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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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OHNE ARBEIT

Die Folge der faschistischen Industriepolitik ist eine ungeheure Arbeitslosigkeit. Wie groß sie, in Zahlen ausgedrückt, eigentlich ist, weiß niemand. Für das Gefühl der Arbeiter ist sie das beherrschende Moment. Ich besinne mich auf einen Chemiearbeiter in Palermo, der selbst noch Arbeit hatte und der mir in einem Gespräch halb im Flüsterton mit wichtiger Miene sagte: „Die Arbeitslosigkeit ist fürchterlich. Wir haben hier 400000 Einwohner in Palermo. Davon sind sicher 100000 arbeitslos." Diese Zahl ist bestimmt übertrieben. Sie dürfte höchstens stimmen, wenn man alle Angehörigen der Arbeitslosen mitrechnet. Aber sie zeigt, wie sich die Arbeitslosigkeit im Bewusstsein der Arbeiter malt. Jeder Arbeiter hat Dutzende von Bekannten und Freunden, von denen er weiß, dass sie keine Beschäftigung haben. Und so überträgt er seine persönliche Erfahrung und weiß: „Es sind furchtbar viele, hunderttausend!"
Die faschistische Presse bringt täglich spaltenlange Artikel über die Arbeitslosigkeit - in den anderen Ländern. Ich habe bei allen Arbeitern und Bauern genaue Kenntnisse über die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland, England, Amerika usw. vorgefunden. Der Zweck dieser Artikel ist, die Arbeitslosigkeit als eine allgemeine „Weltkrankheit" zu schildern, an der der Faschismus nicht schuld sei. Ja, die Faschisten behaupten immer wieder, dass Italien besonders wenig Arbeitslose habe. Angesichts der Hungerlöhne, die in Industrie und Landwirtschaft gezahlt werden, wäre das sogar denkbar. Aber trotzdem stimmt es nicht. Die offizielle faschistische Statistik gab für März 1931 rund 800000 Arbeitslose (gegenüber 450000 im vorigen Jahre) zu. Diese Zahl ist richtig - im Rahmen der faschistischen Gesetze und der Praxis, die gegenüber den Arbeitslosen und bei der Aufstellung der Statistik angewendet wird. Die Praxis aber ist folgende:
Registriert werden nur die unterstützungsberechtigten Arbeiter. Die Unterstützungsberechtigung gilt nur unter der Voraussetzung des Nachweises einer ununterbrochenen sechzigtägigen Arbeitszeit, die der Registrierung vorausgehen muss. Sie erlischt neunzig Tage nach Auszahlung der ersten Unterstützung. Bei diesem System ergeben sich vor allem für das Land Zahlen, die um ein Vielfaches hinter der wirklichen Arbeitslosigkeit zurückbleiben. In der Landwirtschaft können nur die festangestellten Landarbeiter überhaupt registriert werden. Auf diese Weise fehlt in der Statistik die nach Zehn- und Hunderttausenden zählende Armee von Tagelöhnern, Gelegenheitsarbeitern, arbeitsuchenden Kleinpächtern und Kleinbauern, die ja vor allem auf dem ländlichen Arbeitsmarkt lasten.
Ihre Zahl wird noch vergrößert durch die Gesetzgebung, die die Freizügigkeit aufgehoben hat. Das Verlassen des Heimatortes ist nur demjenigen erlaubt, der einen sogenannten Binnenpass besitzt. Dieser Pass wird von den Präfekturen ausgestellt, und zwar nur dann, wenn triftige Gründe für das Verlassen der Heimat angegeben werden. Ganze große Gebiete, wie die Abruzzen, in denen eine saisonmäßige Abwanderung in die Ebene zum normalen Leben gehörte, sind durch diese Gesetzgebung abgeschnürt. Besondere Wachen auf den Bahnstationen sorgen dafür dass die arbeitsuchenden Bergbewohner nicht wie früher während einiger Wintermonate in die Ebene und die Städte hinuntersteigen können. Andererseits wird in den Städten eine ständige Kontrolle über die Arbeitslosen geführt. Arbeitslose, die in der Stadt nicht „zuständig" sind und die nicht innerhalb von vierzehn Tagen eine neue Beschäftigung nachweisen können, werden zwangsweise in ihre Heimatorte abgeschoben. In der Heimat haben sie natürlich kein Recht auf Arbeitslosenunterstützung, da sie ja über die Anwartschaft hinaus von zu Hause entfernt waren und erscheinen infolgedessen auch nicht in der Erwerbslosenstatistik.
