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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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DIE „ELITE"

Die in- und ausländischen Theoretiker des Faschismus stellen die Behauptung auf, dass die Politik der italienischen Regierung, deren Wirkung auf die Lage der werktätigen Massen wir kennengelernt haben, in den Händen einer „Elite" liege, die den einzig wahren Fortschritt des italienischen Volkes im Auge habe. Gemeint ist mit dieser Elite die Faschistische Partei. Was ist nun diese Partei? Wie setzt sie sich zusammen, wer gehört ihr an, und wie ist ihr innerer Mechanismus?
Es genügt, mit offenen Augen durch das Land zu gehen, um zu sehen, wer die Faschisten sind.
Man muss einen Unterschied machen zwischen den offiziellen Leitern der faschistischen Politik, ihren wirklichen Leitern und der Masse der faschistischen Parteimitgliedschaft, in deren Händen die Durchführung der Politik bis hinein ins letzte Dorf liegt. An der Spitze der Partei und in den leitenden Staatsämtern sitzen größtenteils „alte Faschisten" (das heißt Leute, die seit Beginn der faschistischen Bewegung sich in ihr irgendwie hervorgetan haben). In diesen Stellen geht allerdings ein schneller Wechsel vor sich. Die Parteisekretäre, die Mitglieder des „Großen Rates", die Provinzsekretäre usw. wechseln außerordentlich häufig. Hier findet eine ständige „Auslese" statt. Untersucht man, welche Gesichtspunkte diese Auslese bestimmen, so kommt man sehr schnell auf die eigentlichen Leiter der Politik des faschistischen Italiens.
Es ist nicht schwer zu erraten, wer diese eigentlichen Herrscher sind. Der Klasseninhalt der faschistischen Politik deutet auf sie hin: Es sind die Großgrundbesitzer, die Leiter der großen industriellen Verbände und Unternehmungen, und die Herren, in deren Händen sich das Finanzkapital konzentriert. Der Großgrundbesitz befindet sich in Italien heute noch zu einem großen Teil in den Händen der alten Adelsfamilien. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn man Grafen und Barone mit alten, aus der Geschichte Italiens bekannten Adelsnamen überall im Lande an entscheidenden Stellen findet. Geht man die Liste der Gouverneure und der Podestà der großen Städte durch, so stößt man überall auf diese Namen: Die Buoncompagni, Mondrone, Spadafora, Scierina und wie sie alle heißen, sind als von der Regierung eingesetzte Präfekten und Stadtoberhäupter an die Stelle der von den Gemeinden gewählten bürgerlichen Regierungspräsidenten und Bürgermeister getreten. Es ist oft komisch zu sehen, wie die Faschisten diese adligen Herren umwerben. Mussolini, der ehemalige Sozialist und Republikaner, liebt es ganz besonders, sich in Gesellschaft dieser Fürsten und Herzöge zu zeigen. In seinem Privatleben ahmt er ihre Sitten nach. Er bemüht sich krampfhaft, sich immer als hoffähig zu zeigen, und wenn ihm die Revolution dazu Zeit lässt, wird er sicher in absehbarer Zeit zu dem ihm von seinen Anhängern verliehenen Titel des „Duce" (des Herzogs) einen „wirklichen" Fürstentitel verliehen bekommen. Seinen ehemaligen Freund und Mitkämpfer, den Dichter d'Annunzio, hat er ja schon selbst mit dem phantastischen Titel eines „Fürsten vom Schneeberg" auszeichnen lassen.
