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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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SKLAVENMÄRKTE

Es ist kein Zufall, wenn bisher soviel von landwirtschaftlichen Problemen die Rede war. Ungeachtet der Industrialisierung Italiens in den letzten Jahrzehnten ist das Land vorläufig noch vorwiegend Agrarland. Das trifft im besonderen Maße auf die jetzige, faschistische Periode seiner Entwicklung zu. Horcht man aufmerksam hin, liest man täglich die Zeitungen und hat man Gelegenheit, an einigen der zahllosen Kundgebungen und Tagungen der verschiedenen faschistischen Organisationen teilzunehmen, so erhält man bald den Eindruck, dass die Agrarprobleme im Mittelpunkt des Interesses der Faschisten stehen. „Der Faschismus ist agrarisch", sagt Mussolini. Eine der Losungen des Regimes ist die „Ruralisierung", die „Verlandwirtschaftlichung" Italiens. Sie ist im offenbaren Gegensatz zu der Grundparole der Sowjetunion, der „Industrialisierung", aufgestellt. Wenn man sich an den geschichtlichen Ursprung des Faschismus erinnert, so versteht man leicht den Sinn dieser Parole: Die Großgrundbesitzer haben den Faschismus in den Sattel gehoben, und die Regierung ist seitdem verpflichtet, sich dieser Bevölkerungsschicht in erster Linie erkenntlich zu erweisen. Was kommt nun bei der „Verlandwirtschaftlichung" für die Werktätigen auf dem flachen Lande heraus?
Auf meiner ganzen Reise hat keine Bevölkerungsschicht in Italien so große Bereitwilligkeit gezeigt, mir ihre Not zu klagen und ihrem Hass gegen das Regime Ausdruck zu verleihen, wie gerade die Bauern. Aber kann man überhaupt von „Bauern" reden? Gibt es in Italien als wesentlichen Bestandteil der ländlichen Bevölkerung das, was wir unter „Bauern" verstehen? Es gibt bis heute noch keine offizielle Statistik über die Bodenverteilung in Italien. Das ist gewiss kein Zufall. Die Veröffentlichung einer solchen Statistik würde den schamlosen Ausbeutungscharakter der Besitz- und Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft des Landes aufdecken.
Aus Teilangaben über die Besitzverhältnisse könnte man den Eindruck gewinnen, dass es auch in Italien eine größere Zahl von freien mittleren und kleinen Landwirten gibt. Sieht man dann aber genauer hin, so findet man, dass diese selbständigen Bauern sich fast ausschließlich auf die Bergzonen und den weniger fruchtbaren Teil des Hügellandes verteilen. Und auch ihre Selbständigkeit ist zweifelhaft. In der Bergzone stirbt die Landwirtschaft nach und nach ab. Sie ist in diesen Gegenden nicht mehr imstande, die Menschen zu ernähren. Wir haben diese Tatsache schon bei dem Ausflug ins Hinterland der Riviera kennengelernt. Für den Südabhang der Alpen und für die übrigen Berggegenden des Landes trifft dasselbe zu. Die landwirtschaftlichen Beobachtungsstationen beschäftigen sich bereits mit der Untersuchung dieser Vorgänge. Die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse, die noch nicht veröffentlicht worden sind, beweisen ein geradezu katastrophales Aussterben dieser Regionen.
Dort, wo noch kleine Bauern auf der Scholle sitzen, sind sie in steigendem Maße gezwungen, sich nebenbei Arbeit als Tagelöhner und Saisonarbeiter in landwirtschaftlichen und industriellen Betrieben zu suchen.
Das eigentlich fruchttragende Land in der Ebene und in den Hügelzonen gehört großen und mittleren Grundbesitzern. Zu einem Teil, besonders im Süden, sind noch heute die alten Adelsfamilien Besitzer des Landes.
Soweit dies nicht der Fall ist, sind „Neureiche" an ihre Stelle getreten. Es gehört für den wohlhabenden Städter zum guten Ton, ein Landgut zu besitzen. Aber die Besitzer begnügen sich meistens damit, „Besitzer" zu sein. An der Bewirtschaftung nehmen sie keinen Anteil. So kommt es, dass neben den Großgrundbesitzern eine zahlenmäßig außerordentlich große Schicht von Generalpächtern besteht. Sie zahlen dem Besitzer, der ja über Tausende und Zehntausende von Morgen verfügt, eine nicht sehr hohe Pachtsumme und geben ihrerseits das Land wieder weiter in Pacht. Auch sie sind selten wirkliche Bewirtschafter. Sie haben wieder eine weitere Schicht von Unterpächtern unter sich; erst diese stehen dann mit der eigentlichen Landbevölkerung, den
Kleinpächtern, Halbpächtern, Kolonisten, Landarbeitern und Tagelöhnern in direkter Beziehung.
