöst hatten, an. Und ohne einen Augenblick zu zögern, zeigten sie dem Fremden ihre Lohntüten und gaben die nötigen Erklärungen zu den einzelnen Posten der Abrechnung.
Die Lohntüte des einen sah so aus:

6 Tage à 13 Lire

78,00 L

 

8 Überstunden à 1,75 L

14,00 L

92,00 L

Sozialversicherung:

 

 

(Invalidität, Arbeitslosigkeit,

 

 

Tuberkulose)

2,50 L

 

Gewerkschaftsabgabe

0,30 L

 

Krankenkasse

0,72 L

 

8prozentiger Lohnabzug

7,36 L

10,88 L

 

10,88 L

81,12 L

(Die Gewerkschaftsabgabe wird von jedem Arbeiter eingezogen, gleichgültig, ob er organisiert ist oder nicht. Über die Bedeutung des Lohnabzuges konnten mir meine Gewährsleute nichts sagen. Sie meinten nur, das ginge an den Staat. Und der Abzug sei erst von den Faschisten eingeführt worden.)
Wir kamen uns im Gespräch immer näher. Schließlich setzten wir uns zusammen in ein Café. Die Arbeiter tranken das Schälchen Kaffee und rauchten die Zigaretten, die ich ihnen anbot, mit sichtlicher Gier. Sie gestanden später ein, dass sie selbst sich diese Genüsse nicht mehr leisten könnten. Mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, mir trotzdem von dem eben erst eingenommenen kärglichen Lohn auch etwas zu spendieren. Als wir wieder auf die Straße traten, waren wir schon gute Freunde, und nun erst fingen sie an, wirklich von sich zu erzählen. Und da kam ganz elementar ihre Erbitterung und ihr Hass gegen das Hungerregime, gegen die Lohnkürzungen, gegen die ständig wachsende Arbeitslosigkeit, gegen die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, die Unmöglichkeit, irgend etwas zu ihrer Verbesserung zu unternehmen, und die ständig über jedem schwebende Gefahr des „Confine", der Verbannung, heraus. Ich war, offen gestanden, verblüfft über die Offenheit und die Kraft ihrer Ausdrücke. Einige Tage später suchte ich sie in ihren Wohnungen auf. Sie wohnten in einem jener „Cortile", von denen schon die Rede war. Dort lernte ich Dutzende von anderen Arbeiterfamilien kennen. Es war immer das gleiche Elendsbild. Und immer kam dieselbe Empörung gegen das faschistische Regime zum Ausdruck. Wenn ich in einem der ärmlichen Zimmer saß, kamen gleich die Nachbarn. Und nicht ein einziges Mal wurde auch nur eine Stimme der Verteidigung der Faschisten und ihrer Maßnahmen laut.
Ich erinnere mich besonders an eine Szene. Es war in der ärmlichen Stube eines dieser Arbeiterhäuser. Der Bewohner war ein 62jähriger Mann mit grauem Haar und Bart und einer Brille auf der Nase, hinter der ernste und kluge Augen leuchteten. Der Alte war von besonders lebhaftem Temperament. Wir landeten bald bei dem einzigen und ewigen Thema, bei der Elendslage und der Unfähigkeit und Willkür der Faschisten. „Und nicht einmal Arbeit können sie einem besorgen! Dreißig
Jahre lang habe ich mich abgeschuftet. Ich habe nichts gekannt als meine Arbeit. Sehen Sie hier."
Er langte unter die mit einem zerrissenen Tuch bedeckte Bettlade und zog einen Holzkasten hervor. In ihm lagen, fein säuberlich in ein Tuch eingeschlagen, die Arbeitsgeräte eines Schlossers. Der Alte packte sie vorsichtig auseinander und legte sie vor mich auf die Erde. An der Art der Werkzeuge war zu erkennen, dass er ein qualifizierter Arbeiter war.