Aber nicht nur die Leitung der Staats- und Gemeindegeschäfte ist tatsächlich den kapitalistischen Mächtigen des Landes ausgeliefert. Auch bei der Zusammensetzung und Leitung der Partei selbst haben die Großgrundbesitzer, Fabrikanten und Bankiers ihre Hand im Spiele. Sie haben es natürlich nicht nötig, in eigener Person leitende Stellen in der Partei einzunehmen. Sie begnügen sich damit, das Parteiabzeichen zu tragen und im Übrigen dafür zu sorgen, dass ihnen treue und ergebene Leute zu Funktionären der Partei und der übrigen faschistischen Organisationen ernannt werden. Wie das geschieht, ist jüngst bekannt geworden durch den Beschwerdebrief, den ein Turiner Faschist, ein Mann von der „alten Garde" namens Renato Burrini, an Mussolini geschrieben hat. In diesem Brief schildert Burrini, wie der Turiner Großindustrielle, der Baron Mazzonis (es ist derselbe, in dessen einer Fabrik im Jahre 1919 die erste Besetzung eines Betriebes durch die Arbeiter erfolgte!), die Reorganisation der Faschistischen Partei von Turin dazu benutzt hat, um seine Günstlinge an alle Stellen zu bringen, wo er im Interesse seiner Industrie ergebene Diener brauchte. Mazzonis bediente sich hierbei seines Freundes, des Grafen di Robilant, der kurz vorher von der Parteizentrale zum Provinzsekretär für Turin ernannt worden war. Die Reorganisation wurde recht gründlich durchgeführt. Zu Podestà der Kreisstädte Pinerolo und Rivarolo, in deren Gebiet die Betriebe Mazzonis' liegen, wurden ein Turiner Spekulant, Bonade Bottino, und ein ausgemachter Trottel, der Marquis Carlo Scarampi, ernannt. Ebenso wurden die Posten des Leiters des Provinzial-Handwerker-Verbandes, des Leiters der Wirtschaftsabteilung des faschistischen Bezirksausschusses, des Vizepräsidenten der Industrievereinigung, des Kommunalkommissars von Turin usw. mit Kreaturen Mazzonis' besetzt. Der größte Teil dieser neuen Funktionäre gehörte gar nicht oder erst seit jüngster Zeit der Faschistischen Partei an. Zur gleichen Zeit wurden im Auftrage Mazzonis' radikal gestimmte Faschisten der „alten Garde" abgesetzt und zum Teil willkürlich vor Gericht gestellt, verbannt und verurteilt.
Diese Vorgänge in Turin sind typisch für ganz Italien, wenn wir auch selten einen so genauen Einblick in die Methoden der Herrschaft der Kapitalisten innerhalb des faschistischen Staates und der Partei tun können wie auf Grund dieses durch einen Zufall bekannt gewordenen Briefes von Burrini.
Die Faschistische Partei bildete sich im Jahre 1919 auf Grund eines „revolutionären" kleinbürgerlichen Programmes, das unter anderem folgende Punkte enthielt:
die Ausrufung der Republik; Volksherrschaft, ausgeübt durch ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht für beide Geschlechter; Abschaffung aller Adelstitel; Auflösung der industriellen und finanziellen Aktiengesellschaften; Umstellung der Produktion auf genossenschaftlicher Grundlage.
Um dieses Programm hatten sich die Schichten des radikal gestimmten Kleinbürgertums gesammelt, die von den Sozialisten enttäuscht worden waren. Darunter waren viele ehrlich antikapitalistische Elemente. Ein großer Teil der Syndikalisten ging damals zum Faschismus über. Im weiteren Verlauf der Entwicklung aber wurde die Partei, wie wir wissen, zum Sturmbock der reaktionärsten kapitalistischen Interessen. Die radikale Umstellung der Parteipolitik, die damit einsetzte und die zur Aufgabe aller ursprünglichen Programmpunkte führte, rief den Unwillen großer Kreise der unteren Parteimitgliedschaft und auch vieler inzwischen in leitende Stellen aufgestiegener Faschisten hervor. Diese innere Krise der Partei erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1924. Damals begann dann die große Reinigungsaktion. Sie wurde durchgeführt unter Leitung des Parteidirektoriums mit Mussolini an der Spitze, der sich bereits rückhaltlos und unwiderruflich den Adligen, Großgrundbesitzern, Fabrikanten und Bankiers verschrieben hatte.
„1925 waren wir gezwungen, die Faschistische Partei von oben bis unten neu aufzubauen", erklärte Mussolini ganz offen ein Jahr später.
Im Jahre 1926 wurde dann die Sperre für Neuaufnahmen verhängt. Sie diente dazu, den Eintritt von neuen „links"gestimmten Anhängern zu verhindern. Die noch in der Partei befindlichen Anhänger des Programms von 1919 wurden bei den Reinigungen der Partei planmäßig von allen leitenden Stellen entfernt, zum Teil aus der Partei ausgestoßen, vor Gericht gestellt, verbannt und eingekerkert. Ein Teil von ihnen befindet sich im Ausland und arbeitet mit den bürgerlichen, demokratischen und sozialistischen Antifaschisten zusammen. Aber die Neuaufnahmen von Mitgliedern hörten damit durchaus nicht auf. Durch die Ausstellung von „Ehrenkarten", „obligatorischen Karten" usw. wurden zahllose neue Mitglieder aufgenommen, die sich als treue Anhänger des neuen Kurses bewährt hatten. Wer durch einen Beschluss der Parteiinstanzen zum Staats- oder Gemeindefunktionär ernannt wurde, erhielt, wenn er bis dahin nicht Mitglied der Partei war, die „obligatorische" Mitgliedskarte. Großgrundbesitzer, Fabrikanten, Bankiers und Professoren, die die neue kapitalistische Politik der Partei gut durchführten, wurden zu „Ehrenmitgliedern" ernannt.