Sobald man das weiß, ist man nicht mehr erstaunt über den Widerspruch zwischen dem „Reichtum des Landes" und dem Elend der Massen, der sich einem als erster Eindruck aufdrängt. Die Werte, die die Arbeit von Millionen landloser „Bauern" dem Boden abgewinnt, werden von einigen Zehntausenden besitzender Parasiten angeeignet. Innerhalb dieser buntscheckigen Gruppe von Besitzern, Generalpächtern, Unterpächtern, Verwaltern usw. gibt es ernste Kämpfe. In den letzten Jahrzehnten sind in manchen Gegenden die Generalpächter zu den eigentlichen Herren geworden und haben die Rechte der Besitzer zu ihren eignen Gunsten eingeschränkt. Umgekehrt hat es Zeiten gegeben, wo die Unterpächter einen erfolgreichen Kampf zur Vergrößerung ihrer Verdienste auf Kosten der Generalpächter geführt haben. Im Kampf der Generalpächter gegen die Großgrundbesitzer kam sehr häufig der Gegensatz des Bank- und Industriekapitals gegen den halbfeudalen Großgrundbesitz zum Ausdruck: Hinter den Generalpächtern standen Industrie- und Bankgruppen, die an einer Modernisierung der Landwirtschaft interessiert waren, von der sie eine Erweiterung des Absatzes von Industrieprodukten und der Möglichkeit gewinnbringender Kapitalanlagen erwarteten.
Aber diese Gegensätze innerhalb der Schicht der Ausbeuter schwiegen immer dann, wenn aus den Massen der ausgebeuteten Landleute das Gespenst des Bolschewismus aufstieg. Dann standen die Ausbeuter in schier unerschütterlicher Einheitsfront. In dieser Einheitsfront stehen sie auch heute hinter dem Faschismus, obgleich dieser ihnen mit seiner bald die eine, bald die andere Gruppe der Besitzer bevorzugenden Zickzackpolitik manche harte Nuss zu beißen gibt.
Die Zahl der Werktätigen auf dem Lande kann gegenwärtig auf acht bis neun Millionen angesetzt werden. Und diese Millionen haben kein Land, sondern müssen unter den verschiedenartigsten Bedingungen für die Großgrundbesitzer und ihren ganzen Anhang schuften.
Ganz außerordentlich groß und unter den jetzigen Verhältnissen in ständigem Steigen begriffen ist die Zahl der Tagelöhner, die, nur manchmal ein kleines Fleckchen schlechten eigenen Landes bearbeitend, ohne feste Arbeit, von Gelegenheit zu Gelegenheit sich durchschlagen. Es ist oft schwer festzustellen, wer heute auf dem Lande in Italien nicht Tagelöhner ist. Tatsächlich findet man in allen Landesteilen auf den Arbeitsmärkten alle Arten von Landleuten: Kolonisten, Pächter, Halbpächter, Siedler und arbeitslos gewordene „feste" Landarbeiter, die kleine Tagesverdienste suchen.
Meine erste Begegnung mit diesen arbeitsuchenden Tagelöhnern, deren überall in den Landstädten herumstehende Gruppen für das heutige Italien ebenso charakteristisch sind wie die Gruppen von arbeitslosen Industriearbeitern in den Städten, geschah unter eigenartigen Umständen.
Ich war am späten Nachmittag in der an der Südküste Siziliens liegenden Stadt Agrigent angekommen. Es dunkelte schon, als ich den ersten Rundgang durch die unbekannte Stadt antrat. Die Hauptstraße, welche die altertümliche auf dem Gipfel eines Berges aufgetürmte Stadt durchzieht, bot das übliche Bild: herumflanierende „bessere" Leute, darunter besonders viele jüngere vom Typus des Bankangestellten. Zwischen ihnen Faschisten in Zivil und in Milizuniform.
Etwa in der Mitte der Stadt öffnet sich die Straße auf einen kleinen Platz. An seiner Südseite liegt eine Terrasse. Zwischen den engen und schmutzigen Häusern tut sich plötzlich eine bezaubernde Landschaft auf: mit Olivenhainen, blühenden Mandeln und Pfirsichbäumen fällt der Berg von der Stadt zum Meere hinunter ab. Aber bevor der Blick das Meer erreicht und sich an seinem weiten Horizont verliert, wird er noch einmal aufgefangen durch eine goldene Kette, die sich quer durch das dunkle Grün der Fruchtbaumhaine und jungen Weizenfelder zieht. Das sind die Ruinen der mächtigen altgriechischen Tempel, letzte Reste der nach Hunderttausenden von Einwohnern zählenden Hafenstadt des Altertums, Akragas. Im Licht der untergehenden Sonne leuchtet der gelbliche Muschelkalk dieser gewaltigen Bauten wie reines Gold.
