DIE KINDERHÖLLE DER SCHWEFELGRUBEN
Am Beispiel des Schicksals der Reisarbeiterinnen von Vercelli haben wir gesehen, wie sich aus dem Bild der allgemeinen Not und des Elends des Landvolkes hier und da Ereignisse abheben, die in ihrer Furchtbarkeit weit über die Phantasiebilder hinausgehen, die man sich von der Lage der Werktätigen unter dem Faschismus macht. In der Industrie ist es nicht anders. Man stößt alle Augenblicke auf Zustände, die so toll sind, dass man sie nicht glauben würde, wenn man sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.
Eines der schlimmsten Beispiele in dieser Beziehung bietet die Schwefelindustrie in Sizilien. Dass in der Schwefelindustrie Siziliens in großem Ausmaße Kinder beschäftigt werden, ist eine altbekannte Tatsache. Die Kinderausbeutung ist oft Gegenstand ausgedehnter Kampagnen humanitärer Vereinigungen gewesen. Die früheren italienischen Regierungen waren gezwungen gewesen, verschiedene gegen die Beschäftigung von Kindern in den Gruben gerichtete Reformen durchzuführen. Was ist nun unter der faschistischen Herrschaft aus der Kinderarbeit in den Schwefelgruben geworden? Als ich Sizilien in meinen Reiseplan aufnahm, hatte ich mir vorgenommen, diese Frage besonders zu ergründen. Ich hatte mir vorgestellt, dass die Faschisten das vor ihrer Herrschaft begonnene Reformwerk kaum würden gefördert haben. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie es fertiggebracht haben, diese Reformen tatsächlich abzuschaffen und die Hölle der Kinderarbeit in den Schwefelgruben in ihrer früheren Form wiederherzustellen, ja zu verschlimmern! Die Schwefelindustrie war lange Zeit die bedeutendste, ja fast einzige Industrie Siziliens. Vor der Entdeckung des amerikanischen Schwefels hatte Italien das Weltmonopol der Schwefelproduktion. Gegenwärtig liefern die Schwefelgruben von Süd-
Italien und Sizilien nur noch einen geringen Teil der Welt-Schwefelproduktion. Etwa zwei Millionen Tonnen von in Amerika hergestelltem Schwefel stehen nur 215000 Tonnen Schwefel sizilianischer Herkunft gegenüber. Die Zahl der Gruben hat abgenommen. Von 390 im Jahr 1922 ist sie auf 240 im Jahre 1930 zurückgegangen. Auch die Zahl der in der Schwefelindustrie beschäftigten Arbeiter hat dementsprechend abgenommen. Sie wird 1931 ungefähr nur noch 15000 betragen. Eine große Zahl von kleinen Gruben sind ausgeschaltet, und in den größeren Gruben hat eine straffe Rationalisierung eingesetzt. Die Arbeitsleistung des einzelnen Arbeiters ist außerordentlich gesteigert worden. Von 1922 bis 1927 hat sie sich mehr als verdoppelt. Aber die Ausbeutung der Menschen hat dabei nicht ab-, sondern zugenommen, und da, wo Menschen und nicht Maschinen arbeiten: beim Abbau des Schwefelgesteins und beim Transport des Schwefelerzes zu den mechanischen Beförderungsmitteln, sind die allerprimitivsten und unmenschlichsten Arbeitsformen bestehen geblieben.
Die großen Schwefellager Siziliens liegen an der Südküste, an den zwei Flüssen Platani und Salso, die westlich und östlich von Agrigent in das Afrikanische Meer fließen. Von Agrigent aus habe ich verschiedene Schwefelgruben, nämlich die bei Ravanusa, Racalmuto und Comitini, besucht. Ich lernte die verschiedensten Typen von der ganz primitiven bis zur weitgehend mechanisierten Grube kennen. Die Arbeit und Lebensbedingungen der Arbeiter, Greise, Männer und Kinder waren in allen gleich. Ich kann mich daher auf die Schilderung der Zustände in einer Grube beschränken, in der ich fast den ganzen Tag zugebracht habe, um sie wirklich gründlich kennenzulernen.