In den Städten hat sich darüber hinaus eine Praxis eingebürgert, die der ganzen Unterstützung Hohn spricht. In Mailand und Turin erzählten mir arbeitslose Metallarbeiter, auf welche Weise sie um ihre Arbeit und ihren Unterstützungsanspruch geprellt worden sind. Die Firma teilte ihnen eines Tages mit, dass für sie vorübergehend keine Arbeit vorhanden sei. Sie werden, natürlich ohne Lohn, in Reserve gestellt, dürfen sich aber in dieser Zeit nicht arbeitslos melden. Nachdem man sie längere Zeit vergeblich hatte warten lassen, wurde ihnen mitgeteilt, dass für sie endgültig keine Arbeit mehr vorhanden sei. Und dann war es ihnen wiederum unmöglich, sich arbeitslos zu melden, da sie ja die vom Gesetz verlangte ununterbrochene Beschäftigung bis zum Zeitpunkt der Erwerbslosmeldung nicht nachweisen konnten. Der Arbeiter, der nach all diesen Schikanen endlich doch als Arbeitsloser angenommen und registriert wird, erhält, unabhängig von der Lohnklasse usw., zu der er bis dahin gehört hat, einen einheitlichen Entschädigungssatz von - 3,75 Lire (etwa achtzig Pfennige oder fünf Pfund Brot!) täglich. Der Anspruch auf Unterstützung erlischt nach neunzig Tagen. Danach gibt es keinerlei Unterstützung mehr. Krisenfürsorge oder Wohlfahrt ist in Italien unbekannt. Das einzige, was dem Arbeiter dann bleibt, wenn er nicht verhungern will, ist, sich der entwürdigenden Prozedur des Anstehens vor dem faschistischen Parteilokal zu unterziehen, wo an die Ärmsten der Armen - vorausgesetzt, dass sie sich nicht irgendwie unbeliebt gemacht haben - eine Gratissuppe, ein Stück Brot oder ein Pfund Reis ausgeteilt wird. Aber wir wollen nicht ungerecht sein:
Der Faschismus unternimmt auch etwas zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Mitte März dieses Jahres konnte man in den großen italienischen
Zeitungen auf der ersten Seite ein paar Tage lang folgende
Schlagzeile und Untertitel finden:
„Der Faschismus beseitigt die Arbeitslosigkeit!
Dank dem persönlichen Eingreifen Mussolinis ist es gelungen, die Braunkohlenwerke im Arnotal nach fünfmonatigem Stillliegen zu eröffnen.
Fröhlich nehmen die Bergarbeiter von Castelnuovo dei Sabbioni die Arbeit wieder auf."
Am 19. März brachte die zentrale Gewerkschaftszeitung „Il Lavoro Fascista" einen Bericht ihres Korrespondenten, der der Wiederaufnahme der Arbeit beigewohnt hatte. „Noch im Dunklen sah man gestern morgen die Flämmchen der Azetylenlampen aufleuchten. Von oben aus der Stadt stiegen die
Bergleute zu ihrer Arbeit herab, die, wie schon gesagt, nach viereinhalb Monaten Arbeitslosigkeit wieder aufgenommen worden ist. Zu dieser Stunde wurden keine Reden gehalten, keine Zeremonie fand statt, die Sonntagsanzüge ruhten, abgelöst von den Blusen und Hosen aus türkischem Barchent. Jener Ausdruck von Mutlosigkeit und drückender Ahnung der Not war aus den Augen der Bergleute verschwunden. Ruhige, außerordentlich gute Gesichter zogen an mir vorüber. Die Bergleute haben in ganz besonderem Maße jene Scham der Pflichterfüllung bewahrt: Das macht sie sachlich und verbunden mit der harten Realität des Alltags. Und doch konnte man ihren Grüßen, ihren Stimmen eine tiefe Zufriedenheit anhören. Ein ganzes Land hat wieder zu leben begonnen um die elf Stollen der Gruben." War das nicht verlockend? Konnte ich mir dieses herrliche Schauspiel der besiegten Arbeitslosigkeit entgehen lassen? Durfte ich dies „Wunder des Arnotals" versäumen?