Aber ich bleibe nicht lange an diesem zauberhaften Bild hängen. Etwas anderes nimmt meine Aufmerksamkeit in Anspruch: Was geht dort hinter mir auf dem Platz vor sich? Die Hälfte des
Raumes unter der Freitreppe einer Kirche, aus der eben Scharen dunkelgekleideter Menschen von der Fastenpredigt herauskommen, wird eingenommen von Gruppen magerer, abgehärmt aussehender Männer in zerrissener, beschmutzter Kleidung. Sie stehen zu fünft und sechst zusammen. Sie reden wenig. Die Hände auf dem Rücken, stehen sie unbewegt, nur manchmal von einem Fuß auf den anderen tretend, ein Steinchen wegstoßend, den Kopf wendend. Es mochten an die hundert Männer sein. Sie standen da, als warteten sie auf ein Zeichen: Jetzt, jetzt, so schien es mir, werden sie sich aufraffen, werden sich umdrehen und losstürzen auf einen unsichtbaren Feind. Wer konnte der Feind sein?
Zwischen den Gruppen dieser Arbeiter gingen einzelne Männer in guten Anzügen mit Filzhüten auf dem Kopf hin und her. Hin und wieder machten sie bei einer Gruppe halt. Die Köpfe der Männer wandten sich ihnen zu. Man wechselte einige Worte. Dann ging der Mann weiter, und unbeweglich wie früher stand die Gruppe der Arbeiter. Was tun diese Männer? Wollen sie die Arbeiter beschwichtigen? Wollen sie versuchen, sie von einem unbedachten Schritt abzuhalten?
Irgend so etwas musste in der Luft liegen. Denn um diese ganze Szene herum wanderten ständig, aufmerksam beobachtend und hinhorchend, Gendarmen, den Sturmriemen unter dem Kinn, und faschistische Milizionäre mit der Hand auf der Revolvertasche, die offen an ihrem Gürtel hing.
Ich war so überzeugt, dass man hier am Vorabend eines Aufstandes war, dass ich mich nicht traute, einen der Herumstehenden zu fragen, was los sei. Es lag eine so unheimlich gespannte Kampfstimmung über dieser Szene, dass ich fürchtete, mit einer unbedachten Frage das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Es wurde dunkler und dunkler, und nun begannen zu meiner Überraschung die Gruppen der Arbeiter sich nach und nach aufzulösen. Mit müden, hoffnungslosen Gesichtern verschwanden sie langsam in die umliegenden Straßen. Der Strom der Nichtstuer und Flaneure, der bis dahin vor diesem Platz haltgemacht hatte oder in großen Bogen um die Gruppen herumgegangen war, konnte nun ungehindert zwischen der kleinen Kirche und der Terrasse mit der herrlichen Aussicht hindurchgehen.
Jetzt fasste ich mir ein Herz. In einer der Gassen sprach ich zwei Männer an, die bis vor kurzem mit auf dem Platze gestanden hatten. Ich fragte geradezu, was denn dort unten auf dem Platze
losgewesen sei. Verständnislos sahen sie mich an und zuckten die
Achseln. Sie machten auch nicht halt, als ich weitere Fragen stellte, und gaben, hastig weiterschreitend, kurze, nichtssagende Antworten. Nach wenigen Schritten ließ ich sie gehen. Es war mir nicht gelungen, den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Ich wusste, dass mein Instinkt mich nicht trügen konnte: Der Klassenkampf hat einen bestimmten „Geruch", der nicht zu verkennen
ist. Ich war in eine Szene schärfsten Kampfes geraten, das war mir klar. Aber worum es sich im Einzelnen handelte, verstand
ich nicht.