Die gartenähnlichen Felder, die an der Südküste der Insel die Ufer des Afrikanischen Meeres bedecken, machen gegen Norden hin kahlen, unwirtlichen Bergen Platz. In diesen Bergen liegt der kostbare Schwefel. Jahrhundertelang wühlen die Menschen in den Bergen. Ihr Inneres ist durchlöchert wie ein Schwamm. Halden tauben Gesteins bedecken terrassenförmig die Bergabhänge. Zwischen den Halden liegen, teils verlassen, teils noch in Betrieb, die primitiven Öfen, die aussehen wie Maulwurfshaufen mit Schornsteinen. In ihnen wird der Schwefelkies, der aus dem
Berge kommt, gleich ausgeschmolzen und der rohe Schwefel dann in viereckigen Tafeln in die Hafenstädte abtransportiert. Schon von weitem sieht man über den Stätten, wo nach gearbeitet wird, graugelbe Rauchschwaden liegen. Die ganze Landschaft sieht unglaublich trostlos und düster aus. Auf den Kuppen der Berge liegen die Städte, in denen die Bergarbeiter und die wenigen Bauern der Gegend wohnen. Die Grube, von der im Folgenden die Rede sein wird, liegt in dem Dreieck, das durch die Städte Canicatti, Aragona und Racalmuto gebildet wird. Es war noch früh am Morgen, als ich von der Eisenbahnstation zu der ersten sich meinen Blicken darbietenden Grube hinabstieg. In dem kleinen Häuschen, das über dem Schachteingang errichtet ist, fand ich einen der drei Besitzer, von denen je einer täglich sich in der Grube aufhält.
Ich wurde sofort sehr freundlich aufgenommen. Nur alle paar Jahre einmal verirrt sich ein Fremder in diese Gegend, und die Besitzer fühlen sich geehrt durch den Besuch eines Ausländers. Ich hatte nicht die geringste Schwierigkeit, den Betrieb in allen Einzelheiten kennenzulernen.
Die Grube hier ist klein. Sie beschäftigt nur hundert Arbeiter. Aber so sind die meisten Gruben in der Gegend. Nur selten einmal sieht man eine größere Anlage wie die, deren eiserner Förderturm von dieser Grube aus unten im Tale zu erkennen ist, und die dem Podestà von Comitini, Herrn Mandrazzi, gehört. In unmittelbarer Nähe des Schachtausganges liegen die Öfen. Ihnen gilt unser erster Besuch.
Zur Grube gehören zwei Öfen mit je vier Feuerstellen. Die Öfen sind an den Abhang des Berges gelehnt, so dass ihre Decke eine Terrasse bildet, die man von oben her betreten kann. Von hier werden die Öfen mit dem Schwefelkies beschickt, der auf Loren aus der Grube herauskommt. Je eine der Feuerstellen der beiden Öfen liegt kalt und wird mit Erz angefüllt. Aus den anderen Feuerstellen steigt gelber, beißender Rauch auf und kriecht langsam über den Abhang. Die Luft ist unerträglich. Ich muss husten und immer wieder husten. Mir fällt ein, wie wir als Kinder manchmal hustend und mit tränenden Augen aus den vor der Weinernte frisch ausgeschwefelten Fässern zurückprallten, in die wir neugierig den Kopf zu tief hineingesteckt hatten. Die Arbeiter, die hier mit dem Verladen des Schwefelkieses und mit dem Beschicken der Öfen beschäftigt sind, lachen, wenn ich von Zeit zu Zeit aus dem Dampf ein paar Schritte den Berg hinauflaufe, um Luft zu schöpfen.
Steinbrocken kullern in den Ofen. Ihnen folgen sonderbare runde Klumpen, die sogenannten Brote. Ein Teil des Erzes kommt als staubiger Sand aus dem Schacht. Dieser Grus würde den Ofen verstopfen. Man feuchtet ihn deshalb an und bäckt ihn zu „Broten", die in der Sonne oder oben auf den Öfen zum Trocknen liegen. Nach alter Überlieferung wird jedem Brot ein kleines helles Steinchen aufgeklebt. Einen praktischen Sinn haben diese Steinchen nicht. Es ist, als ob die Arbeiter sich durch diese kleine „Verschönerung" über ihre trostlose Lage und die Düsterkeit der kahlen Landschaft hinwegtrösten wollten. In den Öfen brennt ein ewiges Feuer. Sie werden nicht besonders geheizt. Der Schwefel selbst wird angesteckt: ein Teil verbrennt, aber dabei schmilzt der Rest und sinkt zwischen dem tauben Gestein auf den Boden des Ofens hinunter. Alle paar Stunden ist einer von den Öfen „gar", und die kostbare Masse fließt zäh und klebrig aus einem kleinen Loch unten im Ofen heraus. Sobald das Loch geöffnet ist, schlägt die Flamme zu der benachbarten Feuerstelle über, die bis dahin fertig beschickt sein muss. Wieder greift das Feuer den Schwefel in der oberen Schicht der neuen Feuerstelle an und frisst sich dann langsam nach unten, bis der ganze Schwefel ausgeschmolzen ist.