„Es ist nötig, dass man hierher kommt und dieses Leben von allen Seiten kennenlernt", schloss Herr Sinapo seinen Bericht. „Die Bergleute verdienen, dass man einen Film von ihnen aufnimmt." Ja, weiß Gott, das verdienen sie! Zu diesem Schluss kam auch ich, als ich am 9. April Stadt und Gruben in Begleitung einiger braver Kumpels besucht hatte.
Ich war sehr früh am Morgen von Florenz aufgebrochen. Etwa dreißig Kilometer oberhalb der Stadt weitet sich das Arnotal aus. Zwischen dem Fluss und den Bergen, die gegen Süden hin etwa sechshundert Meter hoch aufsteigen, dehnt sich eine flache Mulde. Hier liegt, fünfhundert Meter tief in der Erde, die Braunkohle. In dem Städtchen San Giovanni Valdarno verließ ich die Eisenbahn. San Giovanni, einstmals Zentrum einer Reihe von Feudalbesitzen, deren Wappenschilder heute noch an dem altertümlichen Rathaus mit seinen Bogengängen hängen, hat sich längst in ein kleines Industriezentrum verwandelt. Marktplatz und Straßen zeigten das charakteristische Bild der Industriestädte: Zu Dutzenden standen schon am frühen Morgen die Arbeitslosen, größtenteils rüstige jüngere Männer, überall herum. Meine Frage nach der Abfahrtszeit des Autobusses, der mich nach Castelnuovo hinaufbringen sollte, leitete ein Gespräch mit einer der herumstehenden Gruppen ein. Es ging wie überall: Nach ein paar Minuten waren wir bei dem ewigen Thema angelangt, bei der wirtschaftlichen Lage und dem grauen Elend der Arbeiter. Viele von denen, die hier herumstanden, hatten früher in den Braunkohlenbergwerken oben am Berg gearbeitet. Manche waren fünfzehn, ja zwanzig Jahre dort tätig gewesen. Die Söhne pflegten mit zwölf oder dreizehn Jahren ihren Vätern in den Schacht nachzugehen. Jetzt ging es den Leuten hundeelend. Sie waren längst ausgesteuert.
In den Betrieben von San Giovanni war keine Arbeit zu finden. Wovon sie lebten? Manchmal gab es kleine Gelegenheitsarbeiten bei dem Hüttenwerk, beim Ein- und Ausladen an der Eisenbahn. Der eine oder andere hatte ein Stückchen Garten, in dem er Kartoffeln und etwas Gemüse zog. Die meisten lebten auf Kosten von Verwandten: des Bruders, der Frau, des Sohnes - die noch Arbeit hatten oder in der Landwirtschaft beschäftigt waren. „Ja, wenn man auswandern dürfte! Kein Schwanz würde mehr hier sein! Aber nicht einmal in eine andere Stadt darf man gehen!"
Es folgten dann die üblichen Flüche gegen die sogenannten Gewerkschaften und gegen die Faschisten. Wir standen auf offener Straße in der Nähe des Bahnhofes, aber niemand hielt es für nötig, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich erfuhr später von unseren Genossen, die hier starke Zellen haben, dass die Stimmung der Arbeiter auf dem Siedepunkt angelangt ist und dass die Faschisten nicht mehr wagen, mit Repressalien vorzugehen. Die Arbeiter lachten, als ich ihnen meinen Plan mitteilte, nach Castelnuovo zu fahren, um mir die Wiederaufnahme der Arbeit im Braunkohlenbergwerk anzusehen.
„Ja, fahren Sie mal dahin! Da werden Sie Ihr blaues Wunder erleben."
Ich wollte gleich von ihnen einiges wissen. Sie hatten doch dort gearbeitet.