Erst am nächsten Abend löste sich das Rätsel. Ich war zum Meer hinabgestiegen und kehrte in der Dämmerung auf Nebenwegen, die durch Felder, Olivenhaine, Mandelplantagen und leerstehende Gutshöfe führten, in die Stadt zurück. Es wurde schnell dunkel. Als ich auf einen größeren Weg einbog, der von den Feldern zur Stadt hinaufführte, fand ich mich inmitten einiger Gruppen von Landleuten, die, teils zu Fuß, teils auf Mauleseln, mit Säcken und Ackergeräten der Stadt zustrebten. Ich versuchte etwas von ihren Gesprächen aufzufangen. Da hörte ich hinter mir in einer Gruppe halb verwunderte, halb ironische Bemerkungen über meinen Hut und meine Kniehosen austauschen. Ich wandte mich um und mischte mich in dies Gespräch, an dem ich doch sozusagen auch beteiligt war. Großes Erstaunen: Der „Fremde" sprach italienisch! Das schuf sofort eine freundschaftliche Atmosphäre. Es war nicht ganz leicht, das Gespräch zu führen, da die Leute im sizilianischen Dialekt sprachen, der sehr viele fremde Wörter enthält. Nur die Jüngeren verstanden mich ohne weiteres. Die Älteren mussten sich manches übersetzen lassen. Aber die Vertrautheit wuchs, als ich im weiteren Gespräch nicht nur eine solide Kenntnis aller landwirtschaftlichen Fachausdrücke, von den einzelnen Pflanzenarten bis zu den Wirtschaftsmethoden, an den Tag legte, sondern auch einzelne sizilianische Ausdrücke unter meine Worte flocht. Bald war ich von einer Gruppe von vielleicht fünfzehn Mann umringt. Das Gespräch ging sofort auf die Lage der Bauern über. Meine Begleiter
gaben bereitwillig über ihre eigene Lage Auskunft und stellten ebenso viele Fragen über die Lage der Bauern und der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Die alten Leute ließen sich besonders diese Teile unseres Gesprächs sehr ausführlich übersetzen. Meine Begleiter waren in ihrer Mehrzahl Tagelöhner, die von der Feldarbeit in die Stadt zu ihren Familien zurückkehrten. Sie hatten von Morgengrauen bis Sonnenuntergang zu tun gehabt. Manche von ihnen waren schon eine Stunde unterwegs. Jetzt kehrten sie zurück, um die erste und einzige Mahlzeit am Tage einzunehmen. Was sie zu Hause in ihren Wohnlöchern, für die sie fünfhundert Lire im Jahre Miete zahlen müssen, erwartete, war nicht viel: eine Suppe aus Teigwaren und Gemüse, vorwiegend Zwiebeln, Brot und etwas roher Fenchel. Fleisch? Sie lachten über meine Frage! Als wir uns - wir waren inzwischen eine ganze Herde geworden - dem Stadteingang näherten, drängten zwei Männer zu mir nach vorne. Einer blickte mir unter den Hut. Zu seinem Begleiter gewandt, sagte er: „Siehst du, dass ich recht habe!" Und zu mir gewandt, fuhr er fort:
„Das sind doch Sie, der uns gestern Abend in der Stadt angesprochen hat? Wir wussten nicht recht, was Sie wollten und dann: Wir waren noch nicht zu Hause gewesen und hatten Hunger. Deshalb wollten wir uns nicht unterwegs aufhalten. Aber was wollten Sie eigentlich?"
Jetzt, nachdem ich schon einiges über Arbeit und Leben dieser Tagelöhner erfahren hatte und das gegenseitige Vertrauen hergestellt war, konnte ich meine Frage besser formulieren. „Ach so! Nein, das war nichts Besonderes auf dem Platz. Wir waren nur zur Arbeitssuche dort. Sehen Sie, wir haben doch alle keine feste Arbeit. Ich und der Kollege hier sind eigentlich Arbeiter. Wir haben früher einmal in einer Maschinenfabrik gearbeitet, aber die ist jetzt zu. Dann haben wir dort oben am Athene-Felsen gearbeitet. Da waren Sie doch sicher auch? Haben Sie die großen Neubauten dort gesehen? Da hat man das Provinzial-Irrenhaus zu bauen angefangen. Zwanzig Häuser stehen schon da. Aber jetzt hat auch das aufgehört. Es ist kein Geld mehr da, und da suchen wir eben Arbeit auf dem Lande. Das waren alles Tagelöhner, was Sie da auf dem Platze gesehen haben. Man bekommt ja selten mehr als für einen Tag Arbeit. Abends spät oder morgens früh geht man auf den Platz. Da kommen dann die Herren von den Besitzern - die haben Sie doch sicher gesehen? Die Leute mit den Hüten - und suchen sich die Arbeiter aus. Lohn? Sieben oder acht Lire für den Tag. Es stehen ja immer so viele herum, dass man nicht mehr bekommen kann. Wenn man mehr verlangt, nimmt der Herr eben einen anderen. Und dann geht es beim Morgengrauen hinunter auf die Felder. Das ist immer ein ordentliches Stück Weg. Wir zwei haben eine gute Stunde. Und dann muss man auch noch das Ackergerät mitschleppen. Der Alte da hat's gut. Der war früher mal Bauer und hat noch einen Maulesel. Aber wir Arbeiter müssen zu Fuß gehen."