Zwei Wärter bedienen die acht Feuerstellen. Sie machen abwechselnd vierundzwanzig Stunden Dienst. Jetzt ist an einem der Öfen etwas nicht in Ordnung. Der Wärter deckt das Loch auf und stochert, über den Qualm gebückt, mit einer langen Stange in der schwelenden, in kleinen bläulichen Flammen zuckenden Masse herum.
„Ist denn der Rauch nicht schädlich?" frage ich den Wärter. Er hat keine Zeit für mich. Ohne aufzublicken, sagt er nur trocken: „Dabei ist schon manch einer tot umgefallen." Aber es ist an der Zeit einzufahren. An den Verladern vorbei, deren lumpenbedeckte mächtige Körper von dem giftigen Rauch von innen ausgehöhlt zu sein scheinen, gehen wir zum Schachteingang. Eine Tafel hängt darüber, mein Begleiter hält mich an:
Lesen Sie!" Und ich lese:
„Das Himmelreich ist gleichsam wie ein verborgener Schatz." (Jesus.)
„Wer arbeitet, erfreut sich des Himmels, auch in den Eingeweiden der Erde." (Ein Freund der Arbeiter.) Mein Begleiter unterbricht mich:
„Ein Freund der Arbeiter: das ist auch Jesus. War er nicht ein Freund der Werktätigen?" Schweigend lese ich weiter:
„Wer Durst hat, komme zu mir und trinke." (Jesus.) „Ich bin das Brot des Lebens." (Jesus.)
Ich habe erst später die ganze Grausamkeit dieser Worte verstehen gelernt. Aber ich war gleich so benommen, dass ich mir nach ein paar Schritten in dem dunklen Gang, den wir eingeschlagen haften, den Kopf stieß.
„Sie müssen sich bücken, es wird noch niedriger", sagt lächelnd mein Begleiter.
Fünfhundert Meter weit gehen wir in den Berg hinein. Die Karbidlampen, die wir tragen, erleuchten ein wenig den Weg. Von Zeit zu Zeit führen dunkle Löcher seitwärts hinunter. Manche sind vermauert: verlassene Stollen. Der Gang, dem wir bisher gefolgt sind, endet. Mit ihm der Lorenstrang. Wir machen halt.
„Sie müssen sich ausziehen, unten wird es heiß", belehrt mich der Besitzer.
Wir legen unsere Kleidung ab und behalten nur Hosen und Schuhe an. Rechts und links gähnen schwarze Löcher, die fast senkrecht in die Erde hinabführen. Sie sind wie Maulwurfslöcher. Die Decke ist ungestützt und der Boden rauer Fels, in den so etwas wie Stufen geschlagen sind. Tastend und rutschend steigen wir hinunter. Weiter, immer weiter.
„Treten Sie zur Seite", ruft von hinten mein Begleiter. Ich drücke mich an die Wand. Unter mir aus dem schwarzen Loch steigt geisterhaft ein großer Stein herauf. Im Licht meiner Lampe erkenne ich jetzt darunter ein paar Schultern, dann zwei Arme, die sich tastend an den Wänden halten, schließlich einen Kopf und einen Körper. Er ist ganz nackt. Er glänzt schweißbedeckt.
Ohne aufzublicken, keuchend, steigt das Gespenst, mit den bloßen Zehen Halt suchend, an uns vorbei. Es ist ein alter Mann, mager wie ein Skelett. Unter dem Felsblock, der in seinem Nacken ruht, hängt auf seinem Rücken noch ein mächtiger Sack. Die Gestalt verschwindet über uns im Dunkeln. Wir steigen tiefer hinunter.
Eine zweite, ähnliche Gestalt schleicht vorbei: ein Knabe. Ebenso mager, ebenso schweißbedeckt. Auch er trägt keine Lampe. Wo sollte er sie anhängen? Und die Hände braucht er, um sich zu stützen.
Fragend wende ich mich zu meinem Begleiter um. „Das ist ein Caruso."
