WORAUF KOMMT ES AN?
Die letzte Zeit hat uns eine neue Italienliteratur gebracht. In der Zahl der Reisebücher über Italien sind einige erschienen, die sich bemühen, das „Wesen" des italienischen Volkes und seiner Kultur zu deuten. Derartige Versuche, „geheimnisvolle tiefe Kräfte" zu finden, die die Geschicke dieses Landes bestimmen und es angeblich mit Deutschland verbinden sollen, sind höchstens interessant zur Charakteristik bestimmter kleinbürgerlicher Schichten in Deutschland, die aus der „rauen Wirklichkeit" in tiefsinnige Phantasien flüchten.
Größere Bedeutung kommt einer Reihe von Veröffentlichungen über das faschistische Italien zu. Fast alle diese Bücher kranken daran, dass ihre Verfasser selten über Rom hinausgekommen sind und sich größtenteils auf die Dokumente des Regimes und auf das stützen, was man ihnen offiziell gezeigt hat. Den meisten dieser Autoren fehlt es an Kenntnissen über die Vorgeschichte der faschistischen Herrschaft. Sie bewundern den Kooperativstaat - aber sie haben keine Ahnung von der alten Gewerkschaftsbewegung, von ihren Problemen und großen Kämpfen. Sie rühmen die faschistische Agrargesetzgebung - aber sie haben keine Ahnung von ihren Vorgängern, von dem bereits lange vor dem Faschismus aufgebauten System der Bodenmelioration und noch weniger von Organisation und Kampf der Landarbeiter und Kleinbauern, der in der großen Massenbewegung für die Besitzergreifung der Landgüter 1920-1921 seinen Höhepunkt hatte. Sie reden von einem Aufblühen des italienischen Geistes -aber sie wissen nichts von dem großen Aufschwung, den das italienische Denken am Ende des vorigen Jahrhunderts unter dem Einfluss des Marxismus und des Positivismus genommen hat, sie kennen nicht die Rolle der Sonnino, Lombroso, Mosca, Ferri, Croce, Labriola, um nur einige zu nennen, und noch viel weniger
die Wiedergeburt des revolutionären Marxismus in der jungen Kommunistischen Partei Italiens.
Die Hauptquelle für die Informationen der deutschen Öffentlichkeit über Italien sind allerdings nicht diese, doch wenig gelesenen Bücher. Die Kenntnis des modernen Italiens stützt sich in Deutschland vielmehr vorwiegend auf die, sei es in der Tagespresse erscheinenden, sei es mündlich überlieferten Darstellungen mehr oder weniger eiliger Reisender. Die Methode dieser Darstellungen ist einfach: Die Berichterstatter kennen das Italien aus der Zeit vor der faschistischen Herrschaft als das Land der Museumsführer, Hotelportiers, Makkaroniesser und schönen Fischerknaben. Der Durchschnittsreisende erfreute sich an diesen Herrlichkeiten, indem er gleichzeitig über die Unpünktlichkeit der Züge, die Flöhe in den Hotels, die schlechte Organisation der I Museen und die Bummligkeit der Beamten schimpfte. Wenn ein solcher Reisender heute Italien wieder besucht, so ist er tief erstaunt und erschüttert über die „großen Wandlungen", die vor sich gegangen sind. Die Züge kommen und gehen pünktlich, in der Mehrzahl der Hotels gibt es fließendes Wasser und kein Ungeziefer mehr, die Museen sind neugeordnet, die Ausgrabungen in erstaunlichem Maße weitergetrieben, und sogar die Beamten zeichnen sich durch Höflichkeit und Mangel an Bürokratismus aus. Bedarf es dann noch eines Beweises, dass der Faschismus 1 dem Lande Wohlstand und Segen gebracht hat? Die gescheiteren unter den Faschisten selbst machen sich über diese Art von Verherrlichung des Faschismus lustig. In einem Artikel über die Grundsätze des Faschismus schreibt der junge Minister für das Korporationenwesen Giuseppe Bottai: „Aus Italien heimgekehrte Reisende, die sich an den Verbesserungen der öffentlichen Einrichtungen und an der Wiederkehrt normaler Lebensbedingungen erfreut hatten, schlossen daraus, in erstaunlich einfacher Denkmethode, der Faschismus sei der Ordner der Eisenbahnfahrpläne und der Erneuerer der Beamtendisziplin.... Nichts für ungut, meine Herrschaften, Italien ist eben ein wenig das Opfer jener Vorliebe geworden, die so viele Kritiker für farbige Schilderungen empfinden. Haben doch noch vor gar nicht langer Zeit die allerabgebrauchtesten und unglücklichsten Klischees in bezug auf Italien auch bei intelligenten
Betrachtern Anklang gefunden. Man bedenke, dass, seitdem die farbigen Schilderer auf die Klischees der Briganten und Mandolinenzirper verzichten mussten, sich viele bei der Anfertigung brillanter Visionen aus Italien ihrer besten Hilfsmittel beraubt sahen. Natürlich musste unter solchen Umständen auch der Faschismus zur Farbengebung herhalten. Aber, noch einmal, nichts für ungut, meine Herrschaften!"