„Aber gibt es denn keine Vermittlungsbüros?" fragte ich erstaunt. „Man hat mir in Palermo erzählt, dass durch Gesetze vom April 1926 und vom März 1928 die Arbeitsvermittlung wieder eingeführt ist. Das geht doch nicht, dass die Besitzer sich die Leute auf dem Platz einfach aussuchen, und dabei immer schlechtere Bedingungen stellen."
Meine Frage interessierte alle sehr, und sie musste zuerst übersetzt werden. Allgemeines Lachen und eine angeregte Diskussion im reinsten Sizilianisch waren die erste Antwort. Aber dann schaffte mein neuer Begleiter Ruhe und erklärte mir: „Ja, wissen Sie, das mag alles ganz schön sein. Die Faschisten" -so sagte er: die Faschisten und nicht die Regierung! - „haben mal so etwas versucht. Aber das ist doch nur auf dem Papier. Es gibt solche Büros in der Stadt. Aber da geht niemand hin, die Herren nicht und wir nicht. Da muss man ja auch das faschistische Büchlein mitbringen, und das kostet wieder Geld. Nein, das wird alles auf dem Platz gemacht. Früher einmal, bevor die Faschisten kamen, da gab es so etwas. Das war noch zurzeit, als die Soz..." Aber wir waren inzwischen in die Stadt gekommen. Mein Begleiter unterbrach seine Rede. Er und verschiedene andere wandten sich einer Gruppe von gut angezogenen Leuten zu, die vor einem Cafe an einer Ecke standen. Die Arbeiter zogen die Mütze: „Bacciam le man!" Die Herren antworteten mit einer jovialen Handbewegung.
„Wer ist denn das?" fragte ich neugierig.
„Das? Das sind unsere Herren." „Und was tun sie so den ganzen Tag?"
„Die? Nichts! Verdienen unser Geld, stehen auf dem Platze herum, trinken Kaffee und machen Geschäfte. Ist das nicht genug?" Alle mussten lachen. Die Szene wiederholte sich noch ein paarmal und immer wieder ertönte das „Bacciam le man" Wir küssen die Hände", dieser alte Gruß der Hörigen an die Feudalherrn, der sich als Symbol der unverändert gebliebenen Knechtschaft als Begrüßung der Herren durch die Knechte in ganz Sizilien erhalten hat.
Jetzt also war das Rätsel gelöst: Ich hatte recht gehabt. Was ich da am Abend vorher auf dem Platze gesehen hatte, war ein Stück Klassenkampf gewesen. Aber es war kein Aufstand, der sich da vorbereitete. Es war der einfache, „normale" Sklavenmarkt, der Kampf um den Preis der Arbeitskraft, der den Kern jedes Klassenkampfes bildet!
Damals lernte ich zum ersten Mal die eigenartige Struktur der Landwirtschaft kennen, die so bezeichnend ist für ganz Süditalien und die Inseln und die das Verständnis der Herrschaftsmethoden des Faschismus in jenen Gegenden sehr erleichtert. Es gibt in diesem Teil Italiens keine „Bauern "und keine „Dörfer". Das Landvolk - wenn man diese durchweg landlosen Arbeitstiere überhaupt so nennen kann - lebt seit Jahrhunderten in Städten. Diese Städte mit durchschnittlich zehn- bis zwanzigtausend Einwohnern liegen an erhöhten Stellen, auf Hügelkuppen und Bergen, weit entfernt von den Feldern. Der Boden gehört den Großgrundbesitzern und den verschiedenen besitzenden Zwischenschichten. Die eigentlichen Besitzer wohnen meist weitab in den Großstädten. Mit den Landleuten zusammen wohnen in den Landstädten die Pächter, Unterpächter und Verwalter. Jeden Morgen findet auf dem Marktplatz, der in keiner Stadt fehlt, der Sklavenhandel statt. Die Landleute verkaufen sich für einen oder mehrere Tage, in guten Zeiten für eine ganze Woche. Jeden Tag legen sie morgens und abends den weiten Weg zur Arbeitsstelle zurück. Tagsüber gibt es auf dem Felde Brot, Käse und Wein, vielleicht auch eine Suppe, die in manchen Gegenden der Besitzer oder Verwalter stellt. In den „guten Zeiten" gehen die Leute Sonntagnacht von Hause fort, kampieren auf dem Felde in Stroh- und Lehmhütten oder, wie in Sizilien, in den „Masserie", den Steinhäusern, die von den alten Gutsgebäuden übriggeblieben sind und die sonst leer stehen, und kehren Sonnabendabend zu ihren Familien zurück. Die Landleute, die den größten Teil der