„Nein, nein, fahren Sie nur selber hin. Vielleicht schwindle ich Ihnen etwas vor. Sie sollen sich selbst an Ort und Stelle überzeugen, was dort los ist."
Diese Unterredung hatte ihr Gutes gehabt. Die Arbeiter nannten mir Name und Adresse eines Kollegen, der offenbar in der ganzen Gegend bekannt war und großes Ansehen genoss. Sie nannten ihn mit dem Vornamen. An ihn sollte ich mich wenden. Ich würde ihn bestimmt zu Hause treffen, und er würde mir alles zeigen.
Sehr neugierig gemacht durch diese Mitteilungen, stieg ich, von den beobachtenden Blicken einiger herumstehender Faschisten begleitet, oben im Städtchen aus. Aber es folgte mir niemand, als ich zu der Gasse hinunterstieg, wo mein Gewährsmann wohnen sollte.
Ich gelangte bald zu der langen Reihe von elenden Baracken, die die Gesellschaft den Bergarbeitern für fünf Lire pro Zimmer im Monat ablässt. In einem dieser Zimmer fand ich einen rüstigen Mann in mittleren Jahren, der sich als der „Secondino" zu erkennen gab, den ich suchte. Er legte die Schuhreparatur hin, an der er saß, band sich die Schürze ab, und wir gingen los. „Sehen Sie, damit verdiene ich jetzt mein Brot, so gut es geht", sagte er beim Hinausgehen, auf sein Schusterwerkzeug zeigend.
„Arbeiten Sie denn nicht in der Grube?"
„Das war einmal! Neunzehn Jahre habe ich darin gesteckt. Aber Sie wissen doch, im vorigen Herbst ist alles stillgelegt worden, und da hab' ich meine Arbeit verloren."
Wir waren inzwischen auf dem großen Verladepiatz des einen Schachtes angekommen. Zu beiden Seiten unseres Weges lagen riesige Halden aufgestapelter Braunkohle. „Sehen Sie sich das mal an! Viel wert ist die Kohle ja nicht. Sie ist das reine Holz. Das lohnt sich nicht zu transportieren. Früher hat man die Braunkohle gleich hier verbrannt. Sehen Sie dahinten die große Anlage? Das ist das Kraftwerk. Von hier ging elektrischer Strom nach San Giovanni und weiter nach Florenz. Wir wissen selber nicht, was da los ist. Unsere Direktion muss sich mit dem Kraftwerk verzankt haben. Eines Tages jedenfalls nahm das Kraftwerk keine Kohle mehr ab und machte zu. Und dann kam das Unglück. Wenn man dies leichte Zeug hier transportieren will, wird es ja viel zu teuer. Im Nu ist ein Waggon voll. Und da wurden eben auch die Gruben zugemacht." Man sah den Anlagen, durch die wir schritten, an, dass sie ziemlich neuen Datums waren. Zwischen Fördertürmen, Silos und Sortiermaschinen zogen sich die Lorenstränge hin, die die einzelnen Verladeplätze miteinander und mit den Enden der Seilbahnen verbinden.
Aber Totenstille lag über dem Ganzen. Man sah keinen Menschen. „Was war hier früher für ein Betrieb!" sagte mein Begleiter. „Wir haben gut verdient, und es war ein schönes Leben. Hier wimmelte alles von Menschen, und es war immer ein Heidenkrach. Und jetzt...?"
„Ich denke, der Betrieb ist wieder aufgenommen?" fragte ich. Mein Begleiter lachte.
„Aufgenommen? Wissen Sie, was los ist? Früher waren hier viertausend Mann beschäftigt, in der besten Zeit sogar sechstausend: das war während des Krieges. Damals mussten sogar Hunderte von fremden Arbeitern hergeholt werden. Im Laufe des vergangenen Jahres hat man die Arbeiter gruppenweise abgebaut, und im Oktober hat man dann die ganze Bude zugemacht." „Und die Wiedereröffnung? Alle Zeitungen waren doch voll davon!?"