Klischees beherrschen jedoch nicht nur die Schilderungen der wohlwollenden Darsteller des modernen Italiens. Auch die kritische Literatur über den Faschismus in Italien krankt an diesem Übel. Die Klischees entstammen der Fabrik der demokratischliberalen Antifaschisten. Und da die von ihnen verbreiteten Vorstellungen über Italien überall in der antifaschistischen Öffentlichkeit außerhalb Italiens verbreitet sind, ist es notwendig, sich kurz mit ihnen auseinanderzusetzen.
Als Typus dieser Art von Darstellungen kann das Buch gelten, das der junge, durch einen literarischen Preis etwas gar zu schnell berühmt gewordene französische Autor Maurice Bedel unter dem Titel „Philippine" veröffentlicht hat. Wie sehr seine Darstellung den Bedürfnissen des demokratischen Spießers entgegenkommt, beweist der Umstand, dass dieses Buch es innerhalb weniger Monate auf eine Auflage von 75000 Exemplaren gebracht hat.
Philippine ist die Tochter eines eingefleischten französischen Demokraten, der nach Italien als dem Land der Verwirklichung seiner Ideale von Autorität und männlicher Ordnung fährt. Die Erlebnisse dieses Paares in Rom sollen ein Bild von dem faschistischen Regime, wie es wirklich ist, geben.
In der ganzen Darstellung Herrn Bedels erscheint Italien als das Land, in dem die herrliche Demokratie beseitigt und durch ein Regime des Polizeiterrors und Überwachung aller Bürger auf Schritt und Tritt ersetzt ist. Die Einschränkung der persönlichen Freiheit, dargestellt in der Karikatur des Überwachungssystems, dem angeblich jeder Mensch in Italien ausgesetzt ist, wird in dieser Darstellung zum eigentlichen Verbrechen des Faschismus. Und diese Vorstellung ist tatsächlich weit verbreitet. Wenn man das Wort Faschismus hört, steigen einem zuerst diese Vorstellungen auf.
Ich muss gestehen, dass auch ich vor meiner Reise der Suggestion dieser Auffassung unterlegen war. Sogar eine Reihe von Freunden, die ich für gute Kenner der Verhältnisse hielt, hatte mich graulich gemacht und die Meinung geäußert, dass mein Plan, das Land so kennenzulernen, wie ich beabsichtigte, auf unüberwindliche Hindernisse stoßen würde. Es genügten wenige Tage, um mich davon zu überzeugen, wie falsch und irreführend diese Vorstellungen sind. Gewiss besteht ein System der Überwachung, das über das Maß dessen hinausgeht, was man aus anderen europäischen Ländern kennt. Aber diese Überwachung hat einen sehr beschränkten Wirkungskreis: Das ist ja eben der große Unterschied zwischen der faschistischen Diktatur und der Diktatur des Proletariats. Im Faschismus wird die Diktatur im Interesse der gesteigerten Ausbeutungspolitik des Finanzkapitals ausgeübt durch eine Gesellschaft von privilegierten Kleinbürgern, die als Fremdkörper auf dem Volke sitzt und als kleine Minderheit gar nicht imstande ist, wirklich in die Massen des werktätigen Volkes und sein Leben einzudringen. In der Sowjetunion ist es eben diese Masse selbst, die die Diktatur ausübt. Die proletarische Diktatur ist tief verwurzelt in der werktätigen Bevölkerung in Stadt und Land. Sie hat ebenso viel freiwillige Helfer wie sie Werktätige zählt. Spricht man in der Sowjetunion mit einem Arbeiter oder Bauern, so spricht man sofort mit der ganzen proletarischen Diktatur. Die besonderen Organe zum Schutze dieser Diktatur, die Miliz und die Sicherheitsorgane, haben nur ganz begrenzte und durch die Methoden der Konterrevolution bestimmte Sonderaufgaben. Und auch zu ihrer Erfüllung sind diese Organe nicht auf sich selbst und auf ihre Bewachungstechnik angewiesen, sondern stützen sich auf die Mithilfe der breitesten Massen.