Diese ganze Reorganisation und Umgruppierung der Kräfte machte aus der faschistischen Parteiorganisation endgültig ein Instrument zur Durchführung der Politik der besitzenden Klasse. Aber sie änderte nichts daran, dass die Partei ihrer Zusammensetzung nach vorwiegend eine Mittelstandspartei blieb. Aus allen
Veröffentlichungen über die soziale Zusammensetzung der Parteimitgliedschaft ergibt sich das mit aller Deutlichkeit. Auf Grund von Angaben, die ungefähr zwei Jahre zurückliegen, war zum Beispiel die Provinzorganisation von Rom folgendermaßen zusammengesetzt: Angestellte der staatlichen und öffentlichen Behörden 34,1 Prozent; Privatangestellte 14 Prozent; freie Berufe 12,1 Prozent; Kaufleute 8,1 Prozent; Industrielle und Unternehmer 3,1 Prozent; Handwerker und qualifizierte Arbeiter 15 Prozent; Bauern und Gärtner 8,1 Prozent; Studenten 5,5 Prozent. Das gleiche Verhältnis zeigen fast alle Provinzorganisationen. Im Süden nimmt der Prozentsatz der Handwerker und freien Berufe noch zu. Im Norden ist der Prozentsatz der Großgrundbesitzer und ihrer Vertreter (Generalpächter usw.) größer. Daraus ergibt sich, dass das Gros der faschistischen Mitgliedschaft von den Schichten des Mittelstandes gestellt wird, die an der faschistischen Herrschaft unmittelbar interessiert sind. Ihnen kommt es darauf an, das faschistische Abzeichen zu tragen und dadurch Autorität zu gewinnen und für die Durchführung ihrer Funktionen als Hüter der kapitalistischen Ordnung freie Hand zu erhalten. Es ist ganz klar, dass diese Mitglieder keinerlei Interesse an politischen Versammlungen, Diskussionen und dergleichen haben. Das Parteiregime, das derartige Diskussionen durch die Unterbindung jedes Organisationslebens ausschließt, ist ihnen nur willkommen. Wenn einzelne Mitglieder hin und wieder einmal den Versuch machen, aus diesem „Sumpf" herauszukommen, um etwas politisches Leben in die Organisation zu bringen, so werden solche Versuche sofort erstickt. In Nummer 6 der Zeitschrift „Critica Fascista" vom 15. März 1931 berichtet ein junger Faschist aus Rovigo über einen derartigen Versuch. Er hat es unternommen, einen „Zirkel" (Arbeitsgemeinschaft) für die Gruppenleiter der faschistischen Jugendorganisation zu gründen.
„Das Ziel dieses Zirkels war", so schreibt er, die „Gruppenleiter der ,Avanguardia' (der Organisation der 14- bis 18 jährigen) zusammenzubringen, damit sie untereinander die Probleme der aktuellen Politik diskutieren könnten." Dem jungen Faschisten schien die Gründung eines solchen Diskussionszirkels notwendig, weil die allgemeinen Versammlungen der „Avanguardia" „immer von den Vorgesetzten geleitet werden, deren Gegenwart die Gruppenleiter unter einen gewissen Druck setzt, der es nicht erlaubt, sich mit der Spontanität und Offenheit auszudrücken, die nötig wäre."
Der Versuch machte den „Vorgesetzten" Angst, und sie verwandelten den Zirkel in eine Veranstaltung für alle „Avanguar-dia"-Mitglieder:
„Aus einer ernsten Angelegenheit, die der Zirkel war, haben die Vorgesetzten einen x-beliebigen Zirkel gemacht, wohin man geht, um die Zeit totzuschlagen, zu klatschen und (warum nicht) zum Karneval zu tanzen." So schließt der enttäuschte junge Faschist seinen Bericht.
Nach alledem wundert man sich nicht, wenn man erfährt, dass die einzelnen faschistischen Organisationen innerlich verfaulen. Hören wir, was die Faschisten selber über diese Vorgänge sagen.