Caruso? Wer von den zahllosen Verehrern des großen Sängers hat wohl je daran gedacht, dass dieses klangvolle Wort eine der schändlichsten Erscheinungen deckt, die die Menschheit duldet? Caruso - das ist im sizilianischen Dialekt gleichbedeutend mit „Junge". Ich habe geschniegelte und aufgeputzte Zöglinge der faschistischen Kinderorganisation in Catania sich mit diesem Namen rufen hören. Aber Caruso bedeutet gleichzeitig soviel wie - Schlepper. Es gibt kein anderes Wort für die Kinder und Greise, die das Schwefelerz unter Tage vom Ort der Gewinnung zum Verladeplatz schleppen.
Jetzt erst merke ich, dass mir der Schweiß in großen Tropfen über Schultern und Stirne rinnt. Es ist unerträglich heiß geworden. Aber es geht weiter hinunter, und es wird immer heißer. Tief unter uns leuchtet ein Licht auf. Ich mache halt. „Wir sind gleich da", sagt mein Begleiter. Ich lausche: Durch die Totenstille, die uns bisher umgeben hatte, dringt Geräusch herauf.
Es ist das regelmäßige tak ... tak ... tak ... der Pickel. Aber es ist noch etwas anderes: ein gepresster tierischer Laut, ein kurzes dumpfes Ah ..., das sich in regelmäßigen Abständen vernehmen lässt. Was ist das? Ist jemand verschüttet? Ich habe einmal im Leben diese Schreie gehört. Das war im Kriege, vor Loretto, als wir verschüttet waren und acht meiner Kameraden neben mir mit diesen Schreien unter der Last der Erde, die uns bedeckte, starben.
Ich versuche, schneller hinabzuklettern.
Jetzt sind wir angelangt. Drei Karbidlampen erhellen das Loch, in dem drei Männer, halb kniend, halb liegend, ihre Hacken ins Gestein schlagen. Einen Augenblick lang hört die Arbeit auf. Der Besitzer stellt mich vor. Die Männer lächeln. Aber es ist ein bösartiges Lächeln: Was will der Nichtstuer hier? Und dann geht gleich die Arbeit weiter. Wieder schieben sich die nackten Körper an den Steinen vor. Wieder fliegen die Hacken. Jede Minute ist kostbar: es wird im Akkord gearbeitet.
Und jetzt verstehe ich: Bei jedem Schlag der Hacke ringt sich ein gepresster Schrei aus diesen Brüsten. So furchtbar ist die Arbeit in dieser Hitze, in dieser Luft! Die Lungen weigern sich, dies Gemisch aus Staub, Schwefel, Karbid- und Schweißgeruch aufzunehmen. Der gequälte Mensch schreit. So schreien, denke ich, diese ganzen Berge, und kein Mensch hört den Schrei der Qual! Auch diese Männer sind nackt. Auch sie sind über und über mit Schweiß bedeckt. Nur die Schultern, die Backenknochen, der Nasenrücken, die Augenlider sind stumpf: bedeckt mit einem Brei aus Schwefel, Staub und Schweiß.
Auch ich, der hier nur steht und zusieht, bin schweißgebadet. Große Tropfen fallen auf meinen Fotoapparat. Während ich beschäftigt bin, mit Hilfe der wenigen Karbidlampen Aufnahmen zu machen - denn wer wird mir glauben, was ich hier erzähle? -, ist um uns herum ein ununterbrochenes Hin und Her: Lautlos kommen, eine nach der anderen, gebückte Gestalten aus dem dunklen Loch über uns herunter, heben sich die schweren Säcke mit dem Schwefelkies auf den mageren Rücken, bekommen obendrauf einen mächtigen Stein aufgeladen und verschwinden wieder über uns im Dunkeln. Es sind in der großen Mehrzahl - Kinder, Kinder von elf, zwölf, dreizehn Jahren! Tagaus, tagein machen sie im Dunkeln Hunderte und Tausende von Malen den Weg von der Stelle, wo die Häuer arbeiten, zum Verladeplatz und zurück. Zwischen Hitze und Kälte eilen die magern Kindergestalten, an denen kein Stück Haut trocken ist, die hundert bis hundertfünfzig Meter langen „Treppen" hinauf und hinab. Sie schleppen Lasten von dreißig bis fünfunddreißig Kilogramm. Sie haben keine feste Arbeitszeit. Ja, sie haben nicht einmal richtigen Lohn.