„Das war mein Leben. Dreißig Jahre lang habe ich gut verdient. Ich habe meine Kinder etwas lernen lassen, habe mir etwas gespart und ein paar Sachen angeschafft. Und was ist davon geblieben? Meine Kinder haben ebenso wenig Arbeit wie ich. Alles, was sie gelernt haben, ist für die Katz'! Sie schlagen sich heute in Caltanisetta und Enna als Tagelöhner durch. Sieben und acht Lire am Tage verdienen sie, wenn sie etwas finden. Und ich sitz' bald drei Jahre ohne Arbeit herum. Die Ersparnisse sind alle. Und sehen Sie, wie kahl es hier ist. Die paar Sachen, die ich hatte, sind längst auf dem Monte Pietà, dem Pfandhaus. Nichts haben wir mehr, keine Arbeit, kein Geld, nichts zu fressen und keine Freiheit... Vor dieser Regierung . . ."
Hier unterbricht er sich, macht mit der Hand eine Geste und blickt mich an:
„Regierung? Nein, Verwaltung! Bevor diese Kerle sich bei uns eingerichtet haben, hatten wir noch eine freie Regierung. Da gab es viele Parteien. Auch Sozialisten und Kommunisten. Man konnte sich organisieren, diskutieren, es gab Zeitungen, in denen man die Wahrheit sagen konnte, und man konnte kämpfen. Jetzt -alles ist verboten!"
Das Zimmer war längst voller Nachbarn, die die Worte des Alten, der sich eines besonderen Ansehens zu erfreuen schien, mit ihren Bemerkungen begleiteten. Wir kamen auf die Arbeitslosigkeit zu sprechen. Sie wussten alle Bescheid über die Verbreitung dieses Übels in der ganzen Welt. Ja, sie kannten genau die Zahlen aus andern Ländern.
„Aber nicht in allen Ländern gibt es Arbeitslosigkeit", werfe ich ein. „Es gibt ein Land, wo sie unbekannt ist." Man blickt mich erstaunt an: „Welches denn? Frankreich wahrscheinlich!"
Aber es finden sich sofort Leute unter den Anwesenden, die widersprechen. Sie haben Verwandte in Frankreich, und von ihnen wissen sie, dass es dort auch aus ist mit der ewigen Arbeit. „Nein, Russland meine ich." Der Alte springt auf.
„Ja, Russland, das ist auch etwas anderes! Ein großes Land, ein reiches Land! Und dort ist unser Ideal verwirklicht: der Bolschewismus. Das ist so ähnlich, wie es bei den alten Christen war." Er ist wie verwandelt. Zu den Anwesenden gewandt, erklärt er ihnen, warum es in Russland anders ist. Ja, da gibt es keine Unternehmer und keine Großgrundbesitzer mehr. Da gibt es niemanden mehr, der den Werktätigen etwas wegfrisst, ohne zu arbeiten. Da halten alle zusammen und helfen einander. Da werden Millionenwerte geschaffen, und alles kommt dem Volk zugute! Es ist ordentlich hell in der Stube geworden. Erstaunt, aber zustimmend, hören diese Arbeiter, Handwerker, Straßenhändler und ihre abgezehrten Frauen den Erzählungen des Alten zu. Die Kinder haben sich nach vorne gedrängt und gucken mit offenen Mäulern auf den Alten, der mit lauter Stimme und aufgeregt solche sonderbaren Sachen erzählt.
Ich bin ganz vergessen. Und ich selber habe vergessen, wo ich bin. Ich höre dem Alten zu, ohne auf die Sprache achtzugeben, in der er redet. Ich fühle mich unter Klassengenossen, unter Revolutionären. Bei niemandem, bei mir am wenigsten, taucht der Gedanke an eine Gefahr auf. Wir sind unter uns, in der großen Familie der Proletarier aller Länder!