Als ich Anfang März in Rom war, wurde eine große Kampagne zur „Belebung" der römischen Parteiorganisation angesetzt. Diese Kampagne beschränkte sich darauf, dass in den einzelnen Bezirksorganisationen   Mitgliederversammlungen   abgehalten wurden, in denen höhere Parteifunktionäre anfeuernde Referate hielten, ohne dass natürlich über die Referate diskutiert werden durfte. Zur Begründung dieser außerordentlichen Maßnahme schrieb die Zeitung „Il Lavoro Fascista" vom 11. März folgendes: „Seit einiger Zeit ist das Leben des römischen Faschismus in einer Art gewohnheitsmäßigem Quietismus untergegangen, der droht, zur Lethargie zu werden ... Der römische Faschist erneuert seine Mitgliedskarte wie er seinen Waffen- oder Jagdschein, sein Billett des Touring-Clubs oder seinen Führerschein erneuert. Er steckt mechanisch jeden Morgen mit einer beinah automatischen Geste sein Parteiabzeichen ins Knopfloch, als wenn es sich um die Medaille des Flottenvereins oder das Abzeichen einer Sportorganisation handelte ... Aus einer Art Gewohnheit wurden alle oder fast alle faschistischen Pflichten vergessen und aufgegeben und waren drauf und dran, in bedauerlicher Weise aus der Gewohnheit zu kommen." Weiter ist die Rede davon, dass sich in der Parteiorganisation „eine muffige, abgeschlossene Luft bemerkbar mache" und dass das Leben der Partei-Clubs darin bestehe, dass die Mitglieder „hin und wieder hingingen, um Freunde zu treffen, die sie lange nicht gesehen hatten, um schnell einmal Zeitungen und Zeitschriften zu durchfliegen und in der Bibliothek in einem Buch zu blättern." Wenn die faschistische Presse selbst die Zustände schon so schildert, kann man sich denken, wie sie in Wirklichkeit sind. Ich habe öfter Gelegenheit gesucht, mir ein Bild von dem zu     | machen, was die faschistischen Mitglieder eigentlich im Kopfe haben. Ich wählte mir hierzu die kleinen Provinzorganisationen, die ja für die Bildung eines Eindrucks von der Durchschnittsideologie der Faschisten aufschlussreicher sind als die Organisationen in den großen Städten. Die Resultate waren erstaunlich. Ich will eine solche Begegnung kurz schildern: Am 13. März besuchte ich das Städtchen Barra, das zwischen Neapel und dem Vesuv liegt. Barra zählt 20000 Einwohner. Die Bevölkerung verdiente früher ihren  Lebensunterhalt durch Ackerbau. Im Maße, wie sich Neapel in eine Industriestadt verwandelte, verwandelten sich die kleinen Bauern in Industriearbeiter. Die Gärten in der Umgebung von Barra dienen heute nur noch dem Nebenerwerb. Sie sind vernachlässigt und halb verfallen, und die von früher her bestehenden Bewässerungsanlagen sind nicht mehr in Gebrauch.
Auf dem kleinen Marktplatz standen, als ich ankam, wie üblich, Gruppen von faschistischen Nichtstuern herum. Ich begann photographische Aufnahmen des Platzes und der spielenden Kinder zu machen. Das erregte die Neugier der Faschisten. Die Aussicht, aufgenommen zu werden und Gratisabzüge der Bilder zu bekommen, ließ sie sich mit der Bitte um eine Gruppenaufnahme an mich wenden. Ich sagte natürlich nicht nein. Als die Aufnahmen gemacht waren, blieb ich mit ein paar der Faschisten zusammen, und wir machten anschließend einen mehrere Stunden dauernden Spaziergang in die Umgebung.
Die jungen Leute, mit denen ich mich da bekannt machte, waren Abteilungsleiter der Jugendorganisation und der Miliz von Barra. Ihrem Beruf nach waren sie: ein Student der Technischen Hochschule, ein junger Kaufmann (Juwelenhändler), ein Elektrotechniker, ein Berufs-Fußballspieler und ein - Nichtstuer (so stellten mir ihn wenigstens seine Kameraden vor).
Um es gleich vorwegzunehmen: Das einzige, was ich im Laufe von mehreren Stunden aus ihnen herausbringen konnte, war eine ausführliche Darstellung der Methoden, wie man Mädchen lieben kann, ohne sie zu entjungfern, oder wie sie sich ausdrückten: wie man es anstellen muss, „um seiner Leidenschaft einen Auspuff zu verschaffen, wenn man einen Schatz hat, aber nicht heiraten will."