Unter der faschistischen Diktatur kann hiervon nicht die Rede sein. Die besonderen Überwachungsorgane, Miliz, Polizei der öffentlichen Sicherheit, Gendarmerie und politische Geheimpolizei, sind für die werktätigen Massen Feinde. Ihre Tätigkeit ist ja zum größten Teil eben gerade gegen diese Massen gerichtet. Von ihnen hat der faschistische Überwachungsapparat keine Hilfe, sondern nur alle Arten von Schwierigkeiten zu erwarten. Wer das weiß hat es leicht, eben gerade mit Hilfe der Massen der Werktätigen sich den Überwachungsorganen zu entziehen.
Noch einmal: Das System der Bespitzelung besteht in Italien und gehört zum Regime. Der Faschismus könnte ohne es nicht auskommen. Aber es macht nicht das Wesen der faschistischen Herrschaft aus, wie es uns die demokratischen Kritiker des Faschismus in der Art des Herrn Bedel weismachen wollen.
Die Unfähigkeit der demokratisch-liberalen Kritiker, die ganze Wirklichkeit der faschistischen Herrschaft zu erfassen, hat ihre guten Gründe. Was würden denn diese Leute tun, wenn sie plötzlich in Italien das Erbe des Faschismus antreten würden? Sie würden an den wirtschaftlichen Grundtatsachen nichts ändern. Sie würden, wie wir es in Spanien sehen, das Privateigentum auch weiterhin für heilig erklären, würden die Grundbesitzer, Fabrikanten und Bankiers im Besitz der Produktionsmittel lassen und damit von vornherein alle die Maßnahmen segnen, die die kapitalistische Wirtschaft gegenüber den werktätigen Massen treffen muss, wenn Ruhe, Ordnung und Wohlstand des Volkes im kapitalistischen Sinne erhalten werden sollen. Sie würden nur die formale Demokratie herstellen, weise eingeschränkt durch Ausnahmegesetze, Notverordnungen und dergleichen. Die Beschränktheit ihrer Betrachtungsweise beruht auf der Beschränktheit ihrer Klasseninteressen. Ich habe auch auf dem Gebiet der Überwachung der öffentlichen Meinung vieles erlebt, was der Durchschnittsreisende nicht sieht. Ich hätte meine Aufmerksamkeit auf diese Dinge konzentrieren und dann ein ganzes Buch mit Kriminalgeschichten füllen können.
Aber darauf kam es nicht an! Denn das ist nicht die Hauptsache!
Es kam darauf an, die eigentlichen Wurzeln, den eigentlichen Inhalt der faschistischen Herrschaft zu ergründen. Es kam darauf an, diesem System Mussolinis, das sich als System der Überwindung des Klassenkampfes hinzustellen liebt, die Maske abzureißen und zu zeigen, welche Klasse hinter der faschistischen Maske die wirkliche Herrschaft ausübt. Es kam darauf an, festzustellen, was diese Herrschaft tatsächlich für die Lage der werktätigen Massen bedeutet.
Gewiss, das „öffentliche Leben", die Eisenbahngespräche, die Cafés, die Parks, Theater usw. gehören mit zu der ganzen Wirklichkeit Italiens, die es galt kennenzulernen. Aber das alles ist Oberfläche. Das eigentliche öffentliche Leben spielt sich in den Betrieben, auf den Landgütern, in den Dörfern und den Arbeitervierteln der großen Städte ab. Was geschieht hier? Was hat der Faschismus hier Neues gebracht? Aus der Klassenkonstellation in Italien ergaben sich jene großen Kämpfe, die das Land in der Jahren 1920/21 so nahe an die sozialistische Revolution heranbrachten wie kein anderes europäisches nach Russland. Aus diesen Kämpfen hat sich der Faschismus entwickelt. Er hat schließlich gesiegt und die Herrschaft angetreten. Was hat er mit diesen treibenden Kräften der Entwicklung des italienischen Volkes gemacht? Wie hat er sich zu den halb mittelalterlichen und halb hochkapitalistischen Ausbeutungsformen in Stadt und Land gestellt? Welche Faktoren hat er gestärkt und begünstigt, welch< unterdrückt oder zerstört? Das sind die Fragen, auf die meine Reise Antwort geben sollte. Die Veränderungen und Entwicklungstendenzen in dieser tiefsten Schicht des „öffentlichen Lebens" galt es zu ergründen.
So betrachtet war und ist Italien ein unbekanntes Land. Von diesem im eigentlichsten Sinn „unbekannten Italien" wollen wir nun ein Stück kennenlernen. |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |