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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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FREIE HAND DEN INDUSTRIELLEN

Einer der letzten Besuche, die ich dem norditalienischen Industriegebiet abstattete, galt der Stadt Biella. Am Fuße der Alpen ist hier im Laufe von Jahrhunderten das Zentrum der Wollindustrie, das italienische Lancashire, entstanden. Zwei Faktoren haben sich zusammengefunden: die Wolle der im Alpenvorland gezüchteten Schafe und das Wasser der Gebirgsbäche, das sich in dieser Gegend hervorragend zur Wollwäscherei eignet. Diese Grundlagen haben sich längst verschoben. Die italienische Schafzucht geht ständig zurück. Über achtzig Prozent der jetzt im Gebiete von Biella verarbeiteten Rohstoffe kommen aus Australien und Südamerika. Die Wollwäscherei ist längst technisiert, und das Gebirgswasser spielt nicht mehr die entscheidende Rolle. Aber die Wollindustrie hat sich trotzdem im Biellese ununterbrochen mächtig entwickelt und ist jetzt eine der wichtigsten Exportindustrien Italiens, die nach wie vor England und Deutschland auf dem Weltmarkt erfolgreich Konkurrenz macht. Die Städtchen des Biellese liegen inmitten eines Kranzes von Vorbergen, die in die schneebedeckten Alpen übergehen, und sind in ein reiches, auch hier bis zum letzten Flecken ausgenutztes Ackerland eingebettet.
Ich hatte vorher verschiedene andere Industriegebiete, die Textilindustrie von Neapel, die Schwefelindustrie von Sizilien und die Metallindustrie von Turin aufgesucht, aber es war mir weder aus diesen Besuchen, noch aus der Lektüre der Presse klargeworden, welches eigentlich die faschistische Politik gegenüber der Industrie sei.
Als ich in einem großen Saal des prächtigen Palastes, in dem die Leitung des Verbandes der Wollindustriellen ihren Sitz hat, dem Sekretär dieses Verbandes, Dr. D., gegenübersaß, stellte ich ihm deshalb ohne weiteres die Frage, welche Vorteile die Industrie und insbesondere seine Industrie von dem neuen Regime, von dem System der Korporationen, habe.
Dr. D. war durch meine Frage sichtlich verwirrt. Er gab zu, dass sie präzise gestellt sei, meinte aber, dass es trotzdem schwer sei, sie zu beantworten. Er musste eine Weile nachdenken, ehe er folgendes sagte:
„Wenn ich es recht überlege, so besteht der eigentliche direkte Nutzen in der wiederholten Herabsetzung der Löhne. Auf Grund der Anordnungen, die man in Rom getroffen hat, wurden die Löhne mehrere Male von einem Tag auf den andern heruntergesetzt. Das ging ganz glatt vonstatten. Die Vertreter der Parteien versammelten sich, und nach kurzer Diskussion waren die Beschlüsse gefasst. So etwas, sehen Sie, ist bei Ihnen natürlich nicht möglich. Da kommt es dann jedesmal zu langen Verhandlungen, zu Kämpfen, Aussperrungen und Streiks, die immer mit großen Verlusten verbunden sind. Diese Verluste sind uns erspart worden."
Er machte eine Pause, indem er wartete, bis ich mir seine Angaben notiert hatte. Und dann fuhr er fort: „Aber das ist auch ein zweischneidiges Schwert. Sie wissen, dass wir zum großen Teil für den Export arbeiten. Im Zusammenhang mit den großen Preisstürzen auf dem Wollmarkt hat diese Lohnsenkung unsere Exportmöglichkeiten sehr verbessert. Aber wir arbeiten doch nicht nur für den Export. Gerade während der Wintermonate haben wir einen ziemlich starken Absatz im Lande selbst. Und hier zeigte sich die Kehrseite der Medaille. Wäre die Lohnsenkung nur für die Wollindustrie durchgeführt worden, so wäre alles in Ordnung gewesen. Aber wie Sie wissen, wurden die Löhne und Gehälter überall in Stadt und Land gleichzeitig herabgesetzt, und zwar gerade zu Beginn der Wintersaison. Der Erfolg war ein Rückgang unseres Absatzes auf dem Innenmarkt um dreißig bis vierzig Prozent. Wahrscheinlich ist der Rückgang sogar noch größer, weil viele Grossisten ihre Bestellungen gemacht hatten, bevor die Einschränkung des Innenmarktes fühlbar wurde. Da sehen Sie, dass es nicht so einfach ist." „Aber da hat Ihnen doch sicher der Staat, der ja durch seine Lohnreduktionen die eigentliche Ursache der Verschlechterung Ihrer Konjunktur ist, irgendeine Hilfe geleistet. Ich habe gesehen, in wie großem Umfang der Staat zum Beispiel der bedrängten Landwirtschaft zu Hilfe kommt. Gibt es ähnliches auch für die Industrie?"
„Das ist es ja eben: Die Industrie bekommt keinerlei derartige Unterstützungen. Die ganze Aufmerksamkeit des Staates ist der Landwirtschaft gewidmet, und wir haben darunter oft unmittelbar zu leiden. Nehmen Sie zum Beispiel die hohen Schutzzölle für Getreide, die den Weizenanbau fördern. Wir müssen dafür büßen, indem wir gezwungen sind, immer mehr Wolle aus dem Ausland zu importieren. Denn die Landwirte verwandeln immer mehr Weideland in Weizenfelder. Aber ich will auf Ihre Frage antworten: Der Staat ist uns in unserer schwierigen Lage doch entgegengekommen. Er pflegt uns zu Beginn des Sommers immer große Posten von Wollgewebe für den Heeresbedarf abzunehmen. Damit kommen wir durch diese Zeit, in der der Innenabsatz sonst naturgemäß zurückgeht. In diesem Jahre hat die Heeresverwaltung diese Bestellungen nun vordatiert. Aber, sehen Sie, auch das ist wieder eine zweischneidige Sache." Dr. D. blickte mich an und lächelte ironisch. „Der Staat hat dabei ein gutes Geschäft gemacht. Wir mussten in unserer Zwangslage natürlich die Stoffe billiger abgeben als sonst. Der Staat hat dabei gut verdient, und für uns war es ein zweifelhaftes Geschäft, denn die Bestellungen waren ja nur vordatiert. Die Heeresverwaltung hat ihre Bestände jetzt aufgefüllt, und wenn der Sommer kommt, werden uns die sonst üblichen Heeresbestellungen fehlen."
Dr. D. war der Typus des klugen, welterfahrenen, jungen Industriellen. Er kam viel in Europa herum, besuchte jedes Jahr Deutschland und England, und seine Gedanken gingen offenbar weiter als die der faschistischen „Wirtschaftspolitiker". Wir kamen bald in eine angeregte nationalökonomische Diskussion, in deren Verlauf Dr. D. sich recht kritisch über die Agrarpolitik der Regierung äußerte, die im Zusammenhang mit der eben in Rom stattfindenden Welt-Weizenkonferenz wieder lebhafter in der Presse diskutiert wurde. Er sprach sich abfällig über den forcierten Getreidebau Italiens aus, und seine Überlegungen mündeten in die Idee einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit der europäischen Völker. Ich gab ihm hierin durchaus recht, ohne natürlich meinen Standpunkt zu entwickeln, dass eine solche Zusammenarbeit praktisch nur auf sozialistischer Grundlage möglich sei.
Im Ganzen bestätigte mir diese Unterredung den Eindruck, den ich bereits beim Studium der anderen Industriezentren gewonnen hatte: Der Faschismus hat keine eigentliche Industriepolitik. Entgegen allem Gerede von der „Unterordnung der Produktion unter die nationalen Interessen" und der „Bekämpfung des Wirtschaftsliberalismus"  beschränkt er sich  gegenüber der Industrie darauf, den Industriellen freie Hand zu lassen, vor allem gegenüber den Arbeitern. Die letzten Endes immer gegen den Arbeiter gerichtete Industriepolitik Mussolinis kommt vielleicht am deutlichsten in der Frage der Rationalisierung zum Ausdruck. Man kann jeden Tag in den italienischen Zeitungen unmittelbar nebeneinander offizielle Artikel gegen eine weitere Mechanisierung und Rationalisierung der Industrie und Landwirtschaft und ebenso offizielle Artikel für die Einführung neuer und neuester Maschinen in allen Zweigen der Volkswirtschaft finden. In der Praxis haben die Industriellen freie Hand und machen ausgiebigen Gebrauch von dieser Freiheit. Wir haben schon gesagt, dass der größte Teil der italienischen Industrie mit der modernsten Technik ausgerüstet ist. Dazu kommt eine erbarmungslose Rationalisierung. Das Bedeauxsystem breitet sich aus, und die Arbeiter bekommen jeden Tag die Wirkungen der Stoppuhr auf die Akkordsätze und ihre Löhne zu spüren. Ich hatte Gelegenheit, die Auswirkungen der Industriepolitik des Faschismus an Hand des Schicksals der Arbeiter einer großen Neapolitaner Textilfabrik kennenzulernen. Am Abend des 12. März beschloss ich meine Wanderung durch die ausgedehnten Fabrikvororte im Nordosten der größten italienischen Stadt Neapel in einem kleinen Vorortkino. Es wurde ein gräulicher, uralter Film italienischer Eigenproduktion, der „Arzigogolo", gespielt. Das Publikum, das größtenteils aus Arbeitern bestand, riss Mund und Nase auf angesichts der erstaunlichen Seelenkonflikte der in Kostüme des 15. Jahrhunderts gesteckten Damen und Herren. Bald wurde der unverständliche Zimt, der auf der Leinewand abrollte, den Leuten langweilig, und um mich herum schlief einer nach dem andern ein. Vor mir
in der Reihe saß ein Arbeiferehepaar mit verschiedenen Verwandten. Auch ihnen war das Spiel längst langweilig geworden. Insbesondere aber ließ sich das kleine Kind, das die gerade vor mir sitzende, sehr hübsche junge Frau auf dem Arme trug, nicht bewegen, sich die Leinwand anzusehen. Es interessierte sich viel mehr für das Aluminiumfutteral meiner Brille, besonders nachdem sich dieses Futteral wie ein Fisch in den Ärmel seiner Jacke verbissen hatte. Wir kümmerten uns schon längst nicht mehr um das Spiel auf der Leinwand: Wir hatten unser eigenes Spiel. Auch Mutter und Vater interessierten sich mehr für den Fremden, der mit ihrem Kind spielte, als für die Seelenqual des edlen Herzogs, der für seine hartherzige Geliebte zum Lumpen und Bettler geworden war. Wir warteten das Ende des Films nicht ab und gingen hinaus. Aber das Kind wollte sich nicht von meinem Silberfisch trennen, und so mussten die Eltern auch mich, den Besitzer des Brillenfutterals, wohl oder übel mit in Kauf nehmen. Sie luden mich denn auch ein, bei ihnen zu Hause ein Glas Wein mitzutrinken.
Die Wohnung, in die wir gingen, war etwas besser als die, die ich später in den Arbeitervierteln im Zentrum der Stadt, in Palermo und anderen Orten des Südens kennenlernte. Nach den ersten, etwas genierten Fragen und Antworten über Woher und Wohin kamen wir bald unter Mitwirkung des Kindes, das mich offenbar in sein Herz geschlossen hatte, in ein freundschaftliches Gespräch. Mein Gastgeber war qualifizierter Arbeiter in der Fabrik Miani-Silvestri, die gegenwärtig etwa 1500 Arbeiter beschäftigt. Das heißt, er war qualifizierter Arbeiter gewesen. Jetzt war er es nicht mehr. Die Erklärung dieses merkwürdigen Vorgangs gab mir einen tiefen Einblick in die Methoden, die die Unternehmer mit Duldung der faschistischen Regierung gegenüber den Arbeitern anwenden.
Das „Grundgesetz der Arbeit", die „Carta del Lavoro", durch welche im faschistischen Italien die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit „geregelt" werden sollen, sagt in Punkt 24: „Die Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer sind verpflichtet, ein Auswahlverfahren unter den Arbeitern zu treffen zu dem Zweck, ihre technischen Fähigkeiten und moralischen Wert immer mehr zu heben."
Dieser Punkt nimmt sich sehr schön aus. In der Praxis der faschistischen Industriepolitik bringt er aber genau das Gegenteil von dem mit sich, was er zu bezwecken scheint. Da die faschistischen „Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer" in den Betrieben keine Vertretungen, ja nicht einmal Vertrauensleute haben dürfen, liegt die Durchführung dieses Punktes in der Hand der Unternehmer, und diese verwenden die Bestimmung dazu, um. die Arbeiter planmäßig aus einer höheren Qualifikationsstufe in eine tiefere herabzusetzen und auf diese Weise über die offiziell angeordneten Lohnherabsetzungen hinaus neue Kürzungen der Löhne bei den einzelnen Arbeitern vorzunehmen. „Passen Sie einmal auf, wie das gemacht wird", sagte mir mein Gastgeber. „Die Faschisten haben in jedem Betrieb eine Anzahl von Duckmäusern um sich gesammelt. Das fällt ihnen nicht schwer: Bei der allgemeinen Not finden sie immer einige Arbeiter, die mit Rücksicht auf ihre Familien sich bereit finden, gegenüber der Masse der andern Arbeiter die Lohndrücker zu spielen. Diese Arbeiter fahren ja nicht schlecht dabei. Sie bekommen besondere Prämien und Zulagen. Die Lohnsätze, die in den Kollektivverträgen enthalten sind, stehen ja nur auf dem Papier. In Wirklichkeit verhandelt die Administration mit jedem Arbeiter einzeln über seinen Lohn. Da gibt es das ,schwarze Kabinett', in dem die Faschisten mit den Unternehmern zusammen alles aushecken. Und da gibt es gar keine Kontrolle. Die Gewerkschaften stecken ja mit den Unternehmern unter einer Decke. Die Sekretäre sind ja alles zuverlässige Faschisten. Und außerdem könnten sie auch gar nichts machen, weil sie offiziell keine Vertreter im Betrieb haben. Die Einordnung des Arbeiters, der angestellt wird, in eine bestimmte Kategorie erfolgt im ,schwarzen Kabinett' und dann in den Einzelverhandlungen mit der Verwaltung. Hier werden auch die Prämien festgesetzt. Und jetzt lassen die Unternehmer ihre prämiierten Günstlinge sich abrackern, um neue Arbeitsnormen herauszukriegen. Wie das vor sich geht, wissen wir gar nicht einmal. Wer soll das kontrollieren? Wir sehen nur, dass diese Arbeiter meistens an die neuesten Maschinen gestellt werden und die besten Rohstoffe oder Halbfabrikate bekommen. Damit kann natürlich jeder bessere Resultate erzielen! So werden dann neue Akkordnormen aufgestellt und den entsprechenden Kategorien zugrunde gelegt. Jeder Arbeiter, der hier nicht mitkommt, wird einfach in eine tiefere Kategorie versetzt. Damit hat man jetzt bei uns angefangen."
„Aber lassen sich denn die Arbeiter das so ohne weiteres gefallen? Und können die Gewerkschaftsfunktionäre dazu einfach schweigen?"