Es war nicht etwa so, dass die jungen Faschisten mit der Sprache zurückgehalten hätten. Sie waren im Gegenteil sehr zutraulich, und wenn sie nichts über politische Dinge zu sagen wussten, so einfach deshalb, weil sie nichts davon im Kopfe hatten. Unwillkürlich drängte sich mir ein Vergleich mit dem auf, was ich in der Sowjetunion erlebt hatte. Jeder Ausländer ist überrascht, nicht nur bei leitenden Funktionären, sondern auch bei einfachen Mitgliedern der Partei- und Jugendorganisationen in der Sowjetunion auch noch in der kleinsten Stadt politische Kenntnisse, politisches Interesse und politische Urteilskraft zu finden, wie er sie nie erwartet hätte. Ich besinne mich auf den Besuch, den ich im Jahre 1925 einem winzigen tatarischen Städtchen im Ural mit dem schönen Namen Bilimbei abstattete. Auf die Nachricht hin, dass ein ausländischer Genosse angekommen sei, strömte die ganze kommunistische Jugend zusammen. Ich wurde sofort in ein richtiges Kreuzverhör über die politische Lage in Deutschland und Frankreich, woher ich gerade kam, genommen. Und die Jungen und Mädchen, die zum größten Teil an dem kleinen altmodischen Hochofenbetrieb des Ortes beschäftigt waren oder dessen Werkschule besuchten, stellten mir derartig detaillierte Fragen über die Regierung des Linksblocks in Frankreich, über Herriot, über die Aussichten Poincarés, wieder zur Macht zu kommen, und was weiß ich sonst noch, dass ich manchmal direkt in Verlegenheit geriet.
Der Arbeitervorort Barra, der zu Neapel gehört, lässt sich nicht im entferntesten mit Bilimbei vergleichen. Aber die Leiter der Jugendorganisation von Barra waren von den Komsomolzen von Bilimbei so weit entfernt wie Himmel und Erde, oder sagen wir besser, wie Bourgeoisie und Proletariat. Ich will aber nicht ungerecht sein. Irgend so etwas wie politische Gedanken bekam ich aus meinen jungen Begleitern doch heraus: Und zwar folgendes:
1. Der Faschismus, das ist - der Duce, Mussolini. Wehe dem, der seine Hand gegen ihn erhebt. Wie ein Mann werden sie ihm an die Gurgel springen!
2. Es ist sehr gut, dass die Regierung sich mit dem Papst geeinigt hat. Jetzt kann die Faschistische Partei in Barra mit dem Ortsgeistlichen zusammenarbeiten. Und sie kommt mit ihm sehr gut aus.
3. Wie steht es in Deutschland? Wer wird siegen? Hitler oder Hindenburg?
Es war mir nicht ganz leicht, meine Meinung über dieses dritte und letzte politische Thema auf eine Formel zu bringen, die auf dem Niveau des Verständnisses meiner Begleiter lag. Wie sollte ich ihnen klarmachen, dass die Frage gar nicht so stand, dass der Kampf zwischen ganz anderen Kräften ausgetragen würde? Aber schon die Fragestellung war für mich aufschlussreich hinsichtlich des politischen Horizonts dieser jungen Faschisten. Im Übrigen kehrten sie immer wieder zum „Hauptthema" zurück, und ich musste auch einsehen, dass dieses Problem für sie eine ziemliche Bedeutung hat. Es sind alles junge Leute ohne ausreichende Beschäftigung in ihrem Beruf. Sie leben auf Kosten ihrer Familien. Zur Mittagszeit brachten sie mich in ein kleines Restaurant und gingen selbst nach Hause, um dort Mittag zu essen. Erst nach Beendigung ihrer Mahlzeit kamen sie wieder zu mir, um sich zu einem Glase Wein einladen zu lassen. In ihrem Städtchen aber sind sie die großen Herren, die Vertreter der Staatsautorität und müssen sich dementsprechend aufführen. Das gilt sicherlich besonders gegenüber dem weiblichen Teil der Bevölkerung, und da kann sich die Ausübung der Autorität nicht auf Reden halten beschränken. Nun gibt es zwar in Italien keine Alimente, aber dafür Gefängnisstrafe auf „Verführung". Und „Verführung" liegt da vor, wo ein Verhältnis Folgen hat. Ich bekam gelegentlich dieses Spazierganges übrigens auch noch vordemonstriert, worauf sich eigentlich die Autorität dieser jungen Leute aus dem Mittelstand in dem Arbeiterort Barra stützt. Ich wusste von früher her, dass die Vorstädte Neapels Hochburgen der „Roten" gewesen waren. Ich fragte meine Begleiter, wie es damit stünde. Als Antwort langten sie in die Rücktaschen ihrer Hosen und zogen daraus ihre Revolver hervor.