Dieser Alte war der erste, dem ich mich während meiner Reise in Italien zu erkennen gab. Wir hatten uns schon verabschiedet. Im Namen aller hatte er mir Grüße an die deutschen Arbeiter aufgetragen. Von Kindern umringt und von den Nachbarn begleitet, stieg ich die steile, dunkle Treppe hinunter. Unten angekommen, kehrte ich unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, noch einmal um. Oben war ich mit dem Alten allein. Ich erzählte ihm, wer ich bin, berichtete von unseren Kämpfen, unsern Hoffnungen. Unser Kampf und unser Sieg würde auch ihnen helfen, ihre Fesseln abzuschütteln. Er hatte Tränen in den Augen und küsste mich beim Abschied. Ich versprach, ihn wieder aufzusuchen, wenn wir soweit wären.
In immer neuen Variationen wiederholte sich diese Szene später auf meiner ganzen Reise. In den Arbeitervierteln der Städte, in den Bergwerken, in den Dörfern, auf den Gütern, bei den Metallarbeitern in Turin und in Mailand, bei den Wollwebern von Biella - überall gab es bei den Ausgebeuteten und Unterdrückten nur eine Stimme: Tod dem Faschismus!
Ich habe mir die Leute, mit denen ich sprach, nicht ausgewählt. Ich sprach sie zufällig an, so wie ich es das erste Mal, in Palermo, getan hatte. Immer erst später, wenn ich die Stimmung, die Gedanken und Wünsche der Namenlosen, Unorganisierten kennengelernt hatte, suchte ich dort, wo es am Platze war, unsere kommunistischen Genossen auf. Das musste ja schon aus Vorsichtsgründen geschehen, weil ich sonst die einen wie die anderen hätte gefährden können.
Eins ergab sich mit überzeugender Eindringlichkeit aus all diesen Gesprächen:
Die Faschisten sind nicht nur ein Fremdkörper im werktätigen Volk, sie sind nicht nur von ihm getrennt durch einen Klassenabgrund - sie sind aufs tiefste verhasst! Sie sind die fremdstämmigen Eroberer, die Sklavenhalter, die Feinde!
Überall schlossen die Schilderungen des Elends in grausamer Monotonie:
„Ci tengono come la pecora - come i cani ci tengono." „Sie halten uns wie das Vieh - wie die Hunde halten sie uns." Wie das Vieh - das waren die Bauern, die das sagten; wie die Hunde - so nannten es die Arbeiter.
Das ist die Meinung des werktätigen Volkes über den Faschismus. Wenn hie und da ein paar Arbeiter und wohlhabendere Bauern mit den Faschisten mitmachen, weil sie irgendwelche Vorrechte, Prämien, Vergünstigungen dafür bekommen, so ändert das nichts an dieser Stimmung der Massen des Volkes. Auch nicht die Tatsache, dass Zehn- und Hunderttausende in den faschistischen Gewerkschaften organisiert sind oder das Abzeichen der „Dopo-Lavoro"-Organisation tragen. Ihr Gewerkschaftsbuch und ihr Abzeichen haben mir Arbeiter und Tagelöhner gezeigt, die ihren Hass gegen den Faschismus unverhohlen ausgedrückt hatten; und sie haben es mir auch erklärt: Kann man das Gewerkschaftsbuch ausschlagen, wenn man nur in seinem Besitz Aussicht hat, wenn überhaupt, eine Arbeit zu bekommen? Soll man sich die fünfzig Prozent Ermäßigung auf den Eintritt ins Kino und den Rabatt bei manchen Händlern entgehen lassen, die die Zugehörigkeit zum „Dopo Lavoro" gewährt?
Das Volk hasst den Faschismus. Es wartet auf seinen Sturz. Es wartet darauf, um die 1920 begonnene Aktion wieder aufzunehmen, um in die Fabriken und auf die Landgüter als Herren einzuziehen.
Noch wartet es. Noch arbeitet nur die kleine Minderheit der Kommunisten in ihren Geheimorganisationen an der Vorbereitung und Organisierung des Sturzes der verhassten Machthaber.

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