Ja, wissen Sie, der Unternehmer ist schlau. Er hat diese Maßnahmen nicht auf einmal durchgeführt. Es hat vor vierzehn Tagen in der Abteilung begonnen, wo hauptsächlich Frauen beschäftigt sind. Vorige Woche kam unsere Abteilung dran. Und so wird wohl in den nächsten Wochen der ganze Betrieb dran glauben müssen. Und die Gewerkschaften? Die Stimmung der Arbeiter ist sehr erregt. Man redet schon davon, dass man passiven Widerstand anwenden will. Aber Sie wissen ja, wie es bei uns mit den Streiks ist. Rühr dich - und du kannst einen Besuch auf den Inseln machen! Ein paar von unseren Arbeitern, die noch an die Faschisten glauben, haben übrigens eine Delegation zum Gewerkschaftssekretariat geschickt. Da hat man ihnen Honig ums Maul geschmiert. Man hat ihnen erzählt, dass der Gewerkschaftssekretär Ricchizzi dieser Tage nach Rom fahren würde, um für die Arbeiter ein Wort einzulegen. Aber es ist natürlich Schwindel. Wir sehen den Ricchizzi jeden Tag bei unserm Unternehmer ein und aus gehen. Und was soll er schon aus Rom mitbringen? Die Unternehmer können ja sowieso machen, was sie wollen! Aber ich glaube, diesmal werden es sich unsere Arbeiter doch nicht gefallen lassen."
Ich verließ diese Familie spät in der Nacht. Erst sehr viel später, kurz vor meiner Abreise aus Italien, erfuhr ich von einem Genossen in Biella, dass es tatsächlich später in der Fabrik zu einem Streik gekommen ist. Aber er wurde niedergeschlagen. Derselbe Ricchizzi, der gar nicht nach Rom gefahren war, hatte selbst Gendarmerie und Milizionäre in die Fabrik mitgebracht und ließ die Arbeiter auseinanderjagen.
Die Industriellen haben eben freie Hand. Sie können mit den Löhnen, mit der Arbeitszeit schalten und walten, wie sie wollen. Der Achtstundentag ist „im Interesse der Nation" längst aufgegeben und in einen Neunstundentag verwandelt worden. Über-
stunden müssen höher bezahlt werden. Das ist richtig. Aber angesichts des niedrigen Standes der Löhne fallen die Zuschläge der Unternehmer kaum ins Gewicht. Und ich habe keine Lohntüte gesehen, auf der nicht Überstunden verzeichnet gewesen wären.
Schon das „Grundgesetz der Arbeit" öffnet der Willkür der Unternehmer hinsichtlich der Löhne Tür und Tor. Es heißt zwar in Punkt 12 der „Carta del Lavoro":
„Die Tätigkeit der Gewerkschaft, das vermittelnde Einwirken der korporativen Organe sowie die Urteile des Arbeitsgerichts garantieren, dass der Lohn den normalen Lebensbedingungen, den Produktionsmöglichkeiten und dem Arbeitsertrag entspricht."
Aber diese schon durch die Einführung der Berücksichtigung der „Produktionsmöglichkeiten" und des „Arbeitsertrages" eingeschränkten Bestimmungen werden vollends aufgehoben durch den Zusatz:
„Die Festsetzung des Lohnes wird jeder allgemeinen Norm entzogen und dem Einvernehmen der Parteien in den Kollektivverträgen überlassen."
Auf diese Weise kommen jene Hungerlöhne zustande, die schon auf dem Papier niedrig genug sind und die sich in Wirklichkeit fast immer auf dem Niveau der Mindestlöhne und der untersten Kategorien halten. Insbesondere wird der Grundsatz sehr weiter Abstände zwischen den höchstqualifizierten Arbeitern und den Hilfsarbeitern und Frauen verfolgt.
Ich habe mir aus den Angaben von Arbeitern in verschiedenen Gebieten folgende Stundenlöhne notiert:
In den Granit- und Marmorbrüchen in Sizilien: In den Granitbrüchen:

Vorarbeiter

2,75 Lire

 

Arbeiter im Steinbruch

 

 

1. Kategorie

2,30  „

 

2. Kategorie

2,-  „

 

Hilfsarbeiter

1,40  „

 

Gesellen von 16-18 Jahren

1,20   „

 

Jugendliche unter 16 Jahren

0,65  „

 

1 In der Steinsägerei:

1,70

Lire

i;  In den Marmorbrüchen:

 

 

Bildhauer

3,70

 

Stein metze

2,05-

-2,40 Lire

Lehrlinge

0,95

Lire

In den Kalk- und Ziegelbrennereien der Romag

na:

 

Für Erdarbeiten:

 

 

1. Kategorie

2,05

Lire

2. Kategorie

2,—

»»

Gesellen von 16-18 Jahren

1,95

»»

Jugendliche unter 16 Jahren und Frauen

 

 

1. Kategorie

1,35

tt

2. Kategorie

1,25

tt

Fabrikation von Spezialmaterial:

 

 

Männer 1. Kategorie

2,35

tt

Männer 2. Kategorie

2,25

19

Gesellen von 16-18 Jahren

2 —

Jugendliche bis 16 Jahre

1,20

Hilfsarbeiten beim Verladen:

 

 

Jugendliche bis 17 Jahre und Frauen

 

 

1. Kategorie

1,50

tt

2. Kategorie

1,40

*>

In den Wasserwerken von Venedig:

 

 

Höchstqualifizierte Monteure

4-

Lire

Schlosser

2,80-

3,20 Lire

Hilfsarbeiter über 18 Jahre

1,95

Lire

Lehrlinge unter 18 Jahre

0,80

»»

In Metallfabriken im Aostatal:

 

 

Arbeiter höchster Spezialisierung

3,20

Lire

Qualifizierter Arbeiter

2,45

)>

Gelernter Hilfsarbeiter

2,10

 

Ungelernter Hilfsarbeiter

1,90

tt

Lehrlinge von 18-20 Jahren

1,20

tt

Lehrlinge unter 18 Jahren

0,90

 

Frauen

0,90

tt

Kinder

0,47

 

Die Textilarbeiterinnen in Turin und Biella, die noch 1930 vierzehn bis fünfzehn Lire am Tage verdienten, sind nach den neuesten Lohnkürzungen bei acht bis neun Lire täglich angekommen. Diese Zahl ist übrigens das „Verdienst" der faschistischen Gewerkschaften. Die Unternehmer hatten 7,50 Lire Tagelohn gefordert!
Um diese Löhne aber richtig verstehen zu können, muss man noch in Betracht ziehen, dass ein großer Teil der Fabriken nur schichtweise arbeitet.
In der kleinen Industriestadt San Giovanni, die zwischen Arezzo und Florenz im Arnotal liegt, erzählten mir die arbeitslos auf den Straßen herumstehenden Arbeiter, dass von den vielen im Orte befindlichen Fabriken nur eine, das Hüttenwerk, ihre Arbeiterzahl erhalten habe, sie aber nur zwölf Tage im Monat beschäftige. Die Glasfabrik und die keramische Fabrik liegen ganz still. Die Baumwollspinnerei und -weberei, in der sechs bis acht Lire Tagelohn gezahlt werden, arbeitet nur drei Tage in der Woche. Ähnlich lauteten die Berichte aus Umbrien, aus Neapel und aus einer ganzen Reihe von Industriezweigen im Norden. Gedeckt durch die Phrasen vom Korporativsystem, lässt die faschistische Regierung also den Industriellen jede Freiheit bei der Verschärfung der Ausbeutung durch Rationalisierung, Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzung. Aber sie tut mehr: Durch direkte Anweisungen der zentralen Stellen und durch die Gewerkschaften ermuntert und fördert sie dieses ganze Raubsystem.

 

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