„Mit den Roten haben wir schön abgerechnet. Von ihren Führern hier lebt keiner mehr. Und die anderen, die geblieben sind, wagen sich nicht zu rühren: Wir haben ja die Waffen. Jedes Mitglied der Partei ist in der Miliz organisiert. Die Miliz von Barra hat hundertzwanzig Mitglieder. Die können jeden Augenblick mobilisiert werden. Wer mobilisiert ist, bekommt achtzehn Lire am Tage Gehalt. Hier unser Mario - sie zeigten auf den, den sie mir als Nichtstuer bezeichnet hatten - will jetzt in die Hafenmiliz in Neapel eintreten, Dann hat er keine Sorgen mehr." Ich habe später überall dasselbe Bild gefunden: An der Spitze der Lokalorganisationen der Faschistischen Partei stehen junge Leute aus dem Mittelstand, wirtschaftlich parasitäre Existenzen, bestenfalls in verschiedenen, nicht gerade hochbezahlten Posten untergebracht und ohne den geringsten politischen Gedanken im Kopfe. Für diese Leute ist die Partei nichts anderes als ein Mittel, um Karriere zu machen. Wenn die Partei sechs Jahre lang die direkte Aufnahme von neuen Mitgliedern eingestellt hat, so besagt das nicht, dass sie sich nicht ergänzt, ganz abgesehen von den „Ehrenaufnahmen" usw. Denn gleichzeitig mit der Sperrung der Mitgliedsaufnahmen ist der automatische Übertritt der Mitglieder der ihren Altersklassen nach unterhalb der Partei stehenden faschistischen Organisationen eingeführt worden. Bis zu diesem Jahre gab es nur zwei derartige Organisationen: die Kinderorganisation „Balilla" für Kinder bis zum vierzehnten Jahre und die „Avanguardia" für Jugendliche bis zum achtzehnten Jahre. Hier bestand eine Lücke. Sie ist jetzt dusch die Gründung der „Faschistischen Jugendorganisation" ausgefüllt worden. In ihr finden junge Männer von achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren Aufnahme. Der Übertritt von der „Balilla" in die „Avanguardia", von dieser in die „Faschistische Jugend" und von der Jugend in die Partei vollzieht sich jetzt automatisch bei Erreichung der Altersgrenze und wird durch öffentliche Feiern begangen. Bei diesen Feiern werden die in die entsprechenden Organisationen übertretenden Mitglieder nicht etwa auf ein Programm, sondern auf die Person Mussolinis zu Treu und Gehorsam verpflichtet. Dieses System von ineinandergreifenden Organisationen stellt zugleich die Stufenleiter dar, auf der man zu verantwortlichen Stellungen aufsteigen kann.
Die Mitgliedszahl dieser Organisationen nimmt zu, je weiter man nach unten kommt. Die „Balilla" zählt gegenwärtig ungefähr zwei Millionen Mitglieder. Das bedeutet, dass bereits ein großer Teil der Kinder, einschließlich der Arbeiter- und Bauernkinder, durch die „Balilla" erfasst ist. Wie das zustande kommt, haben mir junge Faschisten selbst erklärt: In allen Schulen und anderen Stellen, wo Kinder zusammenkommen, werden die „Balilla" -Gruppen gegründet. Die Organisation ist ein „Nationales Werk", das heißt, ihre Unternehmungen werden vom Staate finanziert. Ihre Mitglieder erhalten von der Organisation Uniformen geliefert. Diese Uniform, die derjenigen der faschistischen Miliz nachgebildet ist, und die Feste und Umzüge, die die Organisation veranstaltet, sind das eigentliche Anziehungsmittel. „Darin beruht gerade die Stärke der ,Balilla'. Die Kinder in der Schule sehen die Uniformen bei ihren Kameraden und möchten sie natürlich auch gern haben. Dann quälen sie ihre Eltern so lange, bis die sie ebenfalls eintreten lassen." An diese sehr einleuchtende Darstellung schloss der junge Faschist in Palermo, der mir das alles erklärte, folgende großartige Argumentation.
„Hier sehen Sie die ganze Genialität des Systems. Unser Programm ist, alle Italiener zu Faschisten zu machen. Auf die Erwachsenen kann man da nicht rechnen. Die sind noch zum größten Teil im alten Geist erzogen und können nicht mehr umlernen. Darum kann auch nur ein Teil der Erwachsenen in der Faschistischen Partei sein. Die meisten Erwachsenen sind nicht fähig und nicht würdig, sie zu verstehen. Aber die Kinder sind schon weitestgehend vom Faschismus erfasst und werden in seinem Geiste erzogen. Hier wächst das neue italienische Volk heran. Stellen Sie sich vor, was geschieht, wenn die zwei oder drei Millionen Kinder, die jetzt in der ,Balilla' sind, nach und nach durch die ,Avanguardia' und die ,Jugend' hindurch in die Partei aufsteigen. Dann sind wir bald soweit, dass das ganze italienische Volk faschistisch ist!"
Die Genialität dieser Vorstellung, die in ihrer Mischung aus Naivität und Dummheit ihresgleichen sucht, ist wirklich erschütternd. Ja, wenn man die Kinder ihr Leben lang im glücklichen Zustand der Unerfahrenheit und der mehr oder weniger gesicherten
Existenz im Schoße der Familie halten könnte! Aber aus diesen Kindern werden mit der Zeit „Carusi" und „Garzoni"in den Bergwerken und auf den Feldern. Sie bekommen die Arbeitslosigkeit und die Hungerlöhne der Faschisten zu schmecken, und da dürfte die faschistische Überzeugung, die ihnen in der „Balilla"-Organisation mit ein paar nichtssagenden Phrasen eingeimpft worden ist, bald Stöße erhalten!
Das Misstrauen zu den „Erwachsenen" erscheint gerechtfertigt, wenn man die Partei näher kennenlernt. Es ist ja erstaunlich, zu sehen, was sich alles unter dem faschistischen Abzeichen und den paar angelernten Phrasen verbirgt. Derselbe junge Faschist, der mir die Genialität des Organisationssystems der Partei auseinandergesetzt hatte, entpuppte sich in längeren Gesprächen als ein ausgemachter Liberaler und Demokrat. Ja, sogar als Republikaner. Ich erzählte ihm von meinen Eindrücken in Tripolis. Er zögerte nicht, Kolonialpolitik für völlig unnötig zu halten. „Jedes Volk soll selber sein Schicksal bestimmen." Er bezeichnete das Königshaus und die Ausgaben für seinen Unterhalt als überflüssig. Er meinte, dass das ganze Volk seine Regierung durch ein freies Wahlrecht selbst einsetzen müsse!
Ja, es sind ausgemachte Antifaschisten in der Faschistischen Partei, die das Abzeichen nur tragen, um ihren Posten nicht zu verlieren.
Ich hatte in Florenz die Bekanntschaft eines demokratischen antifaschistischen Professors gemacht, der stolz darauf war, bisher keiner einzigen faschistischen Organisation beigetreten zu sein. Als ich einmal zu einer Verabredung mit ihm auf den Domplatz ging, traf ich in seiner Begleitung einen anderen Mann, den er mir als Professor der Kunstgeschichte vorstellte. Ich nahm meinen Bekannten einen Augenblick auf die Seite und fragte ihn, ob sein Freund alles hören könne, was wir sonst zu besprechen pflegten. Er sagte, dass ich diesen Mann ebenso behandeln könne wie ihn selber. Wir gingen dann zusammen spazieren und unterhielten uns zunächst über Fragen der Ästhetik, wobei ich meine materialistische Auffassung entwickelte. Bald kamen wir auf politische Themen und insbesondere auf die Sowjetunion zu sprechen. Die Diskussion wurde sehr angeregt, und ich äußerte mich in einer Art und Weise, aus der meine politische Überzeugung ohne weiteres hervorging. Mein Freund, der Historiker, verteidigte einen bürgerlichen demokratischen Standpunkt, während er zugleich das faschistische Regime unverhohlen kritisierte. Sein Begleiter war ziemlich schweigsam.