Bevölkerung dieser Städte bilden, sind tagsüber dort nicht anzutreffen. Sie sind auf dem Felde. In den Städten bleiben außer ihren Angehörigen, Frauen und Kinder, die anderen Bewohner: die Großpächter und Verwalter, die Händler, Handwerker, Schreiber, Beamten und anderen Mittelspersonen. Die Anhäufung der Landbevölkerung in den Städten lässt die Zahl dieser Mittelspersonen sehr viel höher anschwellen, als es in unseren Ländern mit dörflichen Siedlungen der Fall ist. Der ständig von Hause abwesende Kleinpächter, Landarbeiter und Tagelöhner braucht in viel höherem Maße als unsere Bauern die Arbeit des Handwerkers, des Händlers und anderer Mittelspersonen. Er ist ja nie da und kann sich fast nichts selber machen. Wegen jedes zerrissenen Riemens, jedes zerbrochenen Spatens muss er sich an die Handwerker wenden. Das Feld, auf dem er für den Besitzer arbeitet, wirft wenig Produkte für ihn selber ab. Er muss sich einen großen Teil seines Brotes, seines Weines, seines Gemüses und seiner Hülsenfrüchte beim Kaufmann besorgen. In unseren kleinen Dörfern kann der Beruf des Posthalters vom Gastwirt oder Metzger während ein paar Stunden am Tage im Nebenberuf ausgeübt werden; in diesen Städten aber müssen gleich ganze Postbüros mit einer größeren Zahl von Beamten unterhalten werden. Alle diese Umstände lassen uns die Entstehung und die Herrschaftsmethoden des Faschismus in diesem Teil des Landes besser verstehen. Das System des Faschismus besteht ja darin, dass er einen Teil der städtischen Mittelschichten mobilisiert und zur Durchführung der gesteigerten Ausbeutungspolitik im Interesse des Finanzkapitals einsetzt. Der größte Teil der Mitglieder der verschiedenen Zwischenschichten in den Bergstädten gehört der faschistischen Partei oder den von ihr geschaffenen und kontrollierten besonderen Organisationen an. Während die Landleute über die vielen weitverstreuten Felder der Umgebung verteilt sind und von Morgengrauen bis Sonnenuntergang arbeiten, sind diese Leute ständig in der Stadt anwesend. Als Mitglieder der
faschistischen Partei und der Miliz sind sie allein bewaffnet. Sie kontrollieren alles: angefangen von der Arbeitsvermittlung bis zur Privatkorrespondenz, die ja durch ihre Hände geht. In einem anderen Teil von Sizilien habe ich diese Struktur der Bergstädte noch genauer kennengelernt.
Die Nord- und Ostküste der Insel ist außerordentlich fruchtbar. Sie ist das Zentrum der Zitronen-, Orangen- und Mandelkulturen.
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunklen Laub die Goldorangen glühn?..."
Hier ist dieses Land!
Wie gut es die Leute hier haben müssen! Unter ewig blauem Himmel wandeln sie zwischen ewig grünen Hainen, die von malerischen Bergstädtchen überragt werden. Voller Befriedigung nehmen die Pärchen, die auf der Hochzeitsreise den traditionellen Weg von Messina nach Syrakus im Schnellzug zurücklegen, diese malerischen Landschaften in sich auf. Aber wie anders ist die Wirklichkeit! Das dunkle Laub der Goldorangen und die malerischen Bergfesten verstecken ein namenloses Elend, eine mittelalterliche Sklaverei. Ich nahm statt des Schnellzuges den Bummelzug und verließ ihn auf der Station Lentini, die zwischen Catania und Syrakus am Südrande der fruchtbaren Ebene von Catania liegt. Nach einer halben Stunde Fußmarsch langte ich in der auf einem Ausläufer der Iblei-Berge liegenden Bergstadt Carlentini an. Zwischen immergrünen Hainen und Kaktushecken windet sich die Straße in großen Serpentinen den Berg hinauf. Nun betreten wir die Stadt. Breite, beinah dörfliche Gassen mit niedrigen grauen Steinhäusern nehmen uns auf. Aber sonderbar: Sie liegen da wie ausgestorben. Nur hin und wieder einmal begegnet man einer Frau oder laufen einem ein paar Kinder über den Weg. Die Leute, die man trifft, sind ärmlich und abgerissen, und auch wohlgenährt sehen sie nicht gerade aus. Eine Gasse ist wie die andere. Es will gar kein Ende nehmen.
Aber jetzt werden die Häuser etwas ansehnlicher. Hin und wieder stehen Handwerker vor der Tür, Wagner, Schmiede, Sattler. Jetzt tauchen auch zwei- und dreistöckige Häuser auf. Sie heben sich deutlich von den anderen Gebäuden ab. Was sie besonders auszeichnet, sind ihre Balkons. Es scheint, als ob der Erfindungsgeist der Ortsbaumeister sich ganz auf die verschiedenartige Ausstattung dieser Balkons konzentriert habe. Die größte Aufmerksamkeit ist den Trägern gewidmet, auf denen sie ruhen. Sie sind mit reichen Steinbildhauereien oder Stuckornamenten verziert. Da sieht man grimmige Löwen, Seejungfrauen, Blumen und Früchte. Hin und wieder prangt über den Eingangstoren ein altes Adelswappen.
Und nun biegen wir auf den Marktplatz ein. Mehrstöckige Steinhäuser umgeben ihn: Läden, ein Café, ein Kino. Aber auch dieser Platz liegt völlig ausgestorben da, gerade als hätte eine Seuche die Bevölkerung hinweggerafft. Eine Katze, die langsam und gravitätisch über die Fliesen des weiten Platzes spaziert, ist außer mir die einzige Vertreterin des Lebens. Mehrmals im Laufe des Tages kehrte ich auf den Platz zurück, morgens, zur Mittagszeit und nachmittags. Immer war er gleich leer. Ich musste bis zum nächsten Morgen warten, ehe Stadt und Platz ihr Aussehen veränderten. Es war in den ersten Morgenstunden. Die Sonne war kaum heraus. Da auf einmal fand ich den Platz dicht besetzt mit Menschen: Gruppen ärmlich gekleideter Männer standen wartend herum, wie in Agrigent. Die abgetragenen und vielgeflickten Anzüge verschwanden unter verblichenen, schwarzen Capes oder einfachen dunklen Tüchern, die die Männer auf den Schultern trugen. Die alten Männer hatten sich die Tücher über den Kopf gezogen: es war kühl in den ersten Morgenstunden. Und wieder strichen wie in Agrigent Gestalten in Paletot und Filzhut zwischen den Gruppen herum. Sie schienen einer anderen Welt anzugehören: Bei näherem Hinsehen erkannte man auch das Abzeichen der Faschistischen Partei im Knopfloch ihrer Jacketts. Immer von neuem sah ich sie an einzelne Gruppen der anderen Männer herantreten. Dann gab es erregte Gespräche. Das Ergebnis war jedesmal, dass sich ein paar von den ärmlich gekleideten Männern aus den Gruppen lösten und den Platz verließen. Nach einer Weile sah ich sie dann mit Hacken, Spaten, dem Holzpflug oder Säcken beladen zu Fuß oder auf abgetriebenen Mauleseln durch die Gassen mit den niederen Häusern zum Tal hinabsteigen. Nur einzelne Gruppen blieben noch auf dem Platze. Aber schließlich verloren sich auch diese Gestalten. Und nun lag der Platz wieder leer, und auch die Gassen an der Peripherie zeigten dasselbe Bild der Verlassenheit wie am Tage vorher.
Zum zweiten Mal war ich Zeuge des Sklavenhandels geworden, der das Verhältnis von Kapital und Arbeit in diesen Gegenden regelt!
Es lohnt sich, etwas genauer zu betrachten, wie diese Landleute leben.
Das Hügelland südlich von der Ebene von Catania ist eines der größten Zentren der Apfelsinenkulturen Siziliens. Gegenüber den Apfelsinen treten Zitronen, Getreide, Mandeln und Feldfrüchte hier zurück.
Mehr als fünfzig Prozent des Bodens gehört Großgrundbesitzern, die über tausend und mehr Morgen verfügen. Der größte Teil des Restes ist in Händen mittlerer Besitzer - jener Leute, die in den balkongeschmückten Steinhäusern wohnen - und nur ein kleiner Teil wird von den Landleuten selbst direkt bewirtschaftet, Es sind das die mageren, von wuchernden Kakteen durchsetzten Felsstücke an den steileren Abhängen in unmittelbarer Nähe der Städte.