„Ja, das habe ich auch gemerkt! Und ich bin schön hereingefallen. Als es hier so trostlos aussah, bin ich weggegangen, um Arbeit zu suchen. Ich war nach Umbrien hinüber, war auch in Spoleto. Da ist übrigens auch nichts los. Die Baumwollfabrik dort hat zugemacht. Und auf dem Lande können Sie nicht mehr als sieben Lire am Tage bekommen. Ais dann die Zeitungen von der Wiedereröffnung schrieben, bin ich natürlich zurückgekommen. Ich habe doch lange genug im Schacht gearbeitet. Mich kennt hier jeder Mann. Ich dachte natürlich, ich komme als einer der ersten dran. Aber, hat sich was! Wissen Sie, wie viel Leute eingestellt worden sind? Zweihundert, ganze zweihundert! Und was für welche! Es hat schon seinen guten Grund, warum sie uns Alte nicht genommen haben. Mich überhaupt: auf mich haben sie es abgesehen." Wir waren inzwischen von den Verladeplätzen hinaufgestiegen zu einer der Förderanlagen. Hier trafen wir auf die ersten Arbeiter. Es waren robuste Männer zwischen dreißig und vierzig Jahren.
„Sehen Sie sich die mal an. Die leben nicht von Luft und Sonnenschein! Und jeder hat seine Familie und ein halbes Dutzend Kinder auf dem Halse. Und dann fragen Sie mal, was sie jetzt bekommen."
Wir machten bei einer Gruppe von Arbeitern halt. Sie hatten nicht viel zu tun. Die Waggons kamen in großen Abständen den Bremsberg herauf. Wir wurden freundlich begrüßt. Ich merkte auch hier, dass mein Begleiter bei den Kumpeln eine besondere Achtung genoss.
„Der Genosse" - mein Begleiter gebrauchte unvermittelt dieses Wort - „ist hergekommen, um zu sehen, wie es uns geht. Er kommt aus Deutschland. Er möchte gern wissen, was für Löhne ihr bekommt."
Das war bald festgestellt: Die Männer über Tage bekamen zehn Lire am Tage, von denen noch etwa zwölf Prozent an Abzügen (also mehr als sonst) abgingen. Unter Tage wurden, wie sie mir erzählten, sechzehn Lire täglich gezahlt. Damit soll dann die ganze Familie auskommen.
„Sie können sich vorstellen, wie wir da leben. Und die, die keine Familie haben, denen wird ihr Teil durch die Ledigensteuer abgeknapst. Und wissen Sie, was wir hier früher bekommen haben? Achtzehn bis zwanzig Lire über Tage und sechsundzwanzig bis zweiunddreißig Lire unter Tage. Im Akkord konnte man es bis auf vierzig Lire täglich bringen."
Das bedeutete also eine Lohnreduktion von fast fünfzig Prozent! Und dazu erfuhr ich dann noch, dass die Arbeitszeit unter Tage auf neun Stunden heraufgesetzt worden war. „Aber ist das Leben nicht wenigstens billiger geworden seitdem? Man schreibt doch soviel vom Preisabbau?" „Ja, schreiben tut man viel. Bloß wir Arbeiter merken nichts davon. Es kostet alles dasselbe. Sehen sie da unten das Haus? Das war einmal unser Konsum. Den haben wir Häuer mit unseren Pfennigen aufgebaut. Damals konnten wir auch die Preise mitbestimmen. Aber jetzt haben die Faschisten die Hand draufgelegt. Sie haben unseren Sekretär abgesetzt und den Leiter der Werkkantine an seine Stelle gesetzt. Der wirtschaftet jetzt mit unserm Gelde dem Unternehmer in die Tasche." Wir stiegen weiter zwischen Schachteingängen, Förderbahnen und alten Halden herum. An einer Stelle hatte man Kohle über Tage gewonnen. Aber das Lager war erschöpft, jetzt gab es Kohle nur in den Schächten, die bis zu fünfhundert Meter tief sind und wo unten eine Temperatur bis zu achtunddreißig Grad herrscht.
„Es ist eine Sauwirtschaft hier. Wie die Hunde leben wir. Alles ist Willkür. Die Kapitalisten machen, was sie wollen. Der ganze Betrieb ist korrumpiert. Überall sitzen allmächtige Herren, die niemand kontrollieren kann: in der Provinz die Präfekten, und die ernennen dann wieder die Podestà. Die Podestà stecken mit den faschistischen Parteidirektoren zusammen. Was die tun, ist recht. Und die Kapitalisten nützen das schön aus. Sie bestechen hinten und vorn. Die Faschisten werden reich dabei. Aber natürlich nur die großen. Die kleinen Faschisten, die Arbeiter sind -solche gibt's auch hier, aber nicht viele -, sind ebenso schlimm dran wie wir. Und sind auch ebenso wild. Aber Opposition gibt es keine. Wer aufmuckt, wird aus der Partei getan, oder wenn's schlimmer ist, verbannt."
Unser Gespräch wurde dann sehr politisch. Mein Begleiter entpuppte sich als alter Sozialist, der die Abspaltung der Kommunisten in Livorno heute noch für einen Fehler hielt. Wir stiegen langsam wieder seiner Wohnung zu. Ich erkundigte mich danach, ob die Regierung der Gesellschaft irgendetwas für die Wiedereröffnung gegeben hätte.
„Aber gewiss! Eine halbe Million hat sie von der Regierung verschluckt. Damit lässt sich's aushalten. Sehen Sie da oben" - mein Begleiter zeigte auf eine zypressenumstandene Villa auf dem benachbarten Hügel - „da sitzen sie, der Herr Raffo und sein Neffe, der Herr Gerini. Sie haben sich nur für ein Jahr zur Wiederaufnahme des Betriebes verpflichtet. Solange wird die halbe Million schon reichen."
Ich hatte genug gesehen und gehört. Die Wiederaufnahme des Betriebes war ein plumper Schwindel. Für den Preis der Lohnherabsetzung um fünfzig Prozent und der Arbeitszeitverlängerung hatten zweihundert von viertausend Arbeitern Beschäftigung gefunden. Das hieß dann: „... ein ganzes Land hat wieder zu leben begonnen um die elf Stollen der Gruben". Das war die „Liquidierung der Arbeitslosigkeit"!
Als ich mich auf den Heimweg machte, begleiteten mich noch einige andere Kumpel. Sie waren von meinem Gastfreund, der es sich nicht hatte nehmen lassen, mich noch mit ein paar Eiern und Bohnensalat zu traktieren, über mich und den Zweck meines Besuches informiert worden. Wir schritten zusammen an dem Verwaltungsgebäude vorbei. Mir fiel ein mageres Bäumchen auf, das dort in einer Umzäunung stand. Ich fragte nach seiner Bedeutung.
„Ach, das - das haben sie gepflanzt zur Erinnerung an den Ingenieur Lunghi. Den haben sie damals hier erschlagen. Das muss so 1920 oder 1921 gewesen sein. Damals waren noch viele fremde Arbeiter hier. Es war übrigens eigentlich ein Versehen. Die Arbeiter hatten Streif mit der Verwaltung. Sie waren aufs äußerste empört und wollten den Blutsauger Raffo hinmachen. Aber sie wussten nicht, wie er aussieht. Er kam ja nie in die Nähe des Schachtes. So haben sie Lunghi mit ihm verwechselt." Die anderen Kumpel waren von meinem Begleiter offenbar auch unterrichtet worden, wie ich über solche Dinge dachte. Denn als wir weitergingen, sagte einer von ihnen halb vor sich hin: „Der Herr Raffo und die anderen würden gut tun, sich jetzt schon in ihrem Parke Bäumchen auszusuchen, die sie auf ihrem Grabe haben wollen!"
„Aber ich fürchte", sagte ein anderer, den Gedanken aufnehmend, „dass sich dann niemand mehr finden wird, die Erinnerungsbäumchen für sie zu pflanzen!"
Wir mussten alle lachen, und lachend trennten wir uns. Ich verließ diesen Ort, wo das faschistische Wunder die Arbeitslosigkeit beseitigt hatte, mit dem sicheren Gefühl: Nicht allzu lange mehr werden diese Kumpel Schindluder mit sich treiben lassen!

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