Wir setzten uns dann in ein Café. Hier legte der Professor der Kunstgeschichte seinen Paletot ab, und zu meinem Schrecken sah ich im Knopfloch seines Jacketts das faschistische Abzeichen! Ich gab der Diskussion gleich eine andere Wendung und griff die Haltung meines ersten Bekannten heftig an, der leugnen wollte, dass der Faschismus überhaupt irgendetwas Positives geschaffen habe. Ich wies auf den Straßenbau, die Ordnung des Eisenbahnwesens, die großen Meliorationsarbeiten hin. Das alles könne man doch nicht wegdiskutieren, und es handle sich ja nur darum, festzustellen, wem alle die Dinge nützen. Bei dieser Diskussion hatte ich den neuen Mann gegen meinen alten Bekannten auf meiner Seite. So hatte ich mein Gesicht gewahrt. Als ich dann noch kurze Zeit mit dem Historiker allein zusammen war, fragte ich ihn etwas ärgerlich, wie er mich so hätte hineinlegen und mit dem Faschisten zusammenbringen können, ohne mich vorher zu warnen. Aber er lachte nur: „Machen Sie sich keine Sorge, das ist ein alter Freund von mir. Er ist ebenso wenig Faschist wie Sie und ich. Aber seine Stellung als Wissenschaftler ist nicht so fest wie die meine, und darum hat er es vorgezogen, sich das Abzeichen anzustecken. Sie ahnen ja gar nicht, was in dieser Partei alles herumläuft!" Die Zersetzung der Reihen des Faschismus durch den Klassenkampf kommt natürlich noch stärker als bei den Intellektuellen in den untersten Schichten der Faschistischen Partei zum Ausdruck. Der Prozentsatz der Arbeiter und Bauern, die Mitglieder der Partei sind, ist ja nicht groß. Aber der Unwillen, der sich bei ihnen anhäuft, wird zu einer ernsten Bedrohung der Faschistischen Partei. Wir haben schon von den Fällen gesprochen, wo empörte bäuerliche Mitglieder der Faschistischen Partei Flugblätter der Kommunisten verbreitet haben. Es sind andere Fälle vorgekommen, wo faschistische Arbeiter direkt an Massenaktionen teilgenommen haben. Das war der Fall bei den Unruhen von Legnano bei Mailand, die die Faschisten sich alle Mühe gegeben haben, zu verschweigen. Als die Masse
der antifaschistischen Arbeiter unter Führung der revolutionären Elemente in den Streik traten und einen Demonstrationszug formierten, bildeten die faschistischen Arbeiter einen eigenen Demonstrationszug, an dem auch faschistische Milizionäre teilnahmen. In diesem Zuge wurden Lieder gesungen, die keinen Zweifel an der Stimmung der faschistischen Arbeiter ließen. Der Refrain eines dieser Lieder lautete:
„Mussolini, con la camicia nera t'abbiamo portato su, e con la camicia nera ti butteremo giù!"
„Mussolini, mit dem schwarzen Hemde haben wir dich
hochgebracht,
Und mit dem schwarzen Hemde werden wir dich 'runterjagen!"
Es braucht nicht gesagt zu werden, dass diese Demonstration ebenso von Polizisten und Gendarmen auseinandergejagt wurde wie die der anderen Arbeiter und dass man ihre Teilnehmer aus der Partei ausgestoßen und sie vor Gericht gestellt hat. Solche Fälle, wo sich der Unwillen der kleinen Faschisten in antifaschistischen Aktionen Luft macht, sind allerdings selten. Die Partei hat es verstanden, diesem Unwillen ein anderes Sicherheitsventil zu verschaffen. Sie unternimmt in der letzten Zeit verschiedene Aktionen gegen gar zu ausgemachte Schieber und Blutsauger. Sie stellt einzelne Spekulanten vor Gericht und schickt sie in die Verbannung und lässt gleichzeitig in ihrer Presse das „Wiederaufleben des Geistes von 1919", eine „neue revolutionäre Welle" verkünden.
Zu gleicher Zeit aber fördert die Partei die Entstehung einer Legende, die mir in verschiedenen Teilen des Landes von faschistischen und nichtfaschistischen Arbeitern erzählt worden ist. Es ist die Legende vom „Roten Mussolini", und sie lautet folgendermaßen:
„Mussolini weiß von der ganzen Sauwirtschaft, von der Willkürherrschaft der Kapitalisten, Präfekten und Podestà nichts. Er ist ganz in den Händen einer kapitalistischen Clique. Die hält ihn in Rom fest und lässt ihn nicht hinaus. Mussolini war ja immer ein Roter. Wenn er wüsste, was im Lande vor sich geht...!" Diese Legende knüpft an die Maßnahmen zum Schutz der Person
Mussolinis und zur Einschränkung seiner Reisen im Lande an, die ihm, wie es auch offiziell heißt „gegen seinen Willen" von den leitenden Kreisen der Partei „aufgedrängt" worden sind. Durch diese Legende wird der Unwillen der einfachen Parteimitglieder von Mussolini und damit vom faschistischen Regime abgelenkt, und die Unzufriedenen werden dadurch trotz alledem bei der Stange gehalten.
So sieht also die „Elite" aus, die nach den tiefsinnigen Theorien der Ideologen des Faschismus das Land beherrscht. Die Theoretiker, die diese Behauptung aufstellen - und zu ihnen gehört auch der Ex-Sozialist und von den Faschisten mit der Ehrenmitgliedschaft der Partei ausgezeichnete Professor Robert Michels - sind dieser „Elite" wirklich würdig.

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