Der überwiegende Teil des Landes ist mit Obstkulturen bedeckt. Nur in den flacheren Landstrichen mit feuchterem Boden wird Getreide und Gemüse gezogen. Dabei herrscht eine primitive Zweifelderkultur vor. Pacht oder Halbpacht gibt es fast nur für Getreidebau und Weidewirtschaft, oder dort, wo der Besitzer ehemaliges Weide- und Getreideland in Obstkulturen umwandelt. In diesen Fällen liefert der Besitzer den Pächtern den Samen, die Pflanzen und was sonst zur Anlage dieser Kulturen notwendig ist. In den ersten fünf Jahren braucht der Pächter keinen Zins zu bezahlen. Aber er hat auch nicht viel von dem Boden, der so bewirtschaftet werden muss, dass die jungen Obstbäumchen sich gut entwickeln. Vom sechsten bis zum neunzehnten Jahr muss der Pächter die Hälfte der Ernte an den Besitzer abliefern. Im zwanzigsten Jahr gehen die inzwischen großgewordenen Obstgärten in die alleinige Nutznießung und direkte Bewirtschaftung des Besitzers über.
Die Obstkultur ist sehr einträglich. Der Boden trägt hier 150 bis 300 Doppelzentner Orangen und 250 bis 350 Doppelzentner
Zitronen pro Hektar. Unter diesen Umständen haben die Besitzer kein Interesse daran, die Obstgärten, sobald sie voll ertragfähig sind, weiter in Pacht oder Halbpacht zu geben. Sie ziehen es vor, mit billigen Tagelöhnern zu wirtschaften. Tagelöhner sind infolgedessen auch die meisten der Stadtbewohner. Allein in Lentini und Carlentini gibt es deren etwa je sechs- bis siebentausend. Nach dem Kriege setzte einmal im Verlauf der Aufteilung von etwa zehn der alten Feudalbesitze ein Prozess der Bildung von Produktionsgenossenschaften durch Bauern ein, die mit den während des Krieges gemachten oder aus der Emigration zurückgebrachten Ersparnissen Land erwarben und gemeinsam bewirtschafteten. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen es sich vorwiegend um die von der Regierung unterstützten faschistischen Genossenschaften ehemaliger Kriegsteilnehmer handelt, sind diese Bildungen von den sich modernisierenden großen Besitzungen niederkonkurriert worden. In den von den faschistischen Gewerkschaften aufgesetzten Kollektivverträgen ist die Bezahlung der Tagelöhner mit durchschnittlich 1,50 Lire pro Stunde festgesetzt. Aber diese Normen stehen nur auf dem Papier. Tatsächlich bestimmt die „Piazza", der Marktplatz, auf dem sich die Tagelöhner verkaufen, die Höhe des Lohnes. Der tatsächliche Lohn bewegt sich auch hier zwischen acht und zehn Lire pro Tag. Die Zeiten, wo der freie Handel um die Arbeitskraft sich zugunsten der Arbeiter auswirkte, sind längst vorbei. Durch den ständigen Zuzug aus den größeren Städten, aus denen die „nichtzuständigen" Arbeitslosen in ihre Heimatsorte abgeschoben werden, entsteht ein wachsendes Überangebot an Arbeitskräften, das auf den Lohn drückt. Gleichzeitig vollzieht sich in der letzten Zeit ein Prozess der Mechanisierung der Landwirtschaft, der allerdings vorwiegend die Getreidewirtschaft betrifft. Im Gebiet von Lentini gibt es jetzt bereits viele Traktoren mit kompliziertem Anhang. Sie machen die Halbpächter, die mit dem Holzpflug arbeiten, überflüssig, und wieder wächst die Zahl derer, die als Tagelöhner auf der „Piazza" Arbeit suchen gehen.
Tagelöhner, Tagelöhner, Tagelöhner! Ich habe sie auf der ganzen weiteren Reise nicht mehr aus den Augen verloren, wo immer auch ich das Land aufsuchte. In Kalabrien und Apulien unterscheiden sich ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse in fast nichts von dem, was ich in Sizilien vorgefunden hatte. Überall dieselbe Zusammendrängung des Landvolks in den hochgelegenen Städten, dieselben endlos weiten Wege zu den Feldern, dieselbe Methode des Verkaufs der Arbeitskraft auf der „Piazza", dieselben elenden Löhne, Wohn- und Ernährungsverhältnisse. Erbarmungslos nützen die faschistischen Grundherren und ihre Handlanger in den Städten die wachsende Arbeitslosigkeit und die zunehmende Agrarkrise dazu aus, die Lebensbedingungen dieser Parias ständig zu verschlimmern.

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