Die Carusi werden nicht vom Unternehmer bezahlt. Dieser entlohnt nur den Häuer. Der Häuer steht im Akkord. Für den Waggon Erz bekommt er zehn Lire. Vier Waggons ist seine Durchschnittstagesleistung, wenn das Gestein nicht zu hart ist. Jeder Häuer hat zwei bis drei Schlepper. Ihre Bezahlung geschieht durch ihn. Aber nicht nur wirtschaftlich sind die Kinder den erwachsenen Bergleuten ausgeliefert. Unter den Arbeitsbedingungen werden die Knaben - bei der unerträglichen Hitze, selbst nackt, mit den nackten Männern zusammengepfercht und von der Außenwelt abgeschnitten - zum Objekt der geschlechtlichen Ausschweifung der in ihrer Arbeit entarteten Erwachsenen. Wir steigen noch in verschiedenen anderen Löchern herum. Überall dasselbe Bild, dieselben Schreie der Qual, dieselben gespensterhaften Gestalten von Greisen und Kindern! An einer Stelle wird ein neuer Gang in die Tiefe vorgetrieben. Es gibt hier keine wissenschaftliche Schürfarbeit. Die Schwefeladern sind, so sagen die Leute, unberechenbar. Man buddelt versuchsweise im Gestein herum. An der Seite des alten Häuers, der hier arbeitet, finde ich einen Knaben, der ihm hilft. Er ist fünfzehn Jahre: schon zu alt, um Caruso zu sein. Er arbeitet als Hilfshäuer. Ich versuche eine neue photographische Aufnahme. Aber der Besitzer sieht es nicht gern, dass ich den Jungen aufnehme, sondern möchte selbst auf die Platte. Ich muss schwindeln, und es ist mir gelungen, den Knaben nur halb aufs Bild zu bekommen.
Endlich gehen wir zurück, hinauf zum Lorenstrang. Die Luft scheint eiskalt. Ein Schauder überläuft meinen nackten Körper. Schnell ziehen wir uns an. Neben mir stürzt ein alter Mann, der eben seine Last in die Lore geschüttet hat, auf ein kleines Wasserfass zu und hebt gierig das Spundloch an den Mund. „Wer Durst hat, komme zu mir und trinke", fällt mir ein. Wortlos schreiten wir den langen Tunnel zum Ausgang zu. Jetzt leuchtet, ein kleiner Punkt, das Tageslicht vor uns auf. Mein Begleiter wendet sich zu mir. Auf das Licht deutend sagte er: „E quindi uscimmo a rivedere le stelle."
Es sind die Worte, die Dante bei seinem Austritt aus der Hölle spricht:
„Dann traten wir hinaus und sah'n die Sterne."
Wir kamen aus der Hölle!
Was hat der Faschismus mit dieser Hölle zu tun? Nun, ihn trifft die Schuld, dass sich nichts in ihr verändert hat, dass die Arbeit heute noch so betrieben wird wie vor Hunderten von Jahren. Und ihn trifft die Schuld, dass die Kinder wieder zu Tausenden in diese Hölle eingezogen sind! Millionen gibt die Regierung in Sizilien in Gestalt von Subventionen und Krediten den Großgrundbesitzern. Die Schwefelindustrie, deren Lage durch das Sinken der Schwefelpreise auf dem Weltmarkt (von 499 Lire pro Tonne im Jahre 1926 auf 411 Lire im Jahre 1929) sehr schwierig geworden ist, steht ohne Hilfe da. Die Schwefelindustrie kämpft tatsächlich um ihre Existenz. Nur eine ganz großzügige Rationalisierung und Mechanisierung könnte die Gruben retten. Die Regierung rührt keinen Finger. Aber der Todeskampf der Schwefelgruben wird zu einem guten Geschäft für die großen Banken.
Der Besitzer dieser kleinen Grube hat mir die schwierige Lage, in der sich die kleinen Betriebe befinden, ausführlich geschildert. Der freie Handel ist unterbunden. Die Gruben sind zu einem Zwangskonsortium zusammengeschlossen. Die Grubenbesitzer müssen den Rohschwefel auf ihre Kosten bei dem Kontor des Konsortiums in Porto Empedocle abliefern. Für jeden Posten abgelieferten Schwefels bekommen sie eine Empfangsbestätigung, einen sogenannten Warrant. Früher bezahlte das Kontor bei der Ablieferung einen vorläufigen Betrag, der dem Wert des abgelieferten Schwefels nach dem jeweiligen Marktwert entsprach. Seitdem die Faschisten am Ruder sind, ist diese Bezahlung abgeschafft. Der Schwefel wird erst dann bezahlt, wenn er tatsächlich vom Konsortium verkauft ist, und zwar zu dem Marktpreis des Verkaufstages. Der Verkauf dauert sechs bis acht Monate. Das Konsortium zahlt keine Verzugszinsen. Aber die Besitzer können den Warrant bei der Bank von Sizilien diskontieren. Die Bank hat ihre Filiale unmittelbar neben dem Büro des Konsortiums. Für diese Beleihung ihrer Zahlungsanweisungen müssen die Unternehmer acht Prozent Zinsen zahlen!
„Da sitzt eine ganze Camorra drin. Das Konsortium und die Bank nehmen uns doppelte Zinsen ab. Die Arbeiter müssen dafür büßen und sich zu Tode schuften."
Der das sagte, war nicht ein Arbeiter, sondern einer der Besitzer jener kleinen Grube. Es ist ganz klar, dass die Besitzer sich für diese Verschlimmerung ihrer Lage durch die Auslieferung an die Wucherpolitik der Bank von Sizilien an den Arbeitern schadlos halten.
Aber die Arbeitsbedingungen hätten sich dabei vielleicht noch nicht einmal so verschlimmert, wie es jetzt der Fall ist, wenn die Faschisten nicht auch hier durch ihre Anordnungen bezüglich der Löhne und durch die Politik ihrer „Gewerkschaften" das ihre zur Verschlimmerung der Lage beigetragen hätten. Die allgemeinen Lohnreduktionen vom Oktober und Dezember vorigen Jahres wurden auch auf die Löhne der Schwefelarbeiter angewendet und führten zu Lohnkürzungen von zwanzig bis dreißig Prozent. Der achtprozentige Lohnabzug wurde auch für die Hungerlöhne der Schwefelarbeiter eingeführt. Und das ist es, was die Kinder wieder in die Schwefelgruben getrieben hat! Denn in der Kriegs- und Nachkriegszeit war die Kinderarbeit bereits stark zurückgegangen und teilweise ganz verschwunden. Erst unter dem Faschismus hat sie den jetzigen großen Umfang wieder erreicht.
Ich habe verschiedene erwachsene Arbeiter gefragt, warum sie denn ihre Kinder in die Bergwerke gehen lassen. „Aber was wollen Sie denn? Sollen wir vielleicht verhungern? Von den Löhnen, die wir Erwachsenen bekommen, können doch unsere Familien nicht existieren. Das geht ja schon fast für die Mieten drauf. Wenn unsre Kinder nicht mitarbeiten, so können wir ganz einpacken. Und andere Bedingungen zu erkämpfen ist unmöglich. Jede Bewegung wird ja sofort unterdrückt. Wir sind doch einfach ausgeliefert."
Und die faschistischen Arbeitsinspektoren, die nach den bestehenden Gesetzen verpflichtet sind, die Kinderarbeit zu verhindern, blicken durch die Finger. Es gibt natürlich gar keine Kinderarbeit! Die Kinder sind alle über fünfzehn Jahre alt. Auch der kleinste Knirps, den man fragt, gibt lächelnd ein Alter über fünfzehn Jahren an. Einer, der knapp vierzehn haben mochte, gab mir auf meine Frage nach seinem Alter sogar stolz die Antwort: neunzehn Jahre. Der Unternehmer selbst erklärte mir das Geheimnis:
„Der da ist vor vier Jahren bei mir eingetreten. Damals war er natürlich ,fünfzehn', jetzt ist er inzwischen ebenso natürlich -,neunzehn' geworden."
Die Eltern schicken ihre Kinder mit gefälschten Dokumenten in die Grube. Jedermann weiß das. Der Unternehmer zuckte die Achseln.
„Soll ich jedes Dokument nachprüfen?"
Vor zwei Jahren war der Arbeitsinspektor zum letzten Mal in dieser Grube. Er hat sich selbst davon überzeugt, dass in ihr keine Kinder beschäftigt werden, als er oben im Büro die Arbeitsdokumente durchblätterte. Auf den mit Beil und Rutenbündeln gezierten Ausweisen stand es doch schwarz auf weiß geschrieben! Wozu erst in die Grube hinuntersteigen, wenn Dokumente vorliegen? Kann ein Dokument mit dem heiligen Symbol der faschistischen Unterdrückung lügen?
Wenn der Faschismus nichts anderes auf dem Gewissen hätte, als die Zustände, die heute wieder in den Schwefelgruben Siziliens herrschen, so würde das genügen, ihn vor dem Urteil der ganzen zivilisierten Menschheit zu